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Auf Jagd

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Sie sahen mich an, aber sie erkannten mich nicht wirklich. Sie wußten nicht, wer ich war. Für sie war ich bloß so ein Ding, das an ihrem Tisch saß und versuchte das Zeug zu schlucken, das sie mir auf meinen Teller legten. Meine Gedanken waren überall unterwegs, aber sie konnten nicht in meinen Gedanken lesen, wußten gar nichts über mich. Ich ging gleich zu dem Haus nebenan, denn da hatte man mich eingeladen. Und ich würde nicht vergessen, dort alle Worte richtig auszusprechen und keine Endung zu verschlucken, wie sie mich immer ermahnten. Ich würde es richtig machen, alles würde ich richtig machen für die alte Lady nebenan.

Ich sah mir ihren Garten noch einmal ganz lange an, dann machte ich die Augen zu, damit ich nicht sah, wie ich mir mal wieder was verknackste, und sprang. Noch mehr Kratzer und Schrammen für meine Sammlung. Ich landete der Länge nach in einem ihrer Rosenbüsche. Ich duckte mich tief, kniff die Augen vor dem grellen Sonnenlicht zusammen und versuchte all die gefährlichen wilden Tiere zu erspähen, die an solchen dunklen, geheimnisvollen Plätzen lauerten – wie diesem hier! Da, da drüben. Hinter dem großen Busch – ein Tiger! Ich hob mein Gewehr und zielte sorgfältig. Er peitschte mit seinem langen Schwanz, und seine gelben Augen funkelten. Dann leckte er sich das Maul, dachte sich wohl, er bekäme mich gleich zum Lunch. Hart zog ich den Abzug. Peng – Peng – Peng erwischt! Blattschuß!

Ich schulterte mein Gewehr und suchte mir vorsichtig einen Pfad durch den gefährlichen Dschungel. Dabei ignorierte ich ein orange-weißes Kätzchen, das »frustriert« miaute. »Frustriert« war eins von den neuen Wörtern, die ich benutzen mußte. Ein neues Wort jeden Tag, denn Daddy gab uns, Jory und mir, immer eine Liste mit sieben Worten und verlangte, daß wir das Wort des Tages mindestens fünfmal benutzten, wenn wir uns unterhielten. Ich brauchte aber keinen größeren Wortschatz. Wußte schon gut genug, wie man was erzählt.

Da fiel mir eine Melodie ein. War aus einem Film, den ich am Tag zuvor im Fernsehen gesehen hatte – so ’n Film über Soldaten. Das Lied war genau richtig:

»Denn ich bin, denn ich bin ein Soldat, Soldat …«

Ich marschierte zu der Melodie in meinem Kopf, das Gewehr richtig geschultert, wie es sich gehört, Brust raus, Kinn hoch. Direkt vor ihre Vordertür marschierte ich. Dann klopfte ich hart mit dem kupfernen Türklopfer, der ein Löwenkopf war mit losem Kiefer. Allein ging ich, und Jory erfuhr gar nichts davon. Jory brauchte sowieso keine neuen Freunde. Er hatte seine olle Ballettklasse mit all den hübschen Mädchen, und das reichte ja wohl. Mit Melodie, das war mehr als genug. Ich – ich hatte niemanden außer Eltern, die mich nicht verstanden. Sobald ich mich bei Tisch entschuldigen konnte, verschwand ich schnell in unseren Garten, während Jory noch drinnen saß und seine Pfannkuchen mit Zuckerrübensirup aß. Ein Schwein, das war er … ein Rübenschwein!

Heiß draußen. Die Sonne schien zu hell. Überall lange Schatten. Die weiße Mauer reckte sich so gemein weit hoch – wußte diese Mauer schon im voraus, daß ich jetzt kam und mich »dumm anstellen« würde, und wollte es mir extra schwer machen? Der Baum, auf den ich kletterte, war da hilfsbereiter.

So ein großer Garten auf der anderen Seite, daß meine Beine müde wurden, während ich so marschierte. Ich wünschte mir, ich hätte so lange schöne Beine wie Jory. Immer fiel ich hin, immer verletzte ich mich, aber Schmerzen fühlte ich keine. Daddy war ganz aufgeregt, als er das zum ersten Mal richtig herausfand. »Bart, weil deine Nervenenden nicht ganz bis in die Haut reichen, mußt du doppelt so vorsichtig wegen Infektionen sein. Du kannst dich ernsthaft verletzen, ohne überhaupt etwas davon zu merken. Deshalb wasch dir deine Schrammen und Kratzer immer gründlich, und dann sagst du deiner Mutter oder mir Bescheid, damit wir dir ein Desinfektionsmittel geben.« Und wenn man sich wusch, das hielt wohl die Bakterien ab. Frage mich, wo die dann wohl bleiben. Landen tote Bakterien im Himmel oder in der Hölle? Wie sehen sie wohl aus, die Bakterien? Monster, hatte Jory gesagt, häßliche, winzig kleine Monster. Millionen davon konnten auf einer Bleistiftspitze sitzen. Wünschte mir, ich hätte Augen wie ein Mikroskop.

