Читать книгу Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке - Варлам Шаламов - Страница 6
Neunzehnhundertachtunddreißig
ОглавлениеIch kann mich an das Gesicht jedes Menschen erinnern, den ich an einem vergangenen Tag gesehen habe, vielfach habe ich zu prüfen versucht, bis in welche Tiefen des Hirns dieser Film denn reicht, und die Bemühungen aus Angst vor Erfolg beendet. Der Erfolg ist fruchtlos. Möglich ist jedoch, nicht mein gesamtes Leben zu erinnern und zurückzuholen, sondern sagen wir das Jahr 1938 an der Kolyma.
Wo liegt es, in welcher Ecke, was davon ist vergessen, was geblieben? Ich sage gleich, geblieben ist nicht das Wichtigste, geblieben ist nicht das Eindrücklichste und nicht das Größte, sondern quasi das Unnötige des damaligen Lebens. Es gab 1938 kein jähes Eintauchen ins Elend, in die Hölle, ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich[54], alltäglich und allnächtlich.
Das wohl Schrecklichste, Erbarmungsloseste war die Kälte. Denn Arbeitsbefreiung gab es erst ab 55 Grad. Man haschte nach diesem 56. Grad Celsius, den man an der Spucke bestimmte, die in der Luft gefror, am Geräusch des Frostes, denn der Frost hat eine Sprache, die auf Jakutisch* »Sternenflüstern« heißt. Dieses Sternenflüstern hatten wir uns schnell und grausam angeeignet. Die allerersten Erfrierungen: Finger, Hände, Nase, Ohren und Gesicht, alles, was mit der kleinsten Luftbewegung Frost abbekommt. In den Bergen der Kolyma gibt es keinen Ort, an dem nicht Winde blasen. Die Kälte ist wohl das Schrecklichste. Ich habe mir einmal den Bauch erfroren – der Wind schlug die Wattejoppe auf, während ich in die Kantine lief. Ich bin aber auch nicht gelaufen, an der Kolyma läuft niemand – alle schieben sich nur voran. Ich hatte nicht daran gedacht, als mir in der Kantine der Tabaksbeutel mit Machorka entrissen wurde. Als naiver Mensch hatte ich den Beutel in der Hand gehalten. Ein junger Ganove riss ihn mir aus den Händen und rannte los. Ich rannte ihm hinterher, aber konnte keinen Sprung machen, um meine Beute zu schnappen. Der junge Kerl sprang in die Baracke, ich ihm nach, und sofort wurde ich von einem Schlag mit einem Holzscheit auf den Kopf betäubt – und aus der Baracke hinausgeworfen. Und diesen Schlag habe ich behalten, weil in mir noch irgendwelche menschlichen Gefühle waren, Rache, Wut. Später war all das zerschlagen und verloren.
Ich erinnere mich auch, wie ich hinter einem Tanklaster krieche, er hat Sonnenblumenöl geladen, und mit einem Brecheisen[55] den Tank nicht einschlagen kann – mir fehlen die Kräfte, und ich werfe das Brecheisen weg. Doch die erfahrene Hand eines Ganoven liest das Brecheisen auf, schlägt auf den Tank, und Öl fließt in den Schnee, das wir im Schnee auffangen und gleich mitsamt dem Schnee hinunterschlucken. Natürlich, das meiste räumen die Ganoven ab in Kochgeschirre und Dosen, bis der Laster <wegfährt>. Ich krieche mit irgendeinem Kameraden hinter dieser Ölspur her, sammle die fremde Beute ein. Ich spüre, dass ich dünner und dünner werde, geradezu ausdörre von Tag zu Tag – mir fehlt es an Nahrung, ich bin immer hungrig.
Der Hunger ist die zweite Kraft, die mich in kurzer Frist zerstört, in zwei Wochen vielleicht, nicht mehr.
Die dritte Kraft sind die mangelnden Kräfte. Man lässt uns nicht schlafen, der Arbeitstag beträgt 14 Stunden gemäß Anweisung im Jahr 1938. Ich schleppe mich um die Grube herum, schlage irgendwelche Pfähle ein und hacke mit den erfrorenen Händen ohne Hoffnung, etwas zu schaffen. 14 Stunden plus zwei Stunden für das Frühstück, zwei Stunden für das Mittagessen und zwei Stunden für das Abendessen. Wie viel bleibt dann für den Schlaf, vier Stunden? Ich schlafe, ich lehne mich an, wie es kommt, und wo ich stehenbleibe, schlafe ich gleich ein.
Die Schläge sind die vierte Kraft. Den dochodjaga schlagen alle: der Begleitposten, der Arbeitsanweiser, der Brigadier, die Ganoven, der Kompaniekommandeur, und selbst der Friseur findet es angebracht, dem dochodjaga eine Kopfnuss zu verpassen. Zum dochodjaga wirst du dann, wenn du ausgezehrt bist von der kräfteübersteigenden Arbeit, ohne Schlaf, unter Schwerarbeit, bei fünfzig Grad Frost.
