Читать книгу Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - Варлам Шаламов - Страница 7

Das Waskow-Haus*

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Ein Soldat, heißt es, braucht einen Löffel. Der Häftling im Lager braucht auch den Löffel nicht. Suppe wie Nudeln kann man »über Bord« trinken und den Boden mit einer Brotkruste auswischen.


Vor dem Lager habe ich Schuhgröße 44 und Mützengröße 59 getragen. Nach dem Lager Mützengröße 58, und Schuhgröße 45.


Warum lässt man sich die Haare nicht scheren und trägt eine »freie« Frisur? Aus Protest, einer Regung, die manchmal psychotischen Charakter annimmt: der alte Sawodnik – ein ehemaliger Kommissar im Bürgerkrieg – stürzte sich mit dem Feuerhaken auf die Wächter, die dem Lagerfriseur halfen. Und verteidigte seinen Bart.


Die ersten Schläge von Brigadieren und Begleitposten 1938, im Januar, Februar. Das Gespräch mit Wawilow in der Nacht.

»Was wirst du tun, wenn sie zuschlagen?«

»Ich weiß nicht. Ertragen wahrscheinlich.« Das ist Wawilow.

Und als sie anfingen zu schlagen – Sujew, der Brigadier, schlug als Erster —, war klar, dass die Kräfte fehlten. Sie schlagen die Schwachen, die Geschwächten. Mich schlugen sie unendlich viele Mal.

Poljanskij Ende 1938:

»Als ich sah, wie du läufst, mit den Sohlen über die Erde schlurfst, dachte ich: er tut als ob. Und jetzt habe ich selbst begriffen, dass die Kräfte fehlen, den Fuß zu heben, den Schritt über eine Schwelle, ein Hügelchen zu tun.«


Die erste Begegnung mit den Ganoven. Sie rissen mir einen Tabaksbeutel mit Machorka aus der Hand. Ich rannte dem Dieb nach, lief ihm hinterher in irgendeine Baracke, und der Barackendienst brachte mich mit einem Schlag mit dem Holzscheit zu Boden. Ich stand auf und ging. Danach habe ich mir bis zum Krankenhaus, bis ich Feldscher wurde, ganze acht Jahre lang keinen Tabaksbeutel mehr angeschafft. Die Machorka schüttete ich gleich in die Tasche. Das hatte einen besonderen Häftlings-Charme:

»Kratzen wir zusammen?«

»Lass uns zusammenkratzen.«


Zusammenkratzen konnte man beinahe endlos, denn wenigstens drei Tabakkrümel[76] fanden sich unbedingt. Zwar ist das Rauchen dieser drei Krümel etwas Relatives, aber trotzdem.

»Gib mir, Wronskij, ein bisschen Tabak.«

Wronskij, der Bergbauingenieur:

»Ich habe keinen.«

»Na, drei Krümel.«

»Drei Krümel meinetwegen.«

Einander um Brot zu bitten ist unanständig, unzulässig. Aber um einen Hering zu bitten ist üblich. »Erlauben Sie nachzusalzen?« Übrigens war auch mit solchen Bitten anzukommen nicht überall üblich.

Den Hering aß man immer mitsamt der Haut, dem Kopf, den Gräten …

Der vollkommenste Schurke, den ich im Leben gesehen habe, ist Doktor Doktor, der ehemalige Chef des Zentralkrankenhauses der USWITL am Linken Ufer (und vorher an Kilometer 23); das war ein rachsüchtiger Nichtsnutz, grausam und gewissenlos, der den Leuten das Allerschlechteste wünschte. Selbst bestechlich, ein Profiteur und Speichellecker[77], hielt er endlose Vorträge über die Wachsamkeit. Verjagt und rausgeworfen wurde er von Schtscherbakow, einem etwas kleineren Schurken.

Doktor Utrobin, der oft betrunken operierte, erwarb sich aufgrund der Ergebnisse seiner Operationen bei den Kranken und Ärzten den Spitznamen »Ugrobin«*.