Meine perfekte militärische Haltung war so bewundernswürdig, daß die alte Lady einfach beeindruckt sein mußte. Ärzte waren gar nicht so was Besonderes. Tänzer auch nicht. Aber ein Fünfsterne-General – das war schon was! Niemand hatte einen längeren Namen als ich: General Bartholomew Scott Winslow Sheffield. Selbst Jory Janus Marquet Sheffield war nicht so lang, und so gut klang es auch nicht. Wenn der Feind erst mal wußte, wer hier den Krieg führte …

Eigentlich hätte ja wohl der unheimliche alte Butler die Tür öffnen müssen, aber es war die alte Lady selbst. Ich hatte sie ein paarmal im Hof gesehen. Sie hielt die Tür nur einen Spalt offen und erlaubte nur einem schmalen Sonnenstrahl auf ihr Parkett zu fallen. „Bart …?« flüsterte sie, wobei ihre Stimme erstaunt und glücklich klang. War sie wirklich so froh, mich zu sehen? O Mann, und sie kannte mich ja noch nicht einmal.

»Bart, wie wunderbar! Ich habe gehofft, daß du kommst.«

»Treten Sie zur Seite, Madame«, befahl ich. »Meine Männer haben das Haus umstellt.« Machte meine Stimme ganz tief und rauh, damit sie einen anständigen Schreck bekommen sollte. »Widerstand ist zwecklos. Ergeben sie sich besser und hissen Sie die weiße Fahne. Sie haben keine Chance mehr.«

»Oh, Bart«, sagte sie mit einem albernen Kichern. »Es ist so lieb von dir, daß du meine Einladung angenommen hast. Setz dich zu mir und rede mit mir. Erzähl mir von dir und deinem Leben. Sag mir, ob du glücklich bist, ob dein Bruder glücklich ist, ob du gern hier wohnst und deine Eltern gern hast. Ich möchte alles wissen!« Mit einem kräftigen Tritt beförderte ich die Tür hinter mir ins Schloß, wie das alle guten Generäle tun. Peng! Ihre blauen Augen lächeln zu sehen, während ihre Lippen von diesem scheußlichen schwarzen Schleier verdeckt wurden, war schon sehr grauslig. Meine zackige militärische Haltung verflog ganz schnell. Warum mußte sie nur so einen unheimlichen Schleier tragen? »Lady«, sagte ich schwach, fühlte mich jung und furchtsam dabei, »Sie haben gestern über die Mauer gerufen. Sie haben gesagt, Sie würden gerne haben, daß ich zu Ihnen komme, wenn ich mich allein fühle. Ich bin also herübergeschlichen …«

»Geschlichen?« fragte sie mit einem komischen Ton. »Mußt du dich heimlich von deinen Eltern davonstehlen? Bestrafen sie dich oft?«

»Nein«, sagte ich. »Hätten sie bei mir auch nicht viel von. Schläge tun mir nämlich nicht weh. Und wenn man mir nichts zu Essen gibt, macht mir auch nichts, weil ich sowieso nie was essen mag.« Ich senkte den Kopf und flüsterte: »Mammi und Daddy meinen, ich sollte nicht reichen alten Ladys auf den Nerv fallen, die in großen Spukschlössern nebenan wohnen.«

»Oh!« sagte sie mit einem Seufzer. »Hast du viele große Spukschlösser nebenan mit reichen alten Damen drin?«

»Überhaupt nicht, Lady«, knurrte ich und lief zu einem hübschen Erker, aus dessen Fenster man gut sehen konnte, wer kam und wer ging. Ich lehnte mich gegen die Wand, drehte mir eine anständige Zigarette und zündete sie mir an, während sie sich in einen Schaukelstuhl setzte und mir zusah. Sie beobachtete still, wie ich Rauchringe in ihre Luft blies, und lächelte schwach, während die Ringe um ihren Kopf tanzten. Der blöde Schleier stülpte sich bei jedem ihrer Atemzüge vor und zurück. Frage mich, ob die mit diesem Ding über dem Kopf schläft.