Was wird das Gedächtnis hier auswerfen?
Dass ich mich nicht schnell bewegen kann, dass jedes Hügelchen, jede Unebenheit mir unüberwindlich erscheint. Eine Schwelle zu übertreten[56] fehlt die Kraft. Und das ist keine Verstellung, sondern der natürliche Zustand des dochodjaga.
Besser erinnere ich mich an anderes – nicht an heitere, im Licht erstrahlende Handlungen, an Kummer oder Not, sondern an ganz und gar gewöhnliche Zustände, in denen ich zwischen Wachen und Schlafen lebe. Meine Größe hat mir viel geschadet. Die Verpflegung wird ja nicht nach Größe ausgegeben.
Aber auch all das betrifft alle, wie ich erst später, während der Unterbrechungen* verstand, oder auch erst nach meiner Abreise von der Kolyma. Dort dachte ich über nichts dergleichen nach, und mein Gedächtnis musste Muskelgedächtnis sein – wie am geschicktesten fallen nach dem unausweichlichen Schlag. Ich erinnere mich an keinen einzigen damaligen Wunsch von mir, außer essen, schlafen, ausruhen. An einen Sturm erinnere ich mich, es ist finster, eine Sirene dröhnt, um in der Finsternis den Weg zu weisen, blitzartig zieht sich ein Schneesturm zusammen, und ich erinnere mich, ich krieche durch einen eisigen Hohlweg, habe mich längst verirrt, aber lasse den Passierschein in die Baracke nicht aus den Händen – den »Stock« Brennholz. Ich falle, krieche und stoße plötzlich auf ein Bauwerk, eine Erdhütte am Rand unserer Siedlung. Und – komme in eine fremde Baracke, man lässt mich natürlich nicht rein, aber ich kann mich schon orientieren und laufe nach Hause unter dem Pfeifen des Schneesturms[57]. Diese Baracke ist dieselbe, in der die 75 Verweigerer und Trotzkisten gesessen hatten, die zur Zeit des Schneesturms schon abtransportiert und erschossen waren.
Jeden Tag bringt man uns zum Ausrücken und verliest beim Licht der Fackeln die Listen der Erschossenen. Lange Listen. Verlesen wird jeden Tag. Viele meiner Barackenkameraden waren in diese tödlichen Handschläge des Oberst Garanin geraten.
Auch an Garanin erinnere ich mich. Viele Male habe ich ihn gesehen im »Partisan«.
Doch nicht davon, dass ich ihn gesehen habe, will ich erzählen, sondern von den Muskelschmerzen, vom Schmerzen der abgefrorenen Beine, von den Wunden, die nicht heilen wollen, von den Läusen, die sofort zur Stelle sind und den dochodjaga beißen. Ein Schal, voll mit Läusen, taumelt im Licht der Lampe. Aber das war schon wesentlich später, auch 1938 gab es viele Läuse, doch nicht so, wie in der Spezialzone während des Kriegs.
Die Schüsse, die Pferdeschlitten, die wir ziehen anstelle der Pferde, zu sechst ins Geschirr gespannt. Arbeitsverweigerung – Schüsse über die Köpfe hinweg und das Kommando: »Hinlegen! Aufstehen!« Und Hetze mit dem Hund, der mir die ganze Wattejoppe und die Hosen in Fetzen gerissen hat. Doch zum Arbeiten konnten sie mich auch mit dem Hund nicht zwingen. Nicht, weil ich ein Held bin, sondern weil ich noch die <Kräfte> hatte für den Starrsinn, für den Kampf um Gerechtigkeit. Das war im Frühling 1938. Unsere ganze Brigade wurde gezwungen, <noch> einmal nach Holz zu fahren – zwei weitere Stunden. Versprochen war, dass sie uns freigeben, und jetzt haben sie uns betrogen und schicken uns ein weiteres Mal. Sechs Schlitten. Geweigert haben sich nur ich und der Ganove Uschakow. Und wir sind auch nicht gegangen, man brachte uns in die Baracke, und damit war die Sache beendet.
Doch auch das ist es nicht, was ich in meinem Gedächtnis suche, ich suche eine Erklärung, wie ich zum dochodjaga wurde. Wovor hatte ich Angst? Welche Grenzen habe ich mir gesetzt?
Hoffnungen zumindest hatte ich gar keine, ich plante nicht über den heutigen Tag hinaus.
