Читать книгу Dornen des Glücks - V.C. Andrews - Страница 11

Gemischte Gefühle

Оглавление

Mam hatte eine Ballettschule übernommen, die noch immer den Namen der früheren Besitzerin trug. Sie hatte diesen Namen mit übernommen, Marie DuBois Ballettschule, und ließ ihre Schüler glauben, sie wäre Marie DuBois. Später erklärte sie Bart und mir einmal, es wäre so viel einfacher gewesen und würde ihr auch mehr Schüler bringen, als wenn sie den Namen geändert hätte, denn dann wäre es eine ganz neue Ballettschule geworden. Dad schien das auch so zu sehen.

Ihre Schule war im obersten Stockwerk eines zweistöckigen Gebäudes in San Rafael, nicht weit entfernt von Dads Praxis. Oft aßen sie zusammen zu Mittag oder verbrachten die Nacht in San Francisco, um ein Ballett zu besuchen oder ins Kino zu gehen. Sie brauchten dann nicht erst nach Hause und dann wieder zurück zu fahren. Emma war ja bei uns, deshalb machten wir uns eigentlich nicht viel daraus, auch wenn ich mich manchmal ausgeschlossen fühlte, wenn sie glücklich und. begeistert von etwas nach Hause kamen. Dann kam es mir vor, als wären wir nicht so wichtig für sie, wie wir es uns wünschten.

Eines Nachts, als ich keine Ruhe fand und nicht einschlafen konnte, schlich ich mich leise aus meinem Zimmer, um mir noch eine Kleinigkeit aus dem Kühlschrank zu besorgen, nichts anderes hatte ich im Kopf. In dem Augenblick, als ich an der Wohnzimmertür vorbeikam, hörte ich die Stimmen meiner Eltern. Sehr laut. Sie stritten sich, und das kam sehr selten bei ihnen vor.

Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte, sollte ich zuhören oder leise in mein Zimmer zurückgehen. Dann erinnerte ich mich an die Szene auf dem Dachboden, und ich fühlte, daß ich zu meinem und Barts Schutz wissen mußte, was zwischen unseren Eltern los war.

Mam trug noch immer das hübsche blaue Kleid, in dem sie von Daddy zum Dinner ausgeführt worden war. »Ich verstehe einfach nicht, warum du weiter so dagegen bist!« kochte sie, während sie auf und ab rannte und Dad wütende Blicke zuwarf. »Du weißt so gut wie ich, daß Nicole nicht wieder gesund wird. Und wenn wir warten, bis sie begraben ist, dann ist Cindy erstmal unter staatlicher Vormundschaft. Bis wir sie dann adoptiert haben, dauert es eine Ewigkeit. Wir müssen jetzt sofort etwas unternehmen. Wenn wir eine anständige Pflege des Kindes nachweisen können, sieht alles ganz anders aus, und die Vermieterin von Nicole weiß sowieso schon nicht mehr, wie sie sich weiter um die Kleine kümmern soll. Chris, bitte entscheide dich jetzt!«

»Nein«, sagte er hart. »Wir haben zwei Kinder, und das reicht. Es gibt andere junge Paare, die entzückt sein werden, ein Mädchen wie Cindy zu adoptieren. Paare, die nicht so viel zu verlieren haben wie wir, wenn die Adoptionsstelle erst anfängt, Ermittlungen über sie anzustellen …«

Mam hob die Hände. »Das sage ich doch die ganze Zeit! Wenn Cindy schon bei uns ist, bevor Nicole stirbt, gibt es für das Adoptionsamt gar keinen Grund, überhaupt zu ermitteln. Ich rede noch heute abend mit Nicole und erkläre ihr, was ich vorhabe. Ich bin sicher, sie ist einverstanden und unterschreibt alle gesetzlich vorgeschriebenen Erklärungen.«

»Catherine«, sagte mein Stiefvater mit fester Stimme, »du kannst nicht erwarten, daß alles immer so läuft, wie du es gerne hättest. Nicole kann durchaus in einigen Wochen über die Krise hinweg sein, und falls sie wieder gesund wird, selbst wenn sie ein Krüppel bleibt, wird sie ihr Kind zurückhaben wollen.«