»Bart, ich hör’ dich und deinen Bruder oft drüben bei euch im Garten reden. Manchmal nehme ich eine Stufenleiter, um einen Blick über die Mauer zu werfen – ich hoffe, das macht dir nichts aus.« Dazu wollte ich nichts sagen. Blies ihr weiter Rauchringe genau ins Gesicht. »Bitte erzähl was, Bart … Setz dich, und entspann dich, mach es dir bequem, fühl dich ganz wie zu Hause. Ich möchte, daß mein Haus für dich wie dein eigenes Zuhause ist, offen für dich und Jory. Mein Leben ist so einsam, ich habe nur mich selbst und John Amos, meinen Butler. Eine richtige Familie nebenan wohnen zu haben ist ein so angenehmes Gefühl. Irgendwie tröstet es mich. Du kannst mir alles erzählen, was du gerne möchtest, absolut alles.«

Gab nur nichts zu sagen – aber da war ein Erwachsener, der zuhören wollte. Worüber konnte man sich also unterhalten? »Man sollte nicht hinter mir und meinem Bruder herspionieren.«

»Ich habe nicht spioniert«, sagte sie rasch, »ich habe nur meine Rosen beschneiden wollen, die sich an der Mauer hochranken – da kann ich nichts dafür, wenn ich euch drüben gehört habe, oder?«

Spion. Das war es. Sie war ein Spion. Trat meine Zigarette mit meinem Stiefelabsatz aus. Die Sonne stach mir wieder in die Augen, so daß ich meinen Hut tiefer zog. Die Sonne machte mich durstig. »Lady, aus mir kriegen Sie nichts raus, da gibt’s nichts zu erzählen … also kommen Sie zur Sache.«

»Bart, wenn du dich auf einen der Stühle da setzt, könnten wir eine kleine Erfrischung bestellen. Siehst du diesen Klingelknopf da? Mein Mädchen bringt Eis und Kuchen. Es ist noch eine ganze Weile bis zum Mittagessen, deshalb wirst du dir nicht den Appetit verderben.«

Da konnte ich ruhig noch etwas länger bleiben. Ließ mich in einen weichen Armstuhl fallen und fixierte ihre Füße, die man kaum sehen konnte. Trug sie hohe Absätze? Geschnürte Sandaletten? Hatte sie lackierte Zehennägel? Dann kam ein hübsches mexikanisches Mädchen zur Tür herein mit einem Tablett voll guter Sachen. Mann, o Mann! Das Mädchen lächelte mich an, nickte der Lady zu und verschwand dann wieder. Ich nahm höflich an, was sie mir auf den Teller legte – natürlich von nichts genug – und haute rein. Mag kein Essen, das gut für mich ist, weil das immer so schlecht schmeckt. Sobald ich meine Appetithappen herunter hatte, stand ich auf, um zu gehen.

»Danke, Lady, daß Sie so nett zu einem alten Cowboy sind, der an solche Gastfreundschaft nicht gewöhnt ist. Nun muß ich aber leider weiter …«

»Nur zu, wenn du gehen mußt«, sagte sie traurig, und sie tat mir leid, weil sie hier so allein nur mit ihren Dienern leben mußte, ohne ein Kind wie mich. »Komm morgen wieder, wenn du möchtest und bring Jory mit. Hier bekommt ihr alles, was ihr euch wünscht.«

»Will aber Jory nicht mitbringen!«

»Warum denn nicht?«

»Sie sind mein Geheimnis. Er kriegt immer alles, er tut immer alles. Und ich bekomme nie etwas! Niemand mag mich.«

»Ich find’ dich aber nett.«

Mann, das ging mir aber gut runter. Sie machte, daß ich mich richtig wohl fühlte. Ich spähte nach ihrem Gesicht, aber ich konnte nichts sehen als ihre blauen Augen. »Warum finden Sie mich nett?« fragte ich ganz erstaunt – das tat doch sonst niemand.

»Ich finde dich nicht nur nett, Bart Winslow«, sagte sie richtig komisch, »ich liebe dich.«

»Warum?« Ich konnte ihr nicht glauben. Ladys verliebten sich immer auf Anhieb in Jory, nie in mich.

»Einmal hatte ich zwei Söhne, jetzt habe ich keinen mehr«, erzählte sie mit gesenkten Augen und einer zögernden, traurigen Stimme. »Dann wollte ich einen anderen Sohn von meinem zweiten Mann haben, aber das war nicht möglich.« Sie blickte auf und mir direkt in die Augen. »Deshalb möchte ich, daß du den Platz des dritten Sohnes einnimmst, den ich nie haben konnte. Ich bin sehr reich, Bart. Ich kann dir alles geben, was du willst.«

»Was ich mir am meisten wünsche – all meine richtigen Herzenswünsche?«

»Ja, alles was man mit Geld kaufen kann, bekommst du von mir.«

»Kann man nicht alles kaufen?«

»Es ist traurig, aber das kann man nicht. Ich habe gedacht, man könnte es, aber jetzt weiß ich, daß man mit Geld die wichtigsten Dinge nicht kaufen kann. Dinge, die ich für selbstverständlich hielt und deshalb so leichtfertig mit ihnen umging – oh, wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, wie anders würde ich dann sein! Ich habe so viele Fehler gemacht, Bart. Ich möchte für dich alles richtig machen, für dich und mit dir … und wenn du aus mir ein Geheimnis machen möchtest, können wir vielleicht eines Tages … Nun, heben wir uns das für später auf. Du kommst wieder?«