Doktor Lunin, Sergej Michajlowitsch, ein Urenkel des Dekabristen, mit der unbezähmbaren Leidenschaft, den Chefs näherzukommen. Man ließ ihn in Arkagala frei dank seiner Verbindung zu einer Krankenschwester, einem Parteimitglied »mit Verbindungen«. Sie hatte Lunins Freilassung erkämpft und erkämpfte für ihn noch in der Stalinzeit die Erlaubnis, in Moskau das Medizinische Institut abzuschließen und das Arztdiplom zu erwerben. Sie heiratete Lunin, opferte (zu jenen Zeiten das gewöhnliche Risiko bei einer Verbindung mit einem »Nichtarier«) den Parteiausweis, und als Lunin das Diplom hatte, verließ er sie, dieser Urenkel des Dekabristen. Ich kannte sowohl ihn als auch sie. Als ich fragte:

»Warum haben Sie sich getrennt?«, lachte S. M. laut und sagte:

»Zu viele Verwandte, und alle, weißt du, von einer bestimmten Nation.«

Ich redete nicht mehr mit ihm. In der chirurgischen Abteilung begann der Suff, kurz, er war der Urenkel des Dekabristen…

Ein Leutnant der Panzertruppen, beschuldigt nicht der Menschenfresserei, sondern der Leichenfresserei. Rotwangig, mit blauen Augen.

»Ja, Bruder, ich habe im Leichenhaus immer ein Stückchen abgeschnitten. Gekocht und gegessen. Wie Kalbfleisch. Ich habe Hunger.«


Der Menschenfresser Solowjow, der klassischen katorga-Menschenfresserei beschuldigt. Auf die Flucht hatten sie einen Dritten mitgenommen, einen frajer*.

»Am zehnten Tag dann haben wir ihn nachts mit der Axt. Ganz haben wir ihn nicht gegessen. Haben ihn in einem kalten Bach unter einem Stein gelassen.«

Beide Freunde wurden von der Operativgruppe eingefangen und waren geständig.


Menschenfresser, zwei Menschenfresser wohnten an der Transport-Außenstelle bei Baragon (wohin Korolenko* verbannt war). Sie waren längst entlassen und sparten »fürs Festland«. Sie töteten einzelne Durchreisende, die über Nacht blieben, wie bei Ostrowskij, »Am verkehrsreichsten Platz«* – sie raubten sie aus, und das Fleisch aßen sie auf. Nach der Verhaftung zeigten sie die Schädel der Getöteten und die Knochen. Diese Menschenfresser kenne ich nur aus Erzählungen.


Ein russischer Rockefeller der ersten Generation, ein Sammler von Besitztümern – Aleksej Schatalin, aus Tula. Verurteilt zur Erschießung, Ersetzung durch zehn Jahre. Zulieferung von Pferden an die Armee, aller möglicher Untergrundhandel »von der Nähnadel bis zur Fabrik«, wie sich Schatalin ausdrückt.

»Als Kind, wenn ich in den Laden ging, dachte ich – wenn ich groß bin, will ich auch so einen haben, und dann erweitere ich ihn. Als Jugendlicher habe ich überlegt: was verschafft dem Menschen eine feste gesellschaftliche Position. Und die Antwort: Kapital und Bildung.

Bildung – das bedeutet 10–15 Jahre angestrengter Arbeit. Ich wählte das Kapital. Und begann als Händler. Dann sofort – die Revolution, und kein Ende absehbar. Mein Vater, er war Kutscher in Tula, stellte dem Grafen Bobrinskij die Pferde für die letzte Abreise. Du kanntest den Grafen Bobrinskij? Der eine Bäuerin geheiratet hat, deren Vater gräflicher Leibeigener war? Vier Sprachen konnte sie, hatte das ganze Leben im Ausland verbracht. Jetzt ist sie wahrscheinlich gestorben. Bobrinskij selbst wurde wegen dieser Ehe nirgends empfangen in adligen Häusern.

Die Bildung hat mich trotzdem reingelegt. Ich habe Steine verkauft gegen Valuta und beim Dollarkurs danebengehauen. Gründliche ökonomische Kenntnisse besitze ich nicht.

Den Umsatz hat bei mir der Untersuchungsführer reingeschrieben: zwei Millionen im Jahr. Das war 1932. Bei der Durchsuchung haben sie mir, weißt du, zweihundertfünfzigtausend in bar abgenommen. Mir tut es darum nicht leid. Gibt es ein Leben, dann gibt es auch Geld.«

Bystrow (Vorarbeiter):

»Du, Schatalin, arbeitest schlecht. Sieh zu, ich gebe dir die Strafmahlzeit.«

Bystrow schimmert rosig vor Zufriedenheit. Zu mir hatte er bei unserer ersten Begegnung gesagt:

»Soll ich Ihnen schmutzige Arbeit geben oder saubere?«

»Ganz egal.«

»Es gibt sowieso nur schmutzige.«

Jetzt bin ich nicht beim Bau, sondern beim Bergbau, und mein Herr ist Kassajew, Gitarrenspieler. Schnell gab er seine Spitzen an Schatalin weiter.