»Aber was für eine Mutter kann sie dann schon sein?«

»Es steht uns nicht an, darüber zu entscheiden, wer für Cindy die bessere Mutter ist.«

»Sie wird nicht wieder gesund! Du weißt das, und ich weiß es – und was noch viel wichtiger ist, Christopher Meißner, ich bin längst im Krankenhaus bei Nicole gewesen und habe mit ihr gesprochen, und sie will, daß ich ihre Tochter bekomme. Sie hat alle nötigen Papiere unterschrieben, und ich war mit Simon Daughtry bei ihr. Er ist Anwalt, seine Sekretärin hat alle Erklärungen von Nicole mitgeschrieben – wie willst du mich also jetzt noch aufhalten?«

Offenbar schockiert, schlug mein Stiefvater die Hände vors Gesicht, während es aus meiner Mutter weiter und weiter sprudelte:

»Christopher, hör auf, dich hinter deinen Händen zu verstecken. Sieh mich an, damit du erkennst, wozu du mich gezwungen hast. Du warst bei mir in der Nacht, als Bart geboren wurde – mit deinen flehenden Augen, die mir versicherten, Paul würde nie genug sein für mich, und am Ende würdest du gewinnen. Wenn du nicht dagegen wärst und mit diesen verdammten blauen Augen gefleht hättest, dann hätte ich mich nicht von den Ärzten dazu überreden lassen, die Einwilligung für meine Sterilisation zu unterschreiben! Ich hätte noch ein anderes Kind zur Welt gebracht, und wenn ich dabei gestorben wäre. Aber du warst da, und deshalb gab ich nach – deinetwegen, verdammt! Für dich ganz allein!«

Schluchzend sank sie auf den Boden und rollte sich zusammen. Ihre Finger wühlten sich in unseren dichten, flauschigen Teppich. Ihr langes blondes Haar hatte sich wie ein Fächer um sie ausgebreitet und versteckte ihr Gesicht, als sie schluchzte und schluchzte, und sich und ihn dafür verfluchte, was sie taten.

Was taten sie eigentlich?

Sie rollte sich auf den Rücken und breitete die Arme weit aus. Daddy nahm die Hände vom Gesicht und starrte sie an. Er sah sehr verletzt aus.

»Du hast recht, Christopher! Du hast immer recht! Nur ein einziges Mal habe ich recht gehabt, aber dieses eine Mal hätte ich Corys Leben retten können.« Schluchzend drehte sie ihren Kopf von Dad weg, der sich neben sie kniete und sie in seine Arme ziehen wollte. Sie schlug nach ihm. Ich hielt die Luft an.

»Du hattest auch recht, als du mir gesagt hast, ich sollte Julian nicht heiraten! Ich wette, du hast regelrecht frohlockt, als sich unsere Ehe als elende Katastrophe herausstellte. Ich wette, du warst entzückt, als Julian schließlich dafür sorgte, daß Jolanda Lange uns alles kaputt machte. Alles ist genauso gekommen, wie du es vorausgesagt hast. Du konntest dich richtig freuen. Dann erstickte Bart beim Brand von Foxworth Hall. Hast du da auch im Inneren gelacht? Warst du froh, ihn los zu sein? Dachtest du, ich würde direkt in deine Arme laufen und alles vergessen, was ich Paul schuldete? Hast du an meiner Liebe zu Paul gezweifelt?« Ihre Stimme wurde zu einem schrillen Schrei. »Als Paul und ich uns liebten, dachte ich nie daran, er wäre zu alt, bis du immer wieder von seinem Alter anfingst. Vielleicht hätte ich nie geglaubt, was diese Amanda mir erzählte, wenn du mich nicht immer so bedrängt hättest, weil ich einen fünfundzwanzig Jahre älteren Mann heiraten wollte.«

Ich preßte mich eng gegen den Türrahmen und fühlte mich sehr klein. Ich schämte mich, zu bleiben und weiter zuzuhören; ich fürchtete mich aber gleichzeitig, jetzt zu gehen, nachdem ich schon so viel mitbekommen hatte. Mam wirkte, als hätte sie sich das alles schon lange Zeit aufgehoben, um es ihm bei der richtigen Gelegenheit ins Gesicht schleudern zu können – und das war wohl die Gelegenheit. Er wich vor der Wut und der Gemeinheit dieses Angriffs zurück.