Sie klang so mitleiderregend, und ich fühlte mich ganz seltsam. Ich scharrte mit den Füßen und dachte mir, besser wäre es wohl, jetzt zu verschwinden, sonst versucht sie noch, mich zu küssen. »Lady, muß jetzt wieder zurück ins Camp. Meine Männer werden sich schon fragen, ob es mich erwischt hat oder ob ich verwundet bin. Aber vergessen Sie nicht, ich habe Sie eingekesselt und Sie können diesen Krieg nicht gewinnen!«

»Ich weiß«, sagte sie mit einer so traurigen Stimme. »Ich habe noch niemals ein Spiel gewonnen, das ich gespielt habe. Ich bin immer geschlagen worden, selbst wenn ich dachte, ich hätte alle Trümpfe in der Hand.«

Genau wie ich! Sie tat mir richtig leid. »Lady, Sie spielen Ihre Karten richtig aus, und ich komme jeden Tag vorbei und besuche Sie – vielleicht auch zwei- oder dreimal am Tag.«

»Ich danke dir, Bart. Du erzählst mir einfach, was für Karten ich spielen muß, und ich habe sie auf dem Tisch für dich bereit.«

Dann kam mir die Idee. So viele Dinge, die ich mir wünschte und die ich nie bekam. Wollte keine Bücher, Spiele oder solches gewöhnliches Zeug. Aber eine Sache gab es schon – das wollte ich unbedingt haben. Hoffnungsvoll starrte ich sie an … Vielleicht würde sie es mir geben. »Wie heißen Sie?«

»Komm wieder vorbei, und ich erzähl’ es dir.«

Ich kam wieder. Verdammt noch mal, wie hätte ich da wegbleiben können.

Ab nach Hause, und niemand merkte, wo ich gewesen war. Mammy redete noch immer von diesem Baby, das sie haben wollte, wenn ihre Lieblingsschülerin Nicole starb. Lieber Gott, laß Nicole nicht sterben, betete ich stumm.

»Jory, laß uns Ballspielen.«

»Geht jetzt nicht. Mam fährt mich gleich in die Ballettschule für den Nachmittagskursus. Und heute abend bin ich von Melodies Eltern zum Essen eingeladen, und später gehen wir ins Kino.«

Mich lud nie irgend jemand irgendwohin ein – außer meinen Eltern. Keine Freunde. Kein eigenes Tier. Der blöde Clover mochte Jory mehr als mich, jaulte jedesmal, wenn ich ihm versehentlich auf den Schwanz trat oder über ihn stolperte, als ob ich ihm weh tun wollte, wo er mir doch dauernd zwischen den Beinen rumlief.

Ein paar Tage später war ich mal wieder auf dem Weg zur Hintertür. »Wo gehst du hin?« fragte Mammy, die sich gerade ein Bild von dem kleinen Mädchen ansah, das sie so gerne adoptieren wollte. Reichte ihr nicht, daß sie zwei Jungen hatte – mußte sie auch noch eine Tochter dazu haben? So ’n albernes blödes kleines Mädchen.

»Bart, gib mir Antwort. Wo gehst du hin?«

»Nirgends.«

»Jedesmal, wenn ich dich frage, was du tust und wohin du gehst, höre ich von dir, daß du nirgendwo gewesen bist und nichts getan hast. Jetzt will ich endlich die Wahrheit hören.«

Jory lachte und legte den Arm um sie. »O Mam, du solltest ihn nun doch wirklich kennen. Wenn Bart in den Garten geht, ist er überall. Es gibt kein Kind, das so einen Spaß daran hat, sich etwas einzubilden, wie er. Er ist dies, er ist das, und das einzige, was er nie ist … ist er selbst.«

Die Macht meines bösen stechenden Blickes hätte Jory das Maul verschließen sollen – aber er redete einfach weiter. »Er zieht seine Phantasiespiele jeder Wirklichkeit vor, Mam, das ist alles.«

Stimmte gar nicht. Langweilte mich nur, das war alles. Im wirklichen Leben bekam ich nie genug von dem, was ich wollte, und in meinen Phantasiespielen machte ich alles richtig – und bekam alles. Dann lachten er und Mammi, und ich war wieder ausgeschlossen. Verrückt. Sie machten einen Verrückten aus mir.

Konnte Leute nicht ausstehen, die sich ihren Spaß mit mir machten! Aber alle Leute zu hassen, das war auch ein mieses Gefühl, und sich etwas einfach vorzustellen, das war ein glückliches Gefühl. Was hatte ich schon zu verlieren, wenn ich hinüber zu ihr ging? Nichts, gar nichts.