»Du, Bystrow«, sagt Schatalin gemächlich, »gib mir doch wenigstens eine halbe Schüssel, aber dass die Schüssel groß ist wie ein Pferdeeimer.«

Kassajew läuft täglich die Schurfgräben[78] ab. In Friseur Genkas Grube ist der Schurfgraben nicht tief, einen halben Meter vielleicht. Kassajew springt hinunter in den Schurfgraben, die Gummistiefel klatschen. Genka, auf dem Rand der Grube sitzend, steht auf. Kassajew hebt Genkas Hacke hoch und schaut sie an.

»Eins kann man sagen – schonender Umgang mit dem Gerät.«

Genka schweigt und lächelt respektvoll. Plötzlich fängt Kassajew an, die Sohle zu hacken und den Schurfgraben zu verbreitern. Zehn Minuten Arbeit, und der Schurfgraben ist zugeschüttet mit Gestein. Kassajew stellt die Hacke in eine Ecke des Schurfgrabens.

»So muss man arbeiten. Ich könnte ein guter Hauer sein, nur«, sagt der Ingenieur, »wozu zum Teufel brauche ich das.«

»Ich denke auch, Valentin Iwanowitsch«, sagt Genka respektvoll, »wozu zum Teufel brauche ich das.«

Der Weg zur Arbeit – um die sieben Kilometer. Auf der Hälfte des Wegs ein Hügel, bläulich von Rentiermoos, und eine riesige umgestürzte morsche Lärche. Hier ruht man sich immer aus. Wir sind drei, Kassajew, Schatalin und ich.

Kassajew:

»Und wofür sitzt du, Schatalin?«

Mich fragt niemals jemand von den Chefs. Schatalin hebt den Kopf, und eine Art Grinsen geht über sein Gesicht.

»Ich, Valentin Iwanowitsch, habe ein Trennfutter verkauft.«

»Was?«

»Ein Trennfutter.«

»Was ist das denn, ein Oberteil?«

»Das Fell aus einem Wintermantel.«

»H-hm. Und für wie viel hast du es verkauft?«

»Für hundert Rubel.«

Man sieht, dass Kassajew sich anstrengt, etwas zu begreifen.

»Und … gekauft hast du es für wie viel?«

»Für vierzig«, sagt Schatalin bescheiden.

»Für vierzig? Aber das ist ja Spekulation«, schreit Kassajew.

»Das haben sie vor Gericht auch gesagt, Valentin Iwanowitsch: Spekulation.«

»M-hm … Und wie viel haben sie dir gegeben?«

»Erschießung mit Ersetzung durch zehn Jahre.«

»Erschießung? Für Trennfutter?«

»Ja, Valentin Iwanowitsch.«

»Na, wir müssen los«, ärgerlich steht der Geologe auf.

Kassajew:

»Und dann habe ich noch in Sibirien in der Forstwirtschaft gearbeitet.Eine große Forstwirtschaft, staatliche Pferde. Den Pferden waren allen die Mäuler zugebunden. Dort sind die Pferde krank. Das Futter ist gut, und das für die Menschen auch – der Löffel bleibt stecken, so einen Borschtsch kochen sie. Und sie zahlen gut. Mit einem Wort – eine ›Potz Wirtschaft‹.«

»Rotz-Wirtschaft? Die Pferde haben den Rotz.«

»Nicht Rotz, sondern Potz, ich rede Russisch mit dir.«


Bei Tomtor Ojmjakonskij, wo man im Herbst 1958 einen gigantischen Seenfisch fand, wo die jakutischen Kühe wie Ziegen über die Felsen springen und man die Pferde, kaum größer als Rentiere, im Winter nicht füttert – die Herde wandert im Schneesturm durch die Wälder und »scharrt« den Schnee, wie die Rentiere. Für unseren Traktor haben wir Winterwege angelegt mit einem Dreimeter-Schneerand. Ich bin über zehn Kilometer zu Fuß gelaufen, zweimal vielleicht hat mich eine Herde überholt. Und beim dritten Mal blieb von der Herde etwas liegen. Ich ging näher ran – ein totes neugeborenes Fohlen[79], noch warm, das schon Reif ansetzte[80].