Was noch? Die Einsamkeit – es ist klar, dass du ein Aussätziger bist, du merkst, dass alle vor dir Angst haben, weil jeder spürt, du gehörst zu den KRTD, den Kürzelträgern. Wir verfügen nicht über unser Schicksal, aber ich werde jeden Tag irgendwohin zur Arbeit aufgerufen, und ich gehe hin. Bei der Arbeit spüre ich – ich packe den Griff der Hacke, von ihm sind meine Finger gekrümmt[58], und ich kann sie nur im Badehaus aufbiegen oder auch im Badehaus nicht – an diese Empfindung erinnere ich mich. Wie ich mit der Hacke fuchtele[59], endlos mit der [unleserl.] Schaufel fuchtle, und es kommt mir nur so vor, als ob ich gut arbeite. Ich habe mich längst in einen dochodjaga verwandelt, auf den man nicht rechnen kann. Ich besitze Geschick und auch Geduld. Es fehlt nur das Allerwichtigste, das Wertvollste für die »Kader« der Kolyma —physische Kraft. Das erkenne ich nicht sofort, allerdings ein für alle Mal, für mein ganzes siebzehnjähriges Leben an der Kolyma. Meine Kraft ist geschwunden und nie mehr zurückgekehrt. Geblieben ist das Können. Eine neue Haut ist gewachsen, nur die Kraft hat mich verlassen.
Gern würde ich den Tag und die Stunde gewahr werden, als die Kraft erlahmte. Die Vorbereitung begann mit der Etappe, mit der Butyrka-Etappe. Wir fuhren los ohne Geld, allein mit der Brotration. Fuhren fünfundvierzig Tage, plus fünf Tage übers Meer, dann zwei Tage mit dem Auto nach dreitägiger Erholung im Durchgangslager in Magadan, nach drei Tagen ununterbrochener Arbeit im Regen – Gräbenziehen an der Straße in die Wesjolaja-Bucht. Was dachte ich, was erwartete ich 1938? Den Tod. Ich dachte, ich verliere die Kräfte, falle um und sterbe. Und kroch doch, lief und arbeitete, fuchtelte mit der kraftlosen Hacke, schlurfte mit der fast leeren Schaufel und schob die Schubkarre auf dem endlosen Fließband der Goldgrube. Für die Schubkarre bin ich ausgebildet bis zum Tod. Irgendwie fiel mir die Karre leichter als Hacke oder Schaufel. Die Schubkarre ist, gekonnt geschoben, eine große Kunst – all deine Muskeln müssen beteiligt sein an der Arbeit des Karrenschiebers. An die Schubkarre erinnere ich mich, [unleserl.] mit breitem Rad oder schmalem mit großem Durchmesser. Das Schlurfen dieser Schubkarren auf dem zentralen Steg, der Abtransport per Hand über zweihundert Meter. Und ich probierte irgendwelche Karren, stritt mich, riss jemandem das Instrument aus der Hand.
Das Badehaus als Strafe, denn das Badehaus ist gestohlen von eben den vier Stunden der offiziellen täglichen Ruhepause. So ein Badehaus ist kein Scherz.
[Ich erinnere mich an] die Grenzenlosigkeit der Erniedrigungen, und jedes Mal erweist sich, man kann noch tiefer erniedrigen, noch heftiger schlagen.
Die Angehörigen wiederholten ständig – nicht willentlich ihr Schicksal erschweren. Aber wie das tun? Dich umbringen ist nutzlos. Das rettet die Angehörigen nicht vor Strafe. Aber sie bitten, keine Päckchen zu schicken und sich an das eigene Glück, das eigene Gelingen zu halten bis zum Schluss? Das war es.
Und wo war das Zelt, die neue Baracke, wo ich meinen Partner Gussew bat, mir den Arm mit dem Brecheisen zu brechen, und wo ich, als der sich weigerte, mehrfach mit dem Brecheisen zuschlug, mir eine Beule holte[60], und das ist alles. Alle sterben, und ich laufe und laufe noch immer herum.
Die Verhaftung im Dezember 1938* hat meine Lage schroff verändert, ich kam ins Gefängnis zur Untersuchung, wurde aus dem Gefängnis entlassen nach der Verhaftung des SPO-Chefs Hauptmann Steblow und kam ins Durchgangslager und schaute mit neuen Augen auf die Lagerwelt.
Woran erinnert sich der Körper?
Die Beine werden schwach, auf die obere Pritsche[61], wo es wärmer ist, kommst du nicht mehr hinauf, und du besitzt nicht die Kraft oder besitzt den Verstand, dich nicht mit den Ganoven zu streiten, die die besten warmen Plätze besetzen. Das Gehirn wird schwächer. Die Welt des Großen Landes wird so fern, so unnötig mit all ihren Problemen. Die Zähne wackeln, das Zahnfleisch schwillt[62], und der Skorbut[63] siedelt sich für lange in deinem Körper an. Die Spuren der Pyodermie und des Skorbuts auf meinen Waden und Schenkeln sind noch immer da. Im Jahr 1939 in Magadan wichen alle vor mir zurück im Badehaus – Blut und Eiter flossen aus meinen offenen Wunden. Kratzspuren auf Bauch und Brust, Kratzspuren von den Läusen.