Riskierte mein Leben im dunklen Herz gefährlicher Dschungel, während ich mich zu ihrem Haus durchkämpfte. Tapfer schlug ich mich durch das Dickicht und blickte immer wieder dem Tod ins Auge, um zu ihr zu gelangen … erkletterte diesen gefährlich glatten Baum, der immer wollte, daß ich von ihm runterfiel. Erklomm die hohe Mauer, um zu ihr zu gelangen. Durch Wind und Schnee, durch Sturm und Regen mit erfrorenen Füßen und fast erblindeten Augen kämpfte ich mich weiter und weiter zu ihr.

Zum fünften Mal in drei Tagen erreichte ich mit letzter Kraft ihr Haus. Und da war sie, lächelte hinter ihrem Schleier, liebte mich wie niemand sonst. Ich fühlte mich glücklich und ganz warm am Körper, als sie mich rief und ihre Arme weit öffnete. Ich warf mich hinein, drückte sie und war ganz wild, auf ihrem Schoß zu sitzen, gestreichelt und verwöhnt zu werden. Sie brauchte mich. Sie wollte mich lieben wie ihr eigenes Kind. Ihr Schoß verbrannte mich nicht, wie ich befürchtet hatte. Es fühlte sich auch nicht so furchtbar an, von ihr auf die Wangen geküßt zu werden – aber trocken fühlte es sich an. Widerlicher Schleier!

Weil sie mich liebte, und weil ich sie jetzt auch liebte, hatte sie mir ein eigenes Zimmer in ihrem Haus gegeben für all die Sachen, die ich von ihr bekam. Zwei elektrische Eisenbahnen mit allem Zubehör, Spielzeugautos, ganze Lastzüge und tolle Spiele. All die Sachen waren für mich zum Spielen – in ihrem Haus, nicht in unserem.

Die Zeit verging. Ich hatte sie von Tag zu Tag mehr lieb. Dann, an einem Dienstag, fand ich diesen schauderhaften alten Butler John Amos in ihrem Lieblingszimmer, wie er an ihren Sachen rumfummelte und etwas murmelte von einer Närrin und ihrem Geld, das sie bald nicht mehr haben würde. Gefiel mir nicht, daß er ihre Sachen anfaßte. Gefiel mir auch nicht, daß er hinter ihrem Rücken schlecht über sie redete.

»Verschwinden Sie hier!« sagte ich mit meiner kräftigsten Männerstimme. »Sagen Sie meiner Lady, daß ich hier bin und sagen Sie ihrer Küche, daß ich heute Schokoladeneis mit Keksen haben will und nicht wieder mit diesen komischen Waffeln.«

Er war schon ein furchterregender Anblick. »Einigen kann man für eine Zeitlang trauen, den meisten überhaupt nie. Man kann von Glück sagen, wenn man einen hat, dem man die ganze Zeit trauen kann.«

Was sollte das denn heißen? Ich runzelte die Stirn und versuchte, mich davonzumachen. Ich mochte seine falschen Zähne nicht, die ihm immer nach vorne rutschten, so daß er sie wieder nach hinten stoßen mußte, und sie klackten auch immer, als ob sie nicht in seinen Mund passen würden.

»Du magst sie, nicht wahr?« fragte er und lächelte schwach, nickte dabei mit dem Kopf rauf und runter und von einer Seite zur andern, so daß ich ganz durcheinander davon geworden wäre, wenn ich gewollt hätte. »Wenn du die ganze Wahrheit darüber wissen willst, wer du bist – und wer sie ist – dann komm zu mir.« Die Schritte der Lady auf der Treppe sorgten dafür, daß er sich eilig zurückzog.

Unheimlich. Wegen ihm fühlte ich mich richtig unheimlich und erschrocken. Ich wußte doch, wer ich war – meistens jedenfalls.

Ganz allein war ich jetzt. Nichts los. Ich setzte mich und legte die Beine übereinander, wie mein Daddy es tat, dann lehnte ich mich zurück, um mir eine teure Zigarre anzuzünden, was Daddy nie tat. Mammi mochte Männer nicht, die rauchen. War nichts Schlimmes am Rauchen, soweit es nach mir ging, dachte ich, während ich vier perfekte Rauchringe in die Luft blies … und fort segelten sie, über den Pazifik bis nach Japan.

»Guten Morgen Bart, mein Liebling, Ich bin so glücklich, daß du hier bist.« Sie kam herein und setzte sich in den Schaukelstuhl.

