Читать книгу Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - Варлам Шаламов - Страница 4
Der Weg in die Hölle
ОглавлениеDer Dampfer »Kulu« beendete seine fünfte Überfahrt in der Nagajew-Bucht am 14. August 1937. Fünfundvierzig Tage hatte man die »Volksfeinde« – einen ganzen Transportzug von Moskauern – hergefahren. Die warme Stille der Sommernächte, die dumme Freude derer, die man in heizbaren Güterwaggons[27] zu sechsunddreißig Mann transportierte. Die Menschen waren, während sie sich die blasse Gefängnishaut vom heißen Wind aus allen Waggonritzen verbrannten, auf kindliche Art glücklich. Die Untersuchung ist abgeschlossen. Jetzt hat sich ihre Situation geklärt, jetzt fahren sie an die goldene Kolyma, in die fernen Lager, wo das Dasein, wie man hört, märchenhaft ist. Zwei Männer im Waggon lächelten nicht – ich (ich wusste, was das ferne Lager ist) und ein schlesischer Kommunist, der Deutsche Weber, ein Häftling von der Kolyma, den man für irgendwelche Aussagen nach Moskau gebracht hatte. Als einmal wieder ein Ausbruch des Gelächters[28], des nervösen Häftlingsgelächters, verhallt war, gab mir Weber einen Wink mit seinem schwarzen Bart und sagte: »Das sind Kinder. Sie wissen nicht, dass man sie zur physischen Vernichtung bringt.«
Ich erinnere mich noch an Omsk mit seinem vortrefflichen Badehaus, einer militärischen Entlausungsanstalt[29], bei der wir, gewaschen und nach der Desinfektion in feuchter, nach Lysol riechender Kleidung, auf irgendeinem Hof lagen und in die warme, von kleinen grauen Wölkchen umgebene Herbstsonne schauten. Das Laub der Bäume war tiefrot. Zu uns kam ein Oberleutnant des NKWD, fett und rasiert, beide Daumen unter den Ledergürtel geklemmt, der den riesigen Bauch mit Mühe zusammenhielt. Das war der »Repräsentant« des NKWD, der den Transport begleitete. Klagen? Nein, wir klagten nicht, und auch nicht, um Klagen zu hören, war der Leutnant zur Etappe gekommen. Seine Visage, von Fett aufgeschwemmt[30], und die blassen mageren Figuren und die eingefallenen Augen der Häftlinge haben sich mir gut eingeprägt.
»Na, Sie zum Beispiel«, er stieß mit dem Lackstiefel meinen Nachbarn an, »was haben Sie in Freiheit gemacht?«
»Ich bin Mathematikdozent an einer Hochschule.«
»Na, meine Herren Dozenten, ihr werdet kaum in euren Beruf zurückzukehren. Ihr werdet euch anderer Arbeit widmen müssen, nützlicherer …«
Alle schwiegen. Der Leutnant entwickelte seinen Gedanken fort: »Natürlich, ich kann der Regierung und der Partei keinen Rat geben, aber wenn man mich fragte, was mit euch tun, dann wäre mein Rat: alle auf eine nördliche Insel schaffen – na, sagen wir, auf die Wrangelinsel*, dort zurücklassen und die Verbindung zur Insel einstellen. Die ganze Aufgabe wäre im Nu gelöst[31]. Aber sie schaffen euch ins Gold und wollen, dass ihr in den Gruben arbeitet. Arbeiten werdet ihr, ihr Dozenten …«
»Und warum bist du hier?« Der Leutnant richtete den Blick auf Wolodka Iwanow, einen Rotschopf, von Kopf bis Fuß mit Kriminellen-Tätowierungen bedeckt. Man hörte deutlich das Wohlwollen in der Stimme des Oberleutnants.
»Ich bin Erzieher in der Kolonie Bolschewo*. Als Achtundfünfziger. Mit Kürzel.«
»A-ha …«
Und der Leutnant zog weiter.
Ich erinnere mich an den Bauch des Dampfers, wo sich unserer Gruppe ein gewisser Chrenow anschloss, ein Aufgedunsener[32], Langsamer. Gepäck hatte Chrenow nicht dabei für die Kolyma. Dafür ein Bändchen von Majakowskij-Gedichten mit Widmung des Autors. Und für alle, die das wollten, suchte er die Seite und zeigte »Chrenows Erzählung von Kusnezkstroj«* und las:
Ich weiß – die Stadt wird werden,
Ich weiß – der Garten prangt.
Wenn solche Menschen leben
Im großen Sowjetland!