Ein Fetzen Zeitung, im freien Friseurladen aufgelesen, ruft keinerlei Emotionen hervor, außer der Berechnung – wie viel Machorka-Zigaretten ergibt dieser Zeitungsfetzen. Keinerlei Wunsch, vom Großen Land zu wissen, obwohl wir von Moskau an, schon ungefähr ein Jahr, keine Zeitungen gelesen haben. Viele Jahre werden auch noch vergehen, ehe du voller Furcht und Vorsicht versuchen wirst, etwas aus der Presse zu lesen. Und wieder nicht verstehst. Und die Zeitung wird dir unnötig vorkommen, so wie 1938. Die Nägel habe ich immer abgekaut, abgebrochen, abgespalten – wir hatten jahrelang keine Schere. Skorbutwunden und Pyodermie-Geschwüre erschienen irgendwie sofort auf dem Körper. Wir mieden die Ärzte – der Feldscher Ljogkoduch, Chef des Ambulatoriums im »Partisan«, war berühmt für seinen Hass auf Trotzkisten. Bald wurde Ljogkoduch verhaftet und kam an der Serpantinka um. Aber auch zu den anderen ging ich nicht hin. Nicht, dass ich nicht krank gewesen wäre, meine Kameraden gingen hin und erhielten die Einbestellung vor irgendwelche Kommissionen. Der Effekt war ein und derselbe – der Tod. Ich lag in der Baracke und war bemüht, mich möglichst wenig zu bewegen, oder schon außerstande, mich zu bewegen, schlief oder lag und war bemüht, diese vier Erholungsstunden liegen zu bleiben.
Ich war ein schlechter Arbeiter und war darum überall an der Kolyma in der Nachtschicht. Schlimmer als der Grubensommer war der Winter. Der Frost. Die Arbeit, wenn auch zehn Stunden – man muss Behälter mit Erde karren, den Torf von der Goldschicht abnehmen —, die Arbeit ist leichter als die sommerliche, aber Bohren, Sprengen und Beladen des Behälters mit der Schaufel[64] und Abfuhr per Hand auf die Halde, mit vier Mann pro Behälter. Sehr quälend ist der Frost. Die Geschwüre schmerzen immerzu. In die guten Brigaden nimmt man mich nicht.
Alle Brigaden haben während einer Goldsaison, in vier Monaten, ihre Belegschaft zweimal und dreimal ausgetauscht. Am Leben ist nur der Brigadier und sein Helfer, der »Barackendienst« – die übrigen Brigademitglieder sind unter der Erde oder im Krankenhaus, oder in der Etappe. Jeder Brigadier ist ein Mörder, eben jener Mörder, der die Arbeiter persönlich und mit eigenen Händen ins Jenseits befördert. Selbst ein Brigadier mit Artikel 58, der Staatsanwalt des Gebiets Tscheljabinsk Parfentjew, witzelte, als er sah, dass ich in seinem Beisein einfach an der Grube entlanggehe, um mich zu wärmen, Schalamow fühlt sich auf dem Boulevard.
»Nein«, antwortete ich, »auf der Galeere.«
All das wurde selbstverständlich irgendwo vorgetragen, irgendwo hintertragen, um auf einmal als »Juristenverschwörung«[65] hochzugehen. Auch das betrifft das Jahr 1938, noch den Dezember.
Es schüttet. Alle Brigaden sind von der Arbeit entlassen wegen des Regens, alle außer unserer. Ich werfe die Arbeit hin, werfe die Hacke hin, dasselbe tut mein Partner. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Man führt uns durchs Lager zum diensthabenden Kommandanten. Das sind nur Erinnerungen – wahrscheinlich Frühling 1938 … An der Kolyma unterscheidet sich der Frühling nicht vom Herbst. Irgendwie gab es im Mai 1938 in der Zone noch keinen Isolator, es gab nur den diensthabenden Kommandanten. Man führte uns in die Baracke und stellte uns an der Wand auf.
»Sie wollen nicht.«
Ich erklärte, dass alle Brigaden wegen des Regens entlassen wurden und nur …
»Still, du Aas …«
Der Kommandant trat nah an mich heran und streckte … Er schlug nicht, schoss nicht, knuffte nur – und durch die durchnässte Wattejoppe, Feldbluse und Wäsche brach er mir eine Rippe.