»Hast du jetzt das Pony für mich?«

Ihre Stimme klang traurig. »Liebling, ich weiß, daß ich dir ein Pony versprochen habe, weil das einer deiner Herzenswünsche ist. Aber ich tat das, ohne zu wissen, wieviel Arbeit so ein Pony machen kann.«

»Du hast es versprochen!« schrie ich. Hatte ich der falschen Person mein Vertrauen geschenkt? Jemandem, der nicht halten konnte, was er versprach?

»Liebling, ein Pony braucht einen Stall, und von Ponys riecht man streng. Wenn du dann nach Hause zu deinen Eltern gehst, werden sie und Jory an dem Geruch erkennen, daß du hier bei mir ein Tier hast.«

Anstatt zu antworten, begann ich zu weinen. »Mein ganzes Leben wollte ich immer nur ein Pony haben«, schluchzte ich. »Mein ganzes, ganzes Leben lang, und jetzt muß ich alt werden, ohne je eines zu kriegen …« Schluchzte und schluchzte, dann machte ich mich mit hängendem Kopf auf den Weg zur Tür, um niemals wiederzukommen.

»Bart … Es gibt einen wunderschönen großen Hund, der hätte keinen Stallgeruch und würde dein Geheimnis nicht verraten. Einen Bernhardiner – ein Hund, so groß, daß du ihn wie ein Pony reiten kannst. Wenn du ihn sauber und gut gebürstet hältst, dann wird er dich nicht mit seinem Tiergeruch verraten …« Langsam drehte ich mich um und starrte sie an. »Gibt gar keinen Hund so groß wie ein Pony!«

»Nein?«

»Nein! Du willst mich nur auf den Arm nehmen. Ich mag dich überhaupt nicht mehr! Ich geh’ nach Hause und komm’ nie mehr wieder – nicht eher, bis du ein Pony für mich hast, das ich Apfel nennen kann.«

»Schatz, du kannst deinen jungen Hund Apfel nennen – auch wenn er bestimmt keine frißt – und überleg doch mal, wie neidisch Jory sein würde, wenn du einen viel größeren und tolleren Hund hättest als er.«

Wandte mich wieder zur Tür. Gefiel mir nicht.

»Nur die Superreichen haben genug Geld, um auch nur das Futter für einen Bernhardiner zu bezahlen, Bart!«

Als wäre ich ein Nagel und sie wäre der Magnet, drehte ich mich gegen meinen Willen wieder zu ihr. Sie hob mich auf ihren Schoß und drückte mich an sich, und das war trotz allem so furchtbar lieb. »Du kannst Großmutter zu mir sagen.«

»Großmutter.« War ein gutes Gefühl, eine Großmutter zu haben. Ich kuschelte mich enger an sie und wartete, daß sie mich ihr Baby nannte, aber sie schaukelte nur weiter mit dem Stuhl und sang mir ein Kinderlied vor. Ich steckte den Daumen in den Mund. Schön in den Arm genommen und geküßt zu werden, daß man sich hilflos und klein und geborgen fühlt. Und sie roch schließlich auch überhaupt nicht nach Mottenkugeln.

»Bist du häßlich unter diesem Schleier?« fragte ich, denn ich war immer neugierig, wie sie wohl aussah. Der Schleier war fast durchsichtig, aber eben nur fast.

»Ich nehme an, dir würde es so vorkommen, aber einmal war ich sehr schön – wie deine Mutter.«

»Du kennst meine Mutter?« fragte ich.

Die Tür öffnete sich, und mein hübsches Lieblingsdienstmädchen kam mit einem Teller voll Eiscreme und frisch gebackener Schokoladenkekse herein. »Iß jetzt aber nur einen Keks und laß es mit diesem bißchen Eiscreme genug sein. Du kannst nach dem Mittagessen wiederkommen und noch mehr haben.« Sie redete weiter und sagte mir, ich solle mir nicht so viel in den Mund stopfen, das wären keine guten Manieren, und für meinen Magen wäre es auch nicht gut.

Ich hatte aber gute Manieren. Meine Mammi brachte sie mir den ganzen Tag bei. Ich wurde so wütend, daß ich von ihrem Schoß sprang, und da fiel mir ein, was dieser John Amos mir wohl erzählen wollte. Während ich nach unten zur Tür rannte, entdeckte ich plötzlich John Amos, der in der großen Eingangshalle im Schatten stand und mich anlächelte wie ein Gespenst. Er verbeugte sich leicht und drückte mir ein kleines Buch in die Hand, das einen tollen roten Ledereinband hatte. »Ich spüre, daß du dir nicht sehr sicher bist über dich selbst«, flüsterte er mit einer Stimme, die zischte wie eine Schlange. »Es ist an der Zeit, daß du erfährst, wer du wirklich bist. Diese Lady, die dir gesagt hat, du sollst sie Großmutter nennen, ist wirklich deine richtige Großmutter.«

O Mann! Ich wußte gar nicht, daß ich eine eigene richtige Großmutter hatte. Ich dachte, meine Großmütter wären alle tot oder in der Klapsmühle.