Der freie Zimmerhäuer Gnesdilow wurde im Frühjahr aus dem Bergwerk entlassen, begann mit der Produktion von Preiselbeereis und machte über den Sommer Zehntausende Rubel. In der Siedlung Arkagala-Kohle leben dreihundert Mann, und im Lager tausend.


In der chirurgischen Abteilung ein frischer Fall: Autounfall. Brüche beider Ober- und Unterschenkel, Rippenbruch[81]. Kopfverletzung. Der Barackendienst aus der Nachbarsiedlung fuhr in der Nacht nach Debin, war auf die »Trasse« getreten und hatte, als er ein Auto kommen sah, die Hand gehoben. Weiter erinnert er sich an nichts. Das Auto wurde ermittelt. Zum Unglück des Barackendienstes saß in der Kabine der Kassierer, er fuhr Geld auf die Bank. Das Gericht sprach den Fahrer frei, der nachts mit voller Geschwindigkeit einen Menschen überfahren hat.


Kadyktschan. Ich habe auf dem Pfad Rübenschalen gesehen, noch nicht gefroren, nur mit einer Eishaut bedeckt. Nur ein Freier kann einen solchen Schatz wegwerfen. Ich sammelte alle auf und aß sie.


Im »Vitaminkombinat« kocht man einen Krummholz-Extrakt aus den Nadeln der Zirbel. Vorbereitet werden die Nadeln an sogenannten »Vitaminaußenstellen«, wo es eine Hungerration gibt, wo »dochodjagi« die Nadeln »zupfen« und in Säcke stopfen und die Geschickteren Steine in den Sack stecken für das Gewicht. Hunderte hungriger Sammler, die den Plan erfüllen oder nicht erfüllen. Das Scheußlichste ist, man wird überall mit Gewalt genötigt, das Krummholz, eine äußerst bittere widerwärtige Flüssigkeit, zu trinken, und Vitamin C ist in dem Extrakt überhaupt nicht enthalten. Jahrzehntelang quälte man die Leute, in den Kantinen war es verboten, das Mittagessen auszugeben, bevor die »gesundheitsfördernde« Dosis getrunken war – um später zu sagen, das war keine Arznei. Die Therapie selbst wurde in eine Folter verwandelt. Die klügeren, gewissenhafteren Ärzte verstanden das.


Als Kind spielte er Pistonkornett, und das führte zu seiner Karriere als Militär.


Es schüttete im Sommer 1938. Platzregen den dritten Tag. Alle Brigaden saßen zu Hause, und nur die »Trotzkisten« wurden im Regen herausgeführt. Der Begleitposten kroch unter den Pilz, und wir bohrten. Mein Nachbar im Schurfgraben (Poljanskij) schrie los:

»Hör mal! Hör mal! Ich habe begriffen, dass das Leben keinen Sinn hat. Keinen Sinn.«

Ich schwieg.

Am nächsten Tag legte sich Poljanskij unter einen Förderwagen, der von der Halde den steilen Hang hinabfuhr, der Förderwagen sprang über Poljanskijs Beine und schrammte sie ein wenig. Er stand auf und drohte dem Förderwagen mit der Faust.


Orlow, einer der Referenten Kirows*, mein Partner bei »leichter Arbeit« – Holzsägen für den Boiler.

»Kannst du die Säge schärfen[82]?« Das frage ich Orlow.