»Weg hier.«
Ich hinkte und kroch los in Richtung Baracke. Ich begriff von Anfang an, dass die Gesetze nur Märchen sind, und schonte mich, wie ich konnte, aber konnte mir nichts bewahren. Außerdem ging ich diesen ganzen Sommer jeden Tag Brennholz sägen oder in die Bäckerei, oder irgendwo in die Baracke der bytowiki. Es ist so, dass im Lager jeder Diener seinen Diener haben will. Und diese Rationen, eine Wassersuppe über die Ration hinaus, waren, obwohl wir keine Kräfte hatten, von Bedeutung für die Erhaltung des Lebens. In der Grube arbeitete ich schlecht und rief keinen dazu auf, gut zu arbeiten, ich habe keinem einzigen Menschen an der Kolyma gesagt: los, los.
… Eben hier, in den Einbrüchen des Gedächtnisses[66], verliert sich auch der Mensch. Der Mensch verliert sich nicht sofort. Der Mensch verliert die Kraft, und zusammen mit ihr auch die Moral. Denn das Lager ist der Triumph der physischen Kraft als moralischer Kategorie. Hier ist die Intelligenz von einer doppelten, dreifachen, vierfachen Gefahr umgeben. Iwan Iwanowitsch* wird niemals einen Kameraden unterstützen, und der Kamerad wird zum Ganoven, zum Feind, um sein Schicksal zu retten. Das ist ein Bauer, natürlich. Der Bauer wird sterben, wird ebenfalls sterben, aber nach der Intelligenz. Stirb du heute, und ich morgen. Die Ganoven stehen außerhalb des Moralgesetzes. Ihre Stärke ist die Zerstörung, doch auch bis zu ihnen wird Garanin kommen. Der Ganove, der Liebling Bersins, ist für Garanin ein Verweigerer. Doch es geht nicht darum, ich muss irgendeinen Schritt zu fassen bekommen, einen persönlichen eigenen Schritt, mit dem ein wichtiges Zugeständnis gemacht wurde: Beim Durchgehen im Gedächtnis, diesem Filmstreifen des Gehirns, sieht man, dass es auch kein Zugeständnis gab. Dieser Prozess ist zeitlich sehr kurz – du bist noch nicht einmal zum Zuträger geworden, man bittet dich nicht einmal darum, sondern jagt dich einfach zur Arbeit in die Kälte und in den endlosen Arbeitstag, in den Frost der Kolyma, der keine Schonung kennt.
Jemandes Augen überfliegen dich, wählen, bewerten und bestimmen deine Eignung zum Arbeitsvieh und ob deine letzten Schritte ins Paradies kurz oder lang sein werden. Du denkst nicht ans Paradies, denkst nicht an die Hölle – du spürst einfach jeden Tag Hunger, den nagenden Hunger[67], [unleserl.]. Und dein Kamerad, der stärker ist als du, der schlägt und rempelt[68] dich und weigert sich, mit dir zu arbeiten. Ich habe damals gar nicht begriffen, dass ein Bauer, der sich beim Brigadier und den Chefs über Iwan Iwanowitsch beschwert, einfach seine Haut rettet. All das war mir tief gleichgültig, all diese Sorgen um mein Schicksal als noch lebender Mensch.
Ich denke zurück, versuche an alles zurückzudenken, das im ersten Winter geschah – das heißt von November 1937 bis Mai 1938. Denn die übrigen Winter, es waren viele, habe ich irgendwie auf gleiche Weise aufgenommen – mit Gleichgültigkeit und Erbitterung, mit einer Beschränkung der Mittelressourcen zur Rettung: bei einem Schlag – umfallen, bei einem Fußtritt – sich zum Knäuel ballen[69] und den Bauch stärker schützen als das Gesicht.
Denunzianten sind alle, man denunziert einander gegenseitig von den allerersten Tagen an. Der Bauer aber verpfiff all die, die in den Gruben neben ihm standen und ein paar Tage vor ihm selbst starben.
»Sie sind es, Iwan Iwanowitsch, der uns vernichtet hat, Sie sind der Grund für all unsere Verhaftungen.«
Alles, um den Nachbarn ins Grab zu stoßen – durch ein Wort, mit dem Stock, mit der Schulter, mit einer Denunziation.
In diesem Kampf starben die Intelligenzler stumm, und wer hätte auch auf ihre Schreie gehört unter den erbitterten fuchsteufelswilden Charakteren – keinen Visagen natürlich, sondern ebensolchen dochodjagi. Doch sofern sich an einem Bauern, einem dochodjaga auch nur ein Stückchen Fleisch, ein Nervenfragment gehalten hatte – dann nutzte er es, um zu denunzieren oder seinen Nachbarn Iwan Iwanowitsch zu beleidigen, zu stoßen, zu schlagen, sich abzureagieren. Er selbst wird sterben, aber bevor er tot ist, soll zuerst der Intelligenzler ins Grab gehen.