»Ja, Bart, sie ist deine Großmutter und nicht nur das. Einmal war sie sogar mit deinem Vater verheiratet. Deinem richtigen Vater.«

Wußte gar nicht, was ich denken sollte, außer daß ich furchtbar glücklich war, jetzt eine richtige, eigene, echte Großmutter zu haben, ganz für mich allein, genau wie Jory seine eigene hatte. Und sie war nicht tot oder verrückt.

»Nun hör mir genau zu, Junge, und dann wirst du dich nie wieder schwach und unbeholfen fühlen. Lies jeden Tag ein wenig in diesem Buch, und es wird dich lehren, so zu sein, wie dein Urgroßvater Malcolm Neal Foxworth. Niemals hat auf dieser Erde ein Mann gelebt, der größer, klüger und härter war als dein Urgroßvater – der Vater deiner Großmutter, die oben in ihrem Schaukelstuhl sitzt und diesen häßlichen Schleier trägt.«

»Sie ist schön unter dem Schleier«, sagte ich. Es gefiel mir nicht, was er redete und wie er mich ansah. »Hab’ ihr Gesicht nie gesehen, aber von ihrer Stimme weiß ich, daß sie schön ist – sie sieht jedenfalls schöner aus als Sie!«

Er verzog den Mund, dann lächelte er wieder.

»Nun gut, wie du es gerne haben möchtest. Aber wenn du erst dieses Buch gelesen hast, geschrieben von deinem eigenen Urgroßvater, wirst du verstehen, daß man Frauen nicht vertraut, besonders schönen Frauen nicht. Sie haben ihre besondere Art, ihre bösen Tricks, Männer das tun zu lassen, was sie von ihnen wollen. Du wirst das noch früh genug herausbekommen, wenn du ein Mann wirst. Ein Mann, so gutaussehend, wie es dein Vater war, den sie zu ihrem Sklaven gemacht hat. Einen Schoßhund hat sie aus deinem Vater gemacht, wie sie ihn auch aus dir machen will.«

War kein Schoßhund, würde nie einer sein!

»Er war ihr zweiter Mann, Bartholomew Winslow und acht Jahre jünger als sie, und er wußte es wohl nicht besser. Er dachte wohl, er könne sie ausnutzen – aber sie benutzte ihn. Ich will dich davor bewahren, so von ihr benutzt zu werden, damit du nicht endest wie dein Vater – tot.«

Tot. Fast jeder in unserer Familie war tot. War eigentlich nicht sehr überrascht von dem, was er erzählte, außer daß ich nicht gewußt hatte, wie schlecht Frauen wirklich waren. Vermutet hatte ich so was ja immer schon, aber genau gewußt hatte ich es nicht. Ich sollte Jory warnen.

»Wenn du also deine unsterbliche Seele vor dem Fegefeuer retten willst, dann lies dieses Buch und du wirst stark und mächtig wie dein Großvater. Dann werden dich nie wieder Frauen beherrschen können. Du wirst sie beherrschen.«

Ich sah in sein langes, hageres Gesicht hinauf, sah seinen dünnen Schnurrbart und seine gelblichen Zähne, durch die er nicht nur zischte, sondern manchmal richtig pfeifen konnte. Er war häßlicher als alle Menschen, die ich je gesehen hatte. Aber ich hatte Emma schon mehr als einmal sagen hören, daß Schönheit nichts mit dem Charakter zu tun hatte. Deshalb dachte ich mir, ich könnte es ruhig einmal mit meinem mächtigen Urgroßvater versuchen und in seinem kleinen roten Buch mit der großen, deutlichen Handschrift lesen.

Bücherlesen lag mir eigentlich nicht so. War nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. Aber als ich in der alten Scheune, neben dem Stall, in dem bald mein Pony wohnen sollte, im Heu lag, nahm ich mir das Buch mal vor. Wollte dieses Pony so sehr, daß es richtig weh tat. Machte ja auch gar nichts aus, wenn es schlecht roch, und ich deswegen Arger bekam. Ganz egal. Ich schlug also das Buch auf, das wirklich mächtig alt aussah. Was da stand, ließ meinen Atem stocken:

Ich beginne dieses Tagebuch mit dem bittersten Tag meines Lebens: dem Tag, an dem meine geliebte Mutter fortlief und mich wegen eines anderen Mannes verließ. Sie verließ auch meinen Vater. Ich erinnere mich genau, was ich fühlte, als er mir erzählte, was sie getan hatte, wie sehr ich weinte, wie verloren ich mich ohne sie fühlte. Wie einsam war es, ins Bett zu gehen und keine Mutter zu haben, von der ich einen Gutenachtkuß bekam und die mit mir zusammen das Nachtgebet sprach. Fünf Jahre war ich damals alt. Und bis sie mich verließ, hatte sie mir immer gesagt, ich wäre die wichtigste Person in ihrem Leben. Wie konnte sie mich verlassen, ihren einzigen Sohn? Was für eine Sache konnte es sein, von der sie so besessen war, daß sie deshalb dem Sohn den Rücken zukehrte, der sie so liebte?