»Erinnerst du dich noch an den Nachmittag, als ich Paul geheiratet habe?« schrie sie. »Erinnerst du dich? Denk an den Augenblick, als du mir den Ring gabst, den er mir auf den Finger schob. Du hast so lange gezögert, daß der Pfarrer dir etwas zuflüstern mußte. Und die ganze Zeit hast du mich mit deinen Augen angefleht. Damals hast du mich nicht herumbekommen, und nach seinem Tod hätte ich es dir auch nicht erlauben dürfen. Hast du dir gewünscht, daß er bald starb, damit du endlich deine Chance bekamst? Ein Wunsch, der sich von selbst erfüllte, Christopher Meißner! Du gewinnst! Du gewinnst immer. Du setzt dich bequem hin und wartest ab, während du nach Kräften jede andere Beziehung in meinem Leben ruinierst! Hier bin ich also! Genau da, wo du mich immer haben wolltest! In deinem Bett, ganz so, als wäre ich deine Frau! Gefällt es dir so? Ja, gefällt es dir?« Sie schluchzte, dann schlug sie ihn hart ins Gesicht.

Er stolperte weg von ihr, aber er sagte kein einziges Wort. Noch immer war sie nicht mit ihm fertig. »Begreifst du denn nicht, daß ich am Anfang nie zu Bart gegangen wäre, wenn du dich nicht immer zwischen Paul und mich gedrängt hättest, so daß ich mich immer schämen mußte, was Mammi dir angetan hatte – dir und mir? Ich mußte ihr Bart einfach wegnehmen – es war der einzige Weg, wie ich sie für das bestrafen konnte, was sie uns angetan hat. Und nun, nach allem, was Paul für uns getan hat, besitzt du nicht einmal genug ehrliche Großzügigkeit, ein kleines armes Mädchen bei uns aufzunehmen, das bald ein Waisenkind sein wird. Selbst nachdem ich die Sache juristisch schon so abgesichert habe, daß die Behörden überhaupt keine Fragen mehr stellen können. Noch immer willst du mich immer für dich selbst und denkst, zwei Söhne würden unsere Intimität genug stören, und ein weiteres Kind könnte unser Kartenhaus einstürzen lassen.«

»Cathy, bitte …«, stöhnte er.

Sie schlug mit kleinen, geballten Fäusten auf ihn ein, dann keuchte sie: »Vielleicht hast du mir sogar deshalb erzählt, daß Paul noch ein wenig Sex haben dürfte, damit er den nächsten Herzinfarkt bekam!«

Dann sank sie keuchend zurück, Tränen liefen über ihr Gesicht, während sie mit verweinten blauen Augen zu Daddy hinaufstarrte, aber der hockte nur still da, saß auf den Knien, als wäre er von dem, was sie gesagt hatte, zu Stein erstarrt.

Ich hätte weinen können – für ihn, für sie, für Bart und für mich. Auch wenn ich noch immer nicht genug von alldem begriff.

Mein Dad begann unkontrolliert zu zittern, als wäre es plötzlich in unserem Wohnzimmer Winter geworden. Hatte Mam die Wahrheit gesagt? War er derjenige, der hinter den vielen Toten in unserem Leben steckte? Ich war so erschrocken wie er, denn ich liebte ihn.

»Großer Gott, Catherine«, sagte er schließlich, stand auf und wollte aus dem Zimmer gehen. »Ich packe meine Sachen und ziehe noch in dieser Stunde aus, wenn es das ist, was du willst. Und ich hoffe, dann bist du zufrieden. Diesmal gewinnst du!«

Mit einem einzigen eleganten Sprung war sie auf den Beinen und hatte ihn eingeholt. Sie griff nach seinen Armen und wirbelte ihn zu sich herum, dann schlang sie die Arme um seine Hüfte und drückte ihn an sich. »Chris!« rief sie, »es tut mir leid! So furchtbar leid. Ich habe kein Wort davon ernst gemeint. Es war grausam. Ich weiß, daß es gemein war. Ich liebe dich; ich habe dich immer geliebt; ich lüge, ich betrüge, ich sage alles, was mir nur schaden kann, nur damit ich meinen Willen bekomme. Ich gebe jedem anderen die Schuld, nur nie mir selbst. Ich kann Schuldgefühle nicht ertragen. Bitte, sieh mich nicht so verletzt an, fühl dich nicht so verraten. Du hast recht, wenn du Nicoles Tochter von mir fernhalten willst, denn ich verletze am Ende jeden, den ich liebe. Ich zerstöre immer das, was mir am meisten am Herzen liegt. Wenn ich die richtige Art von Frau gewesen wäre, dann hätte ich die richtigen Worte für Carrie finden müssen, aber ich fand nie die richtigen Worte, ihr zu helfen, und für Julian habe ich sie auch nie gefunden.«