Einer der Allerersten hat sich im [Gedächtnis] erhalten. Derfel, ein französischer Kommunist, aus Cayenne, ehemaliger TASS*-Mitarbeiter, flink und klein, was sehr günstig war – an der Kolyma ist es günstig, klein zu sein. Derfel hackte, und ich füllte in die Karre.
Derfel:
»In Cayenne, wo ich vor der Kolyma war, gibt es auch solche Steinbrüche, habe ich ebenfalls gehackt, Hacke und Karre, bloß gibt es dort nicht solche Kälte.«
Und es war noch goldener Herbst, darum habe ich mir auch den Tag gemerkt, den grauen Stein und das kleine Figürchen Derfels, der plötzlich mit der Hacke ausholte und umfiel, tot.
In dieser Zeit wurden alle in eine einzige Baracke getrieben, in ein Segeltuchzelt, wo man uns stehen ließ, etwa vierhundert Mann. Sie überprüften irgendetwas und schossen in die Luft. Und ich merkte, dass mein Nachbar, ein holländischer Komintern*-Mann im Samtwestchen, an meiner Schulter schläft, vor Schwäche das Bewusstsein verliert. Ich stieß ihn an, aber Fritz wachte nicht auf, sondern wurde langsam schwach und glitt auf den Boden. Doch da fingen sie an, uns aus dem Zelt hinauszuführen, hinauszustoßen, und er wachte auf und lief zusammen mit mir, und beim Rausgehen fiel er an der Baracke hin, und ich habe ihn nie wieder gesehen.
All das – Derfel, den Holländer Fritz – hat mein Gedächtnis eingefangen, aber an das Namenlose, das starb, haute, schubste und einen großen Teil meines Wesens füllte, jene Tage und Monate – kann ich mich einfach nicht erinnern.
Was war denn dort?
Als Vertreter der »Intelligenz« fühlte ich keinerlei »Schuld« vor dem Volk. Karrieristen und Geschäftemacher aber wittere ich dafür mit aller Kraft des Spürsinns[70] – und täusche mich nicht.
All das – Derfel wie auch das Festhalten bei der Arbeit der Kljujew-Brigade im Dezember 1937 – all das sind sozusagen die oberen Etagen meines Körpers. Schwer rückrufbar ist das, was das Gedächtnis nicht behielt – der Schmerz des Körpers und allein des Körpers.
Wir hatten keine Zeitungen, und die Korrespondenz wurde mir schon von einem Moskauer Papier* entzogen. Ich hatte keinen Wunsch, irgendetwas von Ereignissen außerhalb unserer Baracke zu wissen. All das war so unendlich unwichtig und auf lange, ein Dutzend oder noch mehr Jahre, aus dem Kreis meiner Interessen verdrängt.
Wie ist denn das passiert an meinem persönlichen Beispiel, dem Beispiel meines Körpers?
Schon die zweimonatige Etappe mit der Hungerration war Vorbereitung auf ernstere Dinge – die Schläge, die Kälte, die unendliche Arbeit, die mich im Dezember 1937 im »Partisan« empfing.
Die Beine wurden schwer, die Haut eiterte, es kamen Läuse, und die Hände erfroren und bekamen Blasen[71]. Doch all das war nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war der ständige Hunger. Ich lernte schnell, das Brot getrennt von der Suppe zu essen, es später in einer Konservendose aufzukochen und aufzublähen[72] und aus dieser Dose zu schlürfen. Keinerlei Interesse an irgendeinem der Gespräche in der Baracke. Ich wollte meine Wäsche eintauschen gegen Brot, aber kam zu spät – es gab eine Durchsuchung, und alles Überzählige ging als Einnahme an den Staat. Aber auch das war mir egal. In Teilen meines Gehirns empfand ich wohl zwei <Dinge>. Die vollkommene Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens. Dass der Tod ein Glück wäre. Doch zum Tod konnte ich mich nicht entschließen aus irgendwelchen sonderbaren Gründen – der Schmerz in den Fingern nach der Erfrierung, ins Ambulatorium ging ich nicht, der Krankenhausfeldscher Ljogkoduch würde mich, wie damals alle Feldscher, als Intelligenzler und Trotzkist gleich zu den »Soldaten« geben. So machten es alle Feldscher und Ärzte in den Bergwerken, so machten es Lunin wie auch Mochnatsch. Acht Jahre nach 1937 taten dasselbe auch Winokurow, auch Doktor Doktor, auch Jampolskij – Kontakt mit dem Krankenhaus war gefährlich. Jedoch nicht qua Logik, sondern mit dem Instinkt eines Tiers begriff ich, dass ich nicht hingehen sollte, wo sich die »Stachanowarbeiter der Krankheit« drängen. Und tatsächlich, sie alle wurden in Garanins Tagen erschossen als Ballast. Und wer machte die Erschießungslisten? Für das »Partisan« waren das der Arbeiter Rjabow, Anissimow – der Bergwerkschef, Kowalenko, Chef des Lagerpunkts, und Romanow, der Bevollmächtigte.
