Читать книгу Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - Варлам Шаламов - Страница 3

[Die Verhaftung]

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Am 12. Januar 1937 wurde ich verhaftet* und fürs Erste von einem Praktikanten mit Namen entweder Romanow oder Limanow verhört, einem jungen rotwangigen Praktikanten, der bei jeder seiner Fragen errötete – etwas Vasomotorisches, ein Gefäßspiel, wohl wie bei Grodsenskij*, der bis zu den Haarwurzeln oder sogar bis zu den Fußsohlen errötete.

»Also können Sie schreiben, dass Sie im Jahr 29 diese Ansichten teilten und heute nicht mehr teilen?«

»Ja.«

»Und Sie können das unterschreiben?«

»Natürlich.«

Der vasomotorische Untersuchungsführer[16] ging irgendwo raus und zeigte jemandem etwas, und gegen Abend verlegte man mich an die Lubjanka 14*, in die Moskauer Kommandantur, wo ich schon vor acht Jahren war und sämtliche Gepflogenheiten und Perspektiven der Lubjanka 14 kannte – das ist der »Hundezwinger«, der Sammelpunkt, von dort geht es entweder in die Freiheit, und das kam vor, oder in die Lubjanka 2, das heißt, du bist ein Staatsverbrecher, ein gestandener Feind höchsten Ranges, der kurz vor dem Höchstmaß* steht, oder aber ins Butyrka-Untersuchungsgefängnis, wo du, als Volksfeind erkannt, immerhin der Isolation, mit Minus oder Plus*, unterworfen wirst.

Darum ist die Butyrka zwar Leben, aber keine Freiheit. Frei kommt man aus der Butyrka nicht. Und nicht wegen der staatlichen Reputation (»die GPU* verhaftet keinen umsonst«), sondern einfach wegen des bürokratischen Kreisens dieses Todesrades[17], dem ein anderes Kreistempo zu geben, dessen Lauf zu verändern niemand den Willen, die Fähigkeit, die Erlaubnis und das Recht besitzt. Die Butyrka ist das Staatsrad.

Untersuchungsführer Botwin, der mein Verfahren führte und es zum glücklichen Ende brachte – nicht zu einem Tribunal natürlich, aber mit dem Tribunal hat er mir mehrfach gedroht, sondern bis zur Winzschrift[18] des millionenfachen Kürzels KRTD. Übrigens steckte das Tribunal im Buchstaben »T«. Schon das Wort »Tribunal« führte diesen Todesbuchstaben, doch Untersuchungsführer Botwin konnte wohl kaum die wahre Rolle ermessen, die dieser geheime dunkle Buchstabe, aller magischen Kreise würdig[19], einer theurgischen Deutung würdig, im sowjetischen Alphabet besaß. Untersuchungsführer Botwin war ein träger Mann meines Alters und bereitete mein Verfahren gemächlich vor. In meinem Beisein unterbrach er das Verhör und heftete meiner Akte irgendwelche Zettel an. Die Wohnraumkrise, das Fehlen von Arbeitskabinetten, verschärfte alle Operationen der Tscheka. Botwin bekam das Kabinett für die Arbeit mit mir auf eine bestimmte Zeit, und anschließend wurde er hinausgejagt wie »der letzte Lump«[20].

»Du fliegst hier raus, wie der letzte Lump, wenn du auch nur eine Stunde bleibst«, hörte ich auf dem Korridor die Stimme irgendeiner hochgestellten Person.

Botwin hatte keinen hohen Dienstgrad und war daher zwangsläufig ein Zyniker und Faulpelz, er sparte Zeit, indem er in meinem Beisein arbeitete. Alle Auskünfte, die zu meiner Akte eintrafen, türmten sich ebenfalls um seinen Tisch. Unsere Beine berührten sich während des Verhörs, so eng waren die damaligen Kabinette noch aus Dsershinskijs Zeit. Man [konnte] mit eigenen Augen jede Zeile dessen lesen, was ohne Eile und ohne eilen zu wollen vor einem ausgebreitet wurde. Ich habe damals mit Vergnügen über den Tisch hinweg meine eigene Akte aus dem Jahr 1929 angeschaut und wiedergelesen. Die Verhaftung, die Verhöre, den Ordner mit den Aussagen der Zeugen[21] zu Beginn und Ende der Untersuchung und schließlich das letzte Blatt in meiner damaligen Akte – die Weigerung, den Erhalt des Urteils zu unterschreiben: drei Jahre Lager und fünf Jahre Verbannung*. [Das Zeichen] von der gleichgültigen Hand des diensthabenden Kommandanten. Und wer war damals diensthabender Kommandant für den MOK, den Männereinzeltrakt? Gefängniskommandant war Adamson, aber diensthabend war wer? Nein, es war nicht im MOK, sondern im Etappentrakt, dass ich in den Hungerstreik trat. Der Grund? – ich will nicht mit der Konterrevolution sitzen und verlange meine Verlegung zu den Oppositionellen*.

»Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter[22]«, sagte der diensthabende Kommandant gleichgültig zu mir – und tatsächlich [zeigte er] einen Auszug der Rechtsgrundlage, auf diesem Papier war auch das kostbare Zeichen in irgendwessen Schrift und mein Zeichen: »Unterschrift verweigert«.

Botwin las die Akte ebenfalls noch einmal und las sie gemächlich, las noch einmal auch ein anderes bedrohliches Zeichen: »Akte ins Archiv«. Diese Formel bedeutete Aufbewahrung auf ewige Zeiten.

Ich wusste all das auch so. Und Botwin interessierte etwas anderes. Ihn interessierte einfach, wie dieses Verfahren am geschicktesten ausgestalten, in dem sich für die damalige Zeit grenzenlose Möglichkeiten auftaten. Botwin kam immer von irgendeinem Bericht, einen ganzen Stapel Dokumente in der Hand. Neben Zynismus und Faulheit zeigten sich auch die gebührende Dienstbeflissenheit und der Wunsch, sich nichts entgehen zu lassen, nichts aus der Hand zu geben auf dem ruhmreichen Weg. Aus der Technik das Maximum dessen herauszupressen[23], was sie bieten kann.

»Er streckt die Hände nach der Partei aus«, schrie Botwin.

»Wer?«

»Sie.«

Jemand von den Oberen hatte in den Dokumenten Punkte und Gedankenstriche gesetzt … Plötzlich änderte er das Konzept wie auch den Ablauf des Verhörs. Nach dem Erhalt meiner alten Akte waren alle Zeugen aus meinem Verfahren erneut verhört worden – schon mit Blick nicht auf die Verbannung[24], sondern auf ein Tribunal. Zeugen zu meinem Verfahren gab es sehr wenige, jenes Minimum, das heute besser ist als das Maximum. Alle Arbeitskollegen – Gusjatinskij, Schumskij – wurden komplett neu verhört.

Gusjatinskij brachte eine Masse neuer Fakten bei: fuhr nach Kiew, wo er Jefimow lobte, den Direktor des Kiewer Industrie-Instituts, und ehrliche Leninisten beschimpfte. Das alles erschien ihm verdächtig, und er teilte offiziell mit, wer mich der Redaktion empfohlen hatte.

In nichts hatten sich Schumskijs Aussagen verändert – gegenüber seinem ersten Verhör. Schumskij erwies sich keineswegs als Feigling.

Am bedeutendsten waren die Veränderungen in den Aussagen meiner Frau, doch ihren Kern kenne ich nur in der Wiedergabe Botwins: »Auch Ihre Frau sagt über Sie aus, Sie waren ein aktiver Oppositioneller, haben sich nur versteckt und maskiert, na ja.« Aber solche Aussagen fanden sich nicht.

Ich passte für das Kürzel[25].


Vierzehn Jahre später, noch vor der Rehabilitierung, fragte ich [meine Frau]*:

»Was haben sie dir [hineingeschrieben] in deine eigenen Aussagen? Was konntest du in einem Jahr wie 1937 Überflüssiges sagen?«

»Meine Aussage war so: ich kann natürlich nicht sagen, was du in meiner Abwesenheit getan hast, aber in meinem Beisein warst du mit keinerlei trotzkistischen Tätigkeit befasst[26]

»Na, wunderbar.«

»Du wirst dich einmal im Monat mit Pasternak treffen, und hierher wirst du, na, sagen wir, einmal pro Woche kommen.«

»Pasternak«, sagte ich, »braucht mich mehr als ich ihn. Pasternak hat mir gegeben, was er konnte, in seinen frühen Gedichten, den Gedichten ›Meine Schwester – das Leben‹: Pasternak schuldet mir auch nichts mehr.«

»Gib mir dein Wort, dass du Lenotschka in Frieden lässt und ihre Ideale nicht zerstörst. Sie ist von mir persönlich, ich betone dieses Wort, in offiziellen Traditionen erzogen, und ich will für sie keinen anderen Weg. Mein Auf-dich-Warten über 14 Jahre gibt mir das Recht auf diese Bitte.«

»Na und ob, diese Verpflichtung gehe ich ein und erfülle sie. Noch etwas?«

»Das ist noch nicht das Wichtigste, das Allerwichtigste – du musst alles vergessen.«

»Was alles?«

»… Na, zurückkehren zum normalen Leben …«

16

der Untersuchungsführer – следователь

17

wegen des bürokratischen Kreisens dieses Todesrades – из-за бюрократического вращения этого смертного колеса

18

die Winzschrift – мелкий шрифт

19

aller magischen Kreise würdig – достойный всяких магических кругов

20

wie »der letzte Lump« – как «последнюю падлу»

21

Aussagen der Zeugen – показания свидетелей

22

Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter… – Вы у нас не как следственный, вы у нас как приговоренный…

23

herauspressen – выжимать

24

die Verbannung – ссылка

25

Ich passte für das Kürzel – Я угодил под литерку (т.е. обвинялся в политическом преступлении, которое обозначалось аабревиатурой, например, АСА – антисоветская агитация)

26

mit irgendeiner Tätigkeit befasst sein – заниматься чем-либо

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