Chrenow war schwerer Herzpatient. Doch man trieb Beinlose wie Siebzigjährige wie Tuberkulosekranke im letzten Stadium an die Kolyma. Für »Volksfeinde« gab es kein Erbarmen. Seine schwere Krankheit rettete Chrenow. Er erlebte als Invalide das Ende der Haftzeit, wurde entlassen und starb an der Kolyma schon als Freier, als einer der wenigen »Glückspilze«.
Ich weiß nämlich nicht, was Glück ist – am Leben bleiben nach großen Qualen oder sterben, ehe die Leiden beginnen.
Ich erinnere mich gut, wie die fünfte Überfahrt der »Kulu« endete.
In der Nagajew-Bucht kam der Dampfer nachts an, und das Ausladen wurde auf den Morgen verschoben. Am Morgen ging ich auf Deck und schaute, und mein Herz zog sich zusammen von gewaltiger Unruhe.
Es fiel feiner kalter Regen. Am Ufer kahle rotstichige Bergkuppen, umgeben von dunkelgrauen Regenwolken. Baracken, umzäunt von Stacheldraht[33]. Eine in die Ferne und in die Höhe führende schmale Straße, und unzählige Bergkuppen …
Drei Tage in der Etappe, in Segeltuchzelten, durchnässt von dem ununterbrochenen Regen. Die Arbeit – Verlegen einer Straße in die Wesjolaja-Bucht. Verladung auf Autos, die Chaussee windet sich zwischen den Bergen, immerzu in die Höhe, mit jeder Kurve wird es immer kälter, die Luft immer trockener, und am zwanzigsten August dann lädt man uns im Bergwerk »Partisan« der Nördlichen Bergwerksverwaltung aus.
Warum erinnere ich mich denn, dass die Überfahrt des Dampfers »Kulu« in der Schifffahrtsperiode des Jahres 1937 eben die fünfte war?
Weil ich es mir fünfzehn Jahre lang in Erinnerung rufen musste bei den endlosen Zählungen, die sich dort »Generalappell « nannten. Weil man sich bei der Überführung von Ort zu Ort, von einem Lagerpunkt zum anderen, jedes Mal derselben Befragung unterziehen musste.
Der Häftling wird im Lager jeden lieben Tag genötigt, auf mehrere Fragen zu antworten.
Name?
Vor- und Vatersname?
Artikel?
Haftdauer?
Ankunft an der Kolyma?
Auf welchem Dampfer?
Mit welcher Überfahrt?
Die drei letzten Fragen werden bei den Appellen gestellt. Und die ersten – jeden Tag mehrmals.
Der Mensch mag sich nicht an das Schlechte erinnern. Man erinnert sich öfter an das Gute. Das ist eines der weisen Gesetze des Lebens, ein Element der Anpassung wohl und des Glättens scharfer Kanten[34]. »Wenn ihr einem jeden begegnen wolltet, wie er’s verdient, wer würde dem Staup-Besen entgehen.«* Diese Hamlet-Worte sind kein Scherz, kein Bonmot. Wenn der Mensch nicht imstande wäre zu vergessen, wer könnte dann leben. Die Kunst zu leben ist die Kunst zu vergessen.
Das ist der Grund, warum unter sehr schwierigen Bedingungen keine Freundschaft geknüpft[35] wird. Und an sehr schwierige Bedingungen keiner zurückdenken möchte. Freundschaft knüpft man in Situationen »mittlerer Schwierigkeit«, wenn das Fleisch auf den menschlichen Knochen noch ausreicht. Das letzte Fleisch aber nährt nur zwei Gefühle: Erbitterung oder Gleichgültigkeit.
Alles, wovon ich erzählen werde, wird zwangsläufig geglättet und abgemildert sein.
Die Zeit wird die wahre Größenordnung einer Begebenheit nur verzerren.
In Moskau waren schon ermordet: Tuchatschewskij, Jakir, Dsidsijewskij und Schmidt*. Jeshow hatte auf einer Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees schon in einem drohenden Vortrag gesagt, in den Arbeitslagern sei »die Disziplin erschlafft«, in Zeitungsartikeln fanden sich immer häufiger Sätze über die »physische Vernichtung des Feindes«, »über die Notwendigkeit der Liquidierung der Trotzkisten«, während das Goldbergwerk, in das wir kamen, noch das frühere »glückliche« Leben lebte.
Den Ankömmlingen wurde eine neue Wintermontur ausgegeben. In der Schuhmacherei stand ein Fass mit Lebertran, aus dem man auch das Schmiermittel schöpfte. Den Ankömmlingen gab man eine dreitägige Ruhepause und machte sie mit der »Produktion« bekannt – Grube, Schaufel, Hacke, Fördersteg und Schubkarre.