Sie klammerte sich noch immer an ihn, während er stocksteif in ihrer Umarmung blieb und nichts tat, die Leidenschaft zu erwidern, mit der sie ihn küßte, streichelte, drückte und zu überreden versuchte. Sie nahm einen seiner willenlos herunterhängenden Arme und versuchte, sich mit seiner Hand ins Gesicht zu schlagen. Als ihr das nicht gelang, schlug sie sich mit ihrer freien Hand selbst.

»Warum schlägst du mich nicht, Chris? Gott weiß, daß ich dir heute nacht allen Grund dafür gegeben habe. Und ich brauche Cindy wirklich nicht, nicht solange ich dich habe und meine Söhne …«

Ich konnte leicht erkennen, daß mein Stiefvater sich angesichts dieses Ausbruchs machtlos fühlte. Ihr hysterischer Anfall hatte ihn in eine Ecke gejagt, in der er jetzt so lange zu bleiben versuchte, bis er seine Lage selbst richtig einschätzen konnte. Aber sie ließ nicht locker, bedrängte ihn weiter, bis sie wieder zu schreien begann: »Was ist jetzt los, Christopher Meißner? Da stehst du, versteinert, sagst nichts, versuchst, mich nach deiner eigenen Ethik abzuurteilen. Sieh doch endlich die Wahrheit – für mich gibt es keine Ethik, deine nicht und auch keine andere! Du möchtest gerne glauben, daß ich nur Rollen spiele wie eine Schauspielerin, wie meine Mutter ihre Rolle gespielt hat. Selbst jetzt, nach all diesen Jahren weißt du nicht, wann ich spiele und wann ich wirklich ich bin. Weißt du, warum du das nie erkennst?« Ihre Stimme wurde jetzt boshaft und kühl. »Da du dir niemals die Mühe gemacht hast, meine Krankengeschichte zu analysieren, werde ich das jetzt für dich tun. Christopher, du hast Angst, mich ehrlich so zu sehen, wie ich bin. Du willst gar nicht wissen, was für ein Mensch ich wirklich bin. Falls ich nicht die große Schauspielerin bin, und was ich dir gerade von mir gezeigt habe, das ist mein wahres Selbst – dann müßtest du dir eingestehen, was für ein Narr du die ganze Zeit gewesen bist. Du müßtest dann erkennen, daß du deine ganze große, selbstlose Liebe an eine Frau verschwendet hast, die skrupellos, herrschsüchtig und nur an sich selbst interessiert ist. Los, sieh dir die Wahrheit an! Ich bin keine heilige Göttin, bin es nie gewesen und werde es nie sein! Chris, du bist dein ganzes Leben lang ein Narr gewesen, der aus mir etwas machen wollte, was ich nicht bin – und das macht auch aus dir jemanden, der verlogen ist, nicht wahr?« Sie lachte, als er erblaßte.

»Sieh mich an, Christopher. An wen erinnere ich dich?« Sie wich zurück und sah ihn schweigend lange Zeit an, während sie auf seine Antwort wartete. Als er diese Antwort verweigerte, sagte sie: »Los schon, sag es – ich bin wie sie, stimmt das nicht? So war sie in der letzten Nacht in Foxworth Hall, als die Gäste um den riesigen Weihnachtsbaum in der großen Halle schwärmten, während sie in der Bibliothek schrie, so wie ich jetzt schreie! Wie sie schrie, daß ihr Vater sie mit Schlägen zu allem gezwungen hätte, was sie tat. Wie schade, daß du da noch nicht dabei warst. Also schrei mich an, Chris! Hol aus und schlag mich. Schrei, wie ich dich anschreie, und zeig mir endlich, daß du auch nur ein Mensch bist!«

Langsam aber sicher begann er die Beherrschung zu verlieren. Ich hatte furchtbare Angst, was wohl als nächstes passieren würde. Ich wäre am liebsten zu den beiden gelaufen und hätte mich zwischen sie gestellt, denn wenn er die Hand hob, sie zu schlagen, wußte ich, daß ich ihr zu Hilfe kommen würde. Ich würde niemals zulassen, daß er meine Mutter schlug.