»Ich denke, jeder Mensch mit Hochschulbildung kann eine Quersäge schärfen.«

Kliwanskij zu mir:

»Unsere Brigade hat die Norm zu 40 % erfüllt – Strafration! Außerdem gibt es die Produktions-, die Stoßarbeiter- und die Stachanowration. Und zwei aus unserer Brigade haben die höchste Bewertung erhalten. Das sind die Stachanowarbeiter der Krankheit«, schrie Kliwanskij, »sie haben einen Rabatt.«


Den ganzen Krieg (vier Jahre) gab es amerikanisches Brot aus weißem kanadischen Weizen mit Maismehl. Die Häftlinge liebten dieses üppige Brot, die gewaltigen »Rationen«, aber Skeptiker sagten:

»Was ist das für ein Brot – keinerlei Scheiße, schon den zehnten Tag kann ich nicht austreten.«

Die Verteiler hassten dieses Brot. Das Brot bekamen sie nach Gewicht am Vorabend aus der Bäckerei, und über Nacht trocknete es ein. Wenn sie es nachts zu Rationen schnitten, zu 300, zu 400 Gramm, waren am Morgen, im Moment der Verteilung, 20–30 Gramm in jeder solchen »Ration« verloren. Eine große Tragödie mit Tränen, und manchmal auch mit Blut. Mit Fluchen und Eingaben und Schlägen auf jeden Fall. Nach den vier Jahren seufzten die Verteiler erleichtert.


Der Bauch des Dampfers[83] »Kulu« in Wladiwostok. Serjosha Kliwanskij, Wawilow und ich – möglichst nah ans Licht, möglichst nah an die Treppe. Mit uns lässt sich auch ein älterer, gefängnishaft bleicher Mann nieder, mit grünlichgelbem Gesicht. In der Hand hält er ein Buch, das einzige im Schiffsbauch. Und dazu noch etwas wie die »rothäutige Passportina«*, der Majakowskij-Band im roten Kartoneinband.

»Wir sind die-und-die.«

»Und ich Chrenow. Erinnern Sie sich bei Majakowskij«, er blättert in dem rothäutigen Band, »Chrenows Erzählung von Kusnezkstroj«.

»Steht hier die Gartenstadt?« Wawilow lacht laut.

»Genau, genau.«

»Die rothäutige Passportina wird Sie hier nicht retten«, erklärt Kliwanskij.

Chrenow fürchtet sich, er ist schwerer Herzpatient. Doch das Paradox – die Krankheit hat Chrenow gerettet. Er schaffte es, seine Haftzeit zu beenden und als freier Bergwerkschef zu arbeiten, doch aufs »Festland« zurückzukehren schaffte er nicht. Er war »lebenslänglich«* ortsgebunden und starb, glaube ich, bald nach dem Krieg.


Die Brotausgabe im Durchgangslager in Sussuman. Eine Riesenschlange. Die Bude des Brotschneiders steht im Freien. Um sie herum vier Soldaten mit gefälltem Gewehr. Jeder Häftling kommt heran, erhält aus dem Fenster einen »Sechshunderter« und verschlingt ihn gleich, würgend, eilig – wenn er es nicht schafft, ihn aufzuessen, dann rauben, dann entreißen ihn ihm die Ganoven, die unweit sich drängen. Die vier Begleitposten bewachen ebendiesen Stehimbiss. Man hat versucht, das Brot in der Baracke auszuteilen – die Ganoven rauben es. Ohne Begleitposten zu verteilen – sie rauben es. Jetzt schafft es jeder, seine Tagesration hinunterzuschlingen.


Erziehungsarbeit unter den Ganoven. Ein Bergwerk, »Partisan«, 1938, im Winter – Januar – Februar, der Erzieher der Kultur- und Erziehungsabteilung Scharow:

»Der Staat sieht in euch seine Freunde, seine Helfer. Helft uns in unserem Kampf gegen die Faschisten, die Trotzkisten. Diese Volksfeinde wollen nicht arbeiten. Es sind die Leute, die euch in Freiheit verhöhnt haben.«

»Darf ich austreten?«

»Geh!«

Nach einer halben Stunde:

»Darf ich austreten?«

»Geh.«

Der Begleitposten erhebt sich von seinem Platz und kommt hinter die Halde:

»Zeig deine Scheiße vor, Dreckskerl! Ihr drückt euch hier.«


Ich liege im Krankenhaus, 1958, mit einem Neuropathologen. Ich erzähle:

»Vor meinen Augen empfing während des Kriegs ein Begleitposten eine Etappe von fünfundzwanzig Mann, setzte sie in ein Auto, stieg auf die Seitenwand und erschoss mit Salven aus der Maschinenpistole alle bis auf den letzten Mann.«

»Ein typischer epileptischer Anfall.«


Schilow 1942 (?) in Arkagala. Schilow ist ein junger Kerl von 25 Jahren, ehemaliger Häftling.