Ich war damals so unschuldig, wußte noch so wenig. Als ich dann in den Worten des Herrn las, begann ich zu begreifen, daß schon seit Eva Frauen die Männer betrogen, auf die verschiedenste Art, selbst Mütter. Corinna, Corinna, wie ich diesen Namen zu hassen begann.

Komisch. Ich fühlte mich seltsam, als ich wieder von dem roten Buch aufsah mit seiner gedrängten Handschrift, die manchmal am Ende der Seite immer kleiner wurde, als ob er jedes bißchen Platz hätte ausnützen müssen.

Auch ich hatte immer Angst gehabt, meine Mammi würde eines Tages einfach verschwinden ohne jeden Grund, außer daß sie einfach nicht mehr bei mir sein wollte. Und ich wäre dann alleine mit einem Vater, der mich vielleicht gar nicht so liebhaben konnte wie einen eigenen Sohn. Mit Jory würde immer alles in Ordnung sein, denn er hatte seine Tanzerei, und die war alles, was für ihn wirklich zählte.

»Gefällt dir dieses Buch?« fragte John Amos, der sich in die Scheune geschlichen hatte und still im Schatten stand, während er mich mit seinen kleinen, schimmernden Augen anstarrte.

»Sicher, es ist ein gutes Buch«, brachte ich leise heraus, obwohl ich mich im Inneren von dem Gelesenen unwohl fühlte. Ich fürchtete mich davor, daß Mammi auch mit einem Mann fortlaufen würde, einem, der kein Arzt war. Die ganze Zeit wünschte sie sich, Daddy wäre kein Arzt und könnte mehr zu Hause bei ihr sein.

»Von jetzt an liest du jeden Tag in diesem Buch«, empfahl mir John Amos, der mich vielleicht wirklich mochte, auch wenn er so ein gemeines Gesicht hatte, »und du wirst alles über Frauen lernen und wie man sie beherrscht.« Ich konnte ihm besser zuhören, wenn ich sein Gesicht nicht so deutlich sah. »Und du wirst nicht nur lernen, wie man Frauen beherrscht, sondern auch alle anderen Menschen. Dieses kleine rote Buch in deinen Händen wird dich davor bewahren, die Fehler zu begehen, wie sie so viele Männer begehen. Denk daran, falls du müde wirst, es zu lesen. Denk daran, daß es die gottgewollte Pflicht des Mannes ist, die Frauen zu beherrschen, denn sie sind im Grunde schwach und dumm.«

O Mann, ich hätte gar nicht gedacht, daß Mammi schwach und dumm war. Ich dachte immer, sie wäre stark und wunderbar. Genau wie meine Großmutter großzügig und lieb war … und auf bestimmte Art viel besser als meine eigene Mutter, die immer zu viel zu tun hatte, um sich richtig mit mir zu beschäftigen.

»Malcolm war ein Mann, zu dem die anderen Menschen aufsahen, Bart. Die Art von Mann, den jeder respektiert und fürchtet. Wenn es dir gelingt, anderen diese Art von Ehrfurcht vor dir einzuflößen, dann wird man dich verehren – wie einen Gott. Du mußt deiner Großmutter nichts von diesem Buch erzählen. Es wäre jedenfalls besser, wenn du das nicht tätest und einfach weiter den Eindruck erwecktest, du würdest sie genausosehr lieben wie bisher. Laß niemals eine Frau wissen, was du wirklich denkst. Behalte deine wahren Gedanken für dich selbst.«

Vielleicht hatte er recht. Vielleicht würde ich, wenn ich dieses Buch bis ganz zu Ende las, noch cleverer werden als Jory, und die ganze Welt würde zu mir aufsehen.

In dieser Nacht lächelte ich in meinem Bett und drückte das Tagebuch von Malcolm an meine Brust. Hier hatte ich etwas für mich ganz allein, das mir zeigen würde, wie ich der reichste Mann der Welt würde – genau wie Malcolm Neal Foxworth, der an einem fernen Ort mit Namen Foxworth Hall gelebt hatte.

Jetzt hatte ich zwei Freunde. Meine Großmutter-Lady in Schwarz und John Amos, der mehr mit mir redete, als mein Daddy es je tat. Junge, das war schon komisch, wie da auf einmal Fremde in meinem Leben auftauchten und mir mehr zu geben begannen als meine eigenen Eltern.

Dornen des Glücks

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