Die Schlafstellen neben mir waren leer. Unsere Brigade wurde mal in eine andere Baracke verlegt und mit einer anderen vereinigt, mal aufgelöst, und ich zog von Baracke zu Baracke. Als Arbeiter war ich mies, mein Erscheinen in der Baracke war für den Brigadier keine Freude. Aber mir und vielleicht auch ihnen war es ganz egal. Mir ist nicht mal im Gedächtnis geblieben, wann sie anfingen mich zu schlagen, wann ich zum dochodjaga wurde, den jeder stoßen und schlagen will: der Bauer, um die Aufmerksamkeit der Chefs auf seine politische Ergebenheit gegenüber der Sowjetmacht zu lenken, der Ganove …
Hier kommt es zu einem Zustand, dass du selbst schwach wirst und außerstande bist, Rückgeld zu geben. Und sofort beginnt man dich auch zu stoßen und zu schlagen. Ich bin diesen Weg etwa 1938 gegangen. Aber auch im Dezember 1937 schon wurde ich gestoßen und geschlagen …
Ich kroch über irgendeinen Schneeweg und sammelte Reste von Kohlblättern, um sie in der Konservendose aufzubrühen, abzukochen. Ich kroch eine ganze Ewigkeit, aber sammelte nichts zusammen – es war schon jemand vor mir gekrochen, und aus dem, was ich sammelte, ließ sich keine Suppe kochen. Ich schluckte die Stücke gefroren herunter.
In diesem Moment verlegte man unsere Brigade, die im zweiten Abschnitt arbeitete, in den ersten, und in diesem ersten Abschnitt in Sujews Brigade. Hier fragte Sujew, ein Bauernbursche so um die 30, nach Schreibkundigen, die ihm eine Beschwerde schreiben konnten, und so, dass alle Staatsanwaltsherzen weich werden. Sujew suchte nach einem solchen Autor in der Brigade. Sujew hatte gerade eine Haftstrafe für Bestechlichkeit bekommen – doch er versicherte seine Unschuld. Wichtig war, die Beschwerde gut abzufassen. Als er sah, dass ich neu bin in der Brigade, nahm mich Sujew beiseite und sagte: »Du wirst im Warmen sitzen und mir die Beschwerde schreiben.«
»Gut«, sagte ich. »Gib mir Papier, gleich morgen fangen wir an.«
Nicht mal ein Stück Brot gab mir Sujew für die Beschwerde, doch, so schwer es dem Hirn auch fiel sich zu rühren, ich fasste diese Beschwerde ab.
Am folgenden Tag las sie Sujew den Arbeitsanweisern vor, sie fanden, dass die Beschwerde schlecht geschrieben ist und den Staatsanwälten nicht ins Herz stechen wird. Sujew tat es leid um seine Brotration, noch dazu hatte jemand gesagt, dass er sich um die literarische Hilfe an einen Volksfeind, einen Trotzkisten gewandt hatte.
Am folgenden Tag gab es statt der fortgesetzten Arbeit an der Beschwerde ein Verprügeln des Advokaten. Sujew warf mich mit einem Schlag um und trampelte, trampelte auf mir herum im Schnee. An diese Backpfeife erinnere ich mich gut. Ich bin schon allzu leicht gefallen – war alles, was ich dachte. Und obwohl mir die Zähne blutig geschlagen waren, tat es aus irgendeinem Grund nicht weh.
Die Kampagne zur physischen Vernichtung der Volksfeinde hatte begonnen an der Kolyma, und Sujew teilte dem Bevollmächtigten eilig mit, dass er, der Arbeitsanweiser, ein solch schreckliches Verbrechen vor dem Staat begangen und einen Trotzkisten gebeten hat, ihm eine Beschwerde zu schreiben. Ebendarum ging es im Dezember 1938, als man mich im Bergwerk verhaftete und nach Jagodnoje brachte, zum Chef des örtlichen NKWD, Genosse Smertin*.
»Jurist?«
»Jurist, Bürger Natschalnik.«
»Du hast Beschwerden geschrieben?«
»Ja.«
»Gegen Brot?«
»Gegen Brot und auch so.«
»Ins Gefängnis mit ihm.«
Aber all das war ein Jahr später, und erst heute denke ich, dass sich Sujew beeilt hat, seinen Fehler zu gestehen, als er im Dezember 1937 die Denunziation gegen mich, das Geständnis schrieb.