Hörte sie mein stummes Flehen? Sie ließ von ihm ab und sank wieder zu Boden. Ich war so verwirrt, meine Eltern in einem bösen Streit zu erleben. Und warum rührte der Name Foxworth Hall solche verborgenen, halb vergessenen Ängste in mir auf, die ich mir nicht einzugestehen wagte? Und wer war diese sie, über die Mam so herzog? Wo war denn Daddy Paul die ganze Zeit gewesen? Wo war er in dieser fernen vergangenen Zeit gewesen, als Mam seinen jüngeren Bruder noch gar nicht gekannt hatte? So hatten sie es mir doch erzählt, oder? Konnte man von den eigenen Eltern angelogen werden?

Foxworth Hall, warum hatte dieser Name einen so erschreckend vertrauten Klang?

Wieder ließ er sich neben ihr auf die Knie sinken, und diesmal nahm er sie voller behutsamer Zärtlichkeit in die Arme, und sie wehrte sich nicht. Er bedeckte ihr blasses Gesicht mit schnellen Küssen, versuchte mit seinen Lippen, ihre Worte zu besänftigen, die noch immer ohne Unterbrechung aus ihr heraussprudelten. »Chris, wie kannst du mich nur lieben, wo ich so ein Miststück bin? Wie kannst du nur immer wieder Verständnis dafür aufbringen, daß ich mich so häßlich benehme? Ich weiß, daß ich genauso ein Aas bin wie sie, nur daß ich mein Leben dafür geben würde, wenn ich ungeschehen machen könnte, was sie uns angetan hat.«

Wortlos starrte er sie an, sie hielten sich mit ihren Blicken gefangen, bis ihr Atmen zu einem leisen, schnellen Keuchen wurde. Zwischen ihnen war wieder jene Leidenschaft aufgeflammt, die ständig unter der Oberfläche glühte, und auch ich spürte etwas wie elektrische Spannung im Raum.

Bevor ich zuviel sah, schlich ich mich leise zurück in mein Zimmer. Im Geist hatte ich noch immer dieses peinliche letzte Bild von ihnen vor Augen, wie sie sich zusammen auf dem Teppich wälzten. Sie drehten und wandten sich, preßten sich aneinander, verkrallten sich regelrecht, beide ganz außer sich – und das letzte, was ich hörte, war, wie ein Reißverschluß aufgerissen wurde. Ob ihrer oder seiner, wußte ich nicht. Doch ich mußte darüber nachdenken. Riß eine Frau tatsächlich jemals aus freiem Willen einem Mann die Hose auf – selbst wenn sie verheiratet waren?

Ich rannte hinaus in den Garten. In der Dunkelheit warf ich mich neben der großen weißen Mauer nahe bei einer bleichen, nackten Marmorstatue auf die Erde und weinte. Rodins Statue „Der Kuß” war das erste, was mir in die Augen fiel, als ich schließlich aufblickte. Nur eine Kopie, aber sie erzählte mir eine ganze Menge über die Gefühle und Leidenschaften der Erwachsenen.

Ich war so naiv gewesen zu glauben, meine Eltern seien ohne jeden Fehler, ihre Liebe immer ein schimmerndes, sauberes Band reinster Seide. Nun war dieses Band zerrissen, befleckt und schimmerte nicht mehr. Hatten sie sich schon oft gestritten, ohne daß ich etwas davon bemerkt hatte? Ich versuchte mich zu erinnern. Es kam mir vor, als hätten sie einen so furchtbaren Streit tatsächlich noch nie gehabt, nur kleine Konflikte, die schnell zu lösen waren.