»Junggesellensteuer[84]? Verstehe ich nicht, das ist ungerecht. Denk doch selbst: hier gibt es überhaupt keine Weiber. Ich quäle mich und leide und soll auch noch Steuer zahlen für meine Quälerei. Auf dem ›Festland‹ ist es was anderes. Da lebt einer mit Frau, legt sich Kinder, eine Familie zu – und zahlt keine Junggesellensteuer. Ich kann mir keine Frau zulegen – und zahle Steuer. Das ist ungerecht.«


Das schrecklichste Jahr an der Kolyma ist 1938. 1939 sagte mir Iwan Bossych (ein Freier, ehemaliger Häftling), der Topograph, in der Kohleerkundung am Schwarzen See:

»Wir beide haben überlebt, weil wir Reporter, Journalisten sind. Verstehst du? Ich werde leben, obwohl ich Dinge gesehen habe, dass man danach nicht mehr leben sollte, aber ich werde leben, ich werde meinen jüngeren Bruder treffen – er glaubt an mich wie an Gott, und ich sage ihm die ganze Wahrheit über Stalin.«

Die Adresse von Iwan Nikolajewitsch Bossych – Ischim, Woroschilow-Str. 16.

Die einzige Möglichkeit zu überleben für einen »Trotzkisten« ist, Brigadier zu werden. Aber wie kann man kommandieren, jemandes Befehle ausführen, über jemandes Willen verfügen und nicht nur den Willen, auch über Leben und Tod von Menschen – es bedeutet, jemand wird sterben, und du bleibst am Leben. Nein, schon 1937 habe ich mir das Wort gegeben, niemals Brigadier zu werden, mich niemals mit Bitten oder Klagen über mein Schicksal an die Chefs zu wenden, nicht zu bitten und Pakete vom Festland abzulehnen – nur auf mich selbst zu zählen, auf mein »Glück«. Der einzige für mich mögliche Posten war die Tätigkeit als Feldscher, doch das erschien neun Jahre lang als Phantasie, und im zehnten wurde es plötzlich Wirklichkeit.

Die drei großen Lagergebote:

Glaube nicht – glaube niemand.

Fürchte nicht – fürchte nichts und niemand.

Bitte nicht – bitte niemanden um irgendetwas. Zähle auf nichts.

Die schreckliche Redensart im Lager »Stirb du heute, und ich morgen«.


1938 und 1937 arbeiteten wir in Bergwerken mit Abtransport bis zu 200 Metern[85], und uns fehlten die Kräfte, die Schubkarre auf die Förderbrücke hochzubringen. Hilfshaken habe ich erst Ende 1938 gesehen. Über den zentralen Steg rollt man im Laufschritt.

Ich habe gelernt, die Karre zu kippen, auszuschütten und zurückzufahren über den »Leer-«Steg – die Schubkarre mit dem Rad voraus, mit den Griffen nach oben, dass die Arme ausruhen. Ich habe gelernt, mit der Schaufel zu arbeiten, habe irgendwann begriffen, warum der Stiel bis unters Kinn gehen muss, habe gelernt zu hacken, einen Fels abzutragen, zu bohren, aber ein Hauer ist aus mir nicht geworden – ich hungerte damals schon.

Den Winter mochte ich nicht. Ich hasste ihn. Jeden Tag stand ich auf wie zur Hinrichtung. In der Kälte kann man ja auch nicht denken. Du denkst an gar nichts – nur daran, dich zu wärmen. Ich habe gut verstanden, was ein Pferd fühlt. Ich fing an, wie ein Pferd, die Zeit für das Mittagessen ohne Uhr zu erraten – die Pferde in der Grube wiehern nämlich schon fünf Minuten vor dem Signal.


Die ersten Läuse erschienen schon Ende 1937. Die völlig verlauste Wollweste zog man mir von Mai an im Badehaus aus, der Badewärter bedampfte sie und wollte sie für sich nehmen, und ich fing an zu streiten, sie ihm »abzuschreien«, und wieder sammelten sich die Läuse. Es gab keine Desinfektionskammer, und bis in den Januar 1939 hatten wir ununterbrochen Läuse. Als man für einige Tage – ich hatte eine schöne Handschrift, und im März 1938 holte man mich ins MChTsch* (im Bergwerk »Partisan« waren um die dreitausend Häftlinge), die Lebensmittelkarten zu schreiben, da schlugen die Kameraden auf mir Läuse tot und beschwerten sich beim Chef, und der, der auf mein Verbrechen hingewiesen hat, übernahm meinen Platz im MChTsch. Der Platz war ja temporär.