Ich erinnere mich, all diese Zeit bemühte ich mich, noch irgendwo sonst zu arbeiten: Putzen und Holzsägen gegen eine dünne Brühe oder Brotrinde. Auf so eine Arbeit nach 14 Stunden Grube war mein ganzer Körper, meine ganze Person ausgerichtet, unter Mobilisierung sämtlicher physischen und geistigen Kräfte. Manchmal gelang es – mal in der Bäckerei, mal beim Putzen, obwohl es maßlos schwer war. Anschließend, wenn ich mich zur Schlafstelle schleppte[73], fiel ich auf ein, zwei Stunden in einen Todesschlaf, bis zum nächsten Arbeitstag. Doch auch Sujew – all das ist schon auf den »oberen« Etagen des menschlichen Willens.
Ich arbeitete schlecht vom ersten Tag an. Und damals wie heute halte ich die physische Arbeit für einen Fluch des Menschen, und die erzwungene physische Arbeit auch für die größte Beleidigung des Menschen.
Natürlich waren für einen Trotzkisten alle Anrechnungen von Arbeitstagen und weitere Lager<prämien> gestrichen.
Die totale Schlacht zu erfahren – wer bleibt auf den Beinen und wer stirbt – war jedem gegeben, eben gegeben.
Die Gewalt über einen fremden Willen hielt und halte ich noch heute für das schwerste menschliche Verbrechen. Darum war ich auch niemals Brigadier, denn der Lagerbrigadier ist ein Mörder, ist der Mensch, die physische Person, mithilfe deren der Staat seine Feinde umbringt.
Und die über das Jahr 1938 angehäufte Erfahrung war eine organische Erfahrung, wie ein unbedingter Reflex. Auf die Anweisung »Los!« antwortet der Häftling mit sämtlichen Muskeln – nein. Das ist ein physischer wie auch geistiger Widerstand. Auf dem Pfad in die Goldgrube begegnen sich Staat und Mensch von Angesicht zu Angesicht in der intensivsten, offensten Form, ohne Künstler, Literaten, Philosophen und Ökonomen, ohne Historiker.
Manchmal regt sich ein Gefühl: wie schnell bin ich schwach geworden. Doch genauso schwach geworden waren meine Kameraden rundum, und ich konnte mich mit niemandem vergleichen. Ich erinnere mich, man bringt mich irgendwohin, führt mich raus, stößt mich mit dem Kolben[74] und dem Stiefel, ich krieche irgendwohin, schleppe mich rempelnd dahin unter einer ebensolchen Menge von abgefrorenen, hungrigen Zerlumpten. Das sind Winter und Frühling 1938. Vom Frühjahr 1938 an gab es an der ganzen Kolyma, besonders im Norden, im »Partisan«, Erschießungen.
Eine panische Furcht, uns irgendeine Hilfe zu gewähren, eine Brotrinde hinzuwerfen.
Selbst heute noch schreibt man Bände von Erinnerungen – ich habe jene erschossen und vernichtet, die vom Hauch des tödlichen Windes berührt wurden, der auf Stalins Befehl Trotzkisten vernichtete, die keine Trotzkisten waren, sondern bloß Antistalinisten, und noch nicht einmal Antistalinisten – Tuchatschewskij, Krylenko*. Die Trotzkisten selbst trugen ja keinerlei Schuld.
Wäre ich Trotzkist gewesen, ich wäre längst erschossen, vernichtet worden, doch schon die zeitweilige Berührung hat mir ein ewiges Brandmal[75] beschert. So sehr fürchtete sich Stalin. Wovor fürchtete er sich? Vor dem Verlust der Macht – nichts sonst.
54
…ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich – я уходил, увязал туда каждодневно и повсечасно
55
das Brecheisen – лом
56
eine Schwelle übertreten – перешагнуть порог
57
unter dem Pfeifen des Schneesturms – под свист метели
58
von ihm sind meine Finger gekrümmt – по ней согнуты мои пальцы
59
fuchteln – размахивать, махать
60
j-m eine Beule holen – набить шишку
61
die obere Pritsche – верхние нары
62
das Zahnfleisch schwillt – десны опухают
63
der Scorbut – цинга
64
Bohren, Sprengen und Beladen des Behälters mit der Schaufel – бурение, взрыв и погрузка лопатой в короб
65
»Juristenverschwörung« – «заговор юристов»
66
in den Einbrüchen des Gedächtnisses – в провалах памяти
67
der nagende Hunger – сосущий голод
68
rempeln – толкать
69
sich zum Knäuel ballen – сжаться в комок
70
mit aller Kraft des Spürsinns wittern – чувствовать всей силой чутья
71
die Hände erfroren und bekamen Blasen – руки обморозились в пузыри
72
aufblähen – вздуваться
73
sich zur Schlafstelle schleppen – добраться до койки
74
der Kolben – приклад
75
ein ewiges Brandmal – вечное клеймо