Zum Weinen war ich zu alt, sagte ich mir. Vierzehn, da war man schon fast ein junger Mann. Längst wuchsen mir ein paar Haare auf der Oberlippe und an anderen Stellen. Ich schluckte meine Tränen runter, lief zur Gartenmauer und kletterte die Eiche hinauf. Oben auf der Mauer setzte ich mich auf meinen Lieblingsplatz und starrte zu dem großen weißen Herrenhaus hinüber, das im Mondlicht geisterhaft glänzte. Ich grübelte und grübelte über Bart und wer nun sein Vater war. Warum hieß er nicht nach Daddy Paul? Ein Sohn sollte doch den Namen seines Vaters bei seinen Vornamen haben. Warum Bart statt Paul?

Während ich so saß und überlegte, rollte der Nebel vom Meer ins Tal, türmte sich Schwade über Schwade, bis er das Nachbarhaus völlig verhüllt hatte. Überall um mich her sah ich nur noch dichten grauen Nebel. Unheimlich, furchterregend und geheimnisvoll.

Vom Nachbargrundstück klangen seltsame, gedämpfte Laute an mein Ohr. Weinte dort drüben jemand? Große, elende Schluchzer wurden von klagendem Stöhnen und kurzen Gebeten um Vergebung unterbrochen.

O Gott! Weinte diese arme alte Frau etwa genau, wie meine Mutter gerade geweint hatte? Was hatte sie getan? Hatte denn jeder eine dunkle Vergangenheit zu verbergen? Würde ich als Erwachsener auch so werden?

»Christopher«, hörte ich sie schluchzen. Überrascht zuckte ich zusammen und versuchte, zu entdecken, wo sie sich befand. Woher kannte sie den Namen meines Dads? Oder hatte sie einen eigenen Christopher?

Eines wußte ich. In unser Leben war etwas Dunkles und Bedrohliches getreten. Bart benahm sich noch eigenartiger als früher. Etwas oder jemand begann ihn auf subtile Art zu beeinflussen, so unmerklich, daß man es mehr spüren als genau benennen konnte. Aber was immer hinter Barts Veränderung steckte, mit Mam und Dad hatte es nichts zu tun. Aber wenn ich die schon nicht verstand, was sollte ich dann mit Bart anfangen. Was immer mit meinen Eltern und mit Bart los sein mochte, ich fühlte mich, als trüge ich die Last der ganzen Welt auf meinen Schultern, und diese Schultern waren noch recht schwach.

Eines Nachmittags beeilte ich mich, nach der Ballettklasse früh zu Hause zu sein. Ich hatte mir vorgenommen herauszufinden, was Bart wohl tat, wenn er sich allein beschäftigen mußte. In seinem Zimmer war er nicht, im Garten auch nicht, also blieb nur noch ein Ort, an dem er sich aufhalten konnte. Das Nachbargrundstück.

Ich fand ihn ohne Schwierigkeiten. Zu meiner größten Überraschung war er im Haus nebenan und saß auf dem Schoß der alten Dame, die immer schwarze Kleider trug.

Ich holte tief Luft. Der kleine Lausebengel kuschelte sich gemütlich in ihren schwarzen Schoß. Ich schlich mich näher zu dem Fenster, hinter dem ihr Lieblingszimmer lag. Sie sang ihm sanft etwas vor, während er in ihr verschleiertes Gesicht hinaufblickte. Seine großen dunklen Augen blickten ganz unschuldig, bis ihr Ausdruck sich urplötzlich zu einer abgebrühten Verschlagenheit wandelte. »Du hast mich doch eigentlich gar nicht lieb, oder?« fragte er auf sehr eigenartige Weise.

»Oh, aber sicher doch«, sagte sie sanft. »Ich liebe dich mehr, als ich jemals irgend jemand anderen geliebt habe.«

»Mehr als du Jory lieben könntest?«

Warum, zum Teufel, sollte sie mich lieben? Sie zögerte, sah zur Seite und antwortete: »Ja … du bist etwas sehr, sehr Besonderes für mich.«

»Du wirst mich immer von allen am meisten liebhaben?«

»Immer, immer …«

»Du wirst mir alles geben, was ich haben will, ganz egal was?«

»Alles, immer … Bart, mein lieber Schatz, wenn du das nächste Mal zu mir kommst, dann wirst du hier etwas finden – deinen Herzenswunsch.«

»Das wird aber auch langsam Zeit!« sagte Bart auf eine harte