Die Maschine des OSO* —
zwei Griffe, ein Rad.
Die Sanitätsstelle war leer. Die Neulinge interessierten sich nicht einmal für diese Einrichtung.
Die Arbeit – ein Profil öffnen, Sprengungen[36], Abtransport per Hand in den Bunker, von wo aus Pferdeloren alles zur Waschtrommel[37] schaffen, der Waschvorrichtung.
Schwere Arbeit, dafür lässt sich viel verdienen – bis zu zehntausend Rubel in einem Monat der Sommersaison. Im Winter weniger. Bei großer Kälte, über 50 Grad, wird nicht gearbeitet. Im Sommer arbeitet man zehn Stunden mit Schichtpause alle zehn Tage. Die Ruhepause wird »angespart« und dann vorschussweise am 1. Mai und »auf Abrechnung« am 7. November »überreicht«.* Im Dezember wird sechs, im Januar vier, im Februar sechs, im März sieben, im April acht, im Mai und dem ganzen Sommer zehn [Stunden] gearbeitet.
»Wenn ihr gut arbeitet, könnt ihr etwas nach Hause schicken«, sagten die »Inspektoren« den Neulingen während der Führung.
Rationen gab es dreierlei – die Stachanow-, die Stoßarbeiter- und die Produktionsration. Bei der Stachanowration gab es drei Kilo Brot und gutes warmes Essen. Bei Normerfüllung von 110 % gab es die Stoßarbeiterration und von 100 % und darunter die Produktionsration —achthundert Gramm Brot und weniger Gerichte.
Die medizinische Untersuchung teilte alle in vier Kategorien ein.
Die vierte – Gesunde.
Die dritte – die nicht vollkommen Gesunden, aber Leute, die für jede physische Arbeit taugen.
Die zweite – lft (leichte physische Tätigkeit).
Die erste – Invaliden.
Ein Häftling mit der zweiten Kategorie hatte Anrecht auf einen Nachlass von 30 %. Darum tauchten »Stachanowarbeiter der Krankheit« auf, die Hilfsarbeiten erledigten und einen Nachlass bei der Festlegung der Ration bekamen.
Die ungünstigste war die dritte Gruppe – meist eine Gruppe von Menschen der intellektuellen Arbeit.
Das waren die Bersinschen Regeln, die noch bestanden, als unsere Etappe im »Partisan« ankam.
Schon war in Moskau Bersins Schicksal entschieden. Schon wurden die Befehle vom neuen Wein in alten Schläuchen[38] vorbereitet und vervielfältigt.
Schon wurde eine Instruktion vorbereitet, wodurch die alten Schläuche zu ersetzen wären.
All das brachten uns Feldjäger an die Kolyma hinterher.
Die Disziplin war so, dass dem Häftling kein Haar ausfällt, wenn es Moskau nicht befiehlt. Moskau weiß alles und entscheidet das Schicksal jedes der Millionen Häftlinge.
Die Entscheidung wird im Zentrum gefällt und geht »auf dem Befehlsweg« nach unten, an die Peripherie.
Was ist hier am Werk – eine Kettenreaktion oder das Reibungsgesetz? Weder noch. Alle fürchten sich, alle führen die Befehle von oben aus. Alle sind bemüht, sie zu erfüllen. Und das Erfüllen zu vermelden.
Natürlich sind hier Leben und Tod realer. Ein schmächtiger Journalist schreibt in Moskau einen vernichtenden Artikel über die Liquidierung der Feinde, und an der Kolyma nimmt ein Ganove eine Brechstange und bringt einen Alten, einen »Trotzkisten« um. Und hält sich für einen »Volksfreund«.
Mitten im Bergwerk stand ein Zelt, das jedem Neuankömmling mit besonderem Respekt gezeigt wurde. Hier lebten 75 Mann »Trotzkisten«, die die Arbeit verweigerten. Im August bekamen sie die Produktionsration. Im November wurden sie erschossen.
27
der Güterwaggon – товарный (грузовой) вагон
28
ein Ausbruch des Gelächters – взрыв смеха
29
die Entlausungsanstalt – санпропускник
30
von Fett aufgeschwemmt – заплывшее жиром
31
die ganze Aufgabe wäre im Nu gelöst – вся задача была бы вмиг решена
32
der Aufgedunsene – одутловатый человек
33
der Stacheldraht – колючая проволока
34
das Glätten scharfer Kanten – сглаживание острых углов
35
Freundschaft knüpfen – завязать дружбу
36
die Sprengung – взрыв
37
die Waschtrommel – промывочный барабан
38
neuer Wein in alten Schläuchen – (Еванг.) новое вино в ветхие мехи