Läuse sind etwas Schreckliches. Besonders viele hatte ich in Dshelgala 1943. Der gestrickte Baumwollschal bewegte sich, so viele waren sie da.


Kolesnikow Gawriil Semjonowitsch, ein Kamerad von Kossarjow, einer der wenigen, die sich das »Menschentum« bewahrt hatten, war in Dshelgala Sanitäter und Barackendienst. Er sagte zu mir:

»Was ist das Wichtigste in unserem Leben? Die Verschiebung der Maßstäbe. ›Etappen‹ und ›Durchgangslager‹ haben mir immer gefallen, weil hier auf ungreifbare Weise der Geist der Freiheit lebte, den es im Lager niemals gibt.«


Jeder ist für sich verantwortlich. Den Kameraden, den Partner nicht belehren, was er tun soll. Alles, was einen fremden Willen betrifft, ist nicht deine Sache – so die schlichten, aber schweren Lagergebote, die Erfahrung, Selbstbeherrschung und Furchtlosigkeit verlangen. Die Lagerchefs nahmen keinerlei kollektive Beschwerden und Proteste an. Jede Eingabe muss persönlich sein. Als aber die Frage der Bekämpfung von Fluchten anstand, da bestätigte die gesamte Brigade kollektiv, dass jeder den anderen beobachten und für Fluchten büßen wird. Und büßen mussten sie in Verhören, oder auch mit einem »Strafmaß«.

Ein beeindruckender Lagerausdruck, einer der geschliffensten: »Das Strafmaß in Gewicht ausgeben«, d. i. in den sieben Gramm der Kugel, erschießen.

Oder: »Das Strafmaß als Trockenration ausgeben«.


In der »Vitaminaußenstelle«. Schewzow, mein Partner:

»Gib mal das Beil.«

Er nahm mir das Beil aus den Händen und ging zu dem Baumstumpf, auf dem wir Brennholz gesägt hatten. Er legte die Hand auf den Stumpf, holte mit dem Beil aus, wurde blass, wurde blau, das Blut spritzte auf den Schnee und erstarrte sofort, ohne einzuziehen[86] – es war sehr kalt —, die drei abgehackten Finger verzogen sich und lagen im Schnee, kaum bemerklich, schmutzigen Holzspänen ähnlich. Schewzow krümmte sich zusammen und verstopfte mit dem Ärmel der Wattejacke das Blut.

Ich hob das weggeworfene Beil auf.

Schewzow wurde zum Krankenhaus geführt. Er wusste natürlich, dass man ihn im Krankenhaus nicht behalten wird, Gliederabhacker im Krankenhaus zu behalten war verboten – aber wenigstens einen Verband werden sie machen, das Blut zum Stillstand bringen.

Die Arbeit wurde wieder aufgenommen.

»Gute« Kaderakten-Daten sind: Russe, nie im Ausland gewesen, keine Fremdsprachen. Viele hielten ihre Sprachkenntnisse geheim.

Im Lager sagt man nicht: »zur Arbeit geführt« oder »zur Arbeit gegangen«, man sagt: »zur Arbeit getrieben, gejagt, gescheucht«[87]. So und nur so sagen alle – die Chefs wie die Hftl./

Hftl.* selbst.

76

der Tabakkrümel – крошка табака

77

der Speichellecker – подхалим

78

der Schurfgraben – разведочная траншея

79

das Fohlen – жеребенок

80

… das schon Reif ansetzte – начинающий индеветь

81

Brüche beider Ober- und Unterschenkel, Rippenbruch – переломы обоих бедер, голеней, ребра

82

die Säge schärfen – точить пилу

83

der Bauch des Dampfers – трюм парохода

84

der Junggesellenssteuer – налог на холостых

85

arbeiteten wir in Bergwerken mit Abtransport bis zu 200 Metern – мы работали в забоях с откаткой до 200 метров

86

erstarrte sofort, ohne einzuziehen – сейчас же застыла, не всасываясь

87

zur Arbeit getrieben, gejagt, gescheucht – выгнали, выгоняли, гоняли на работу

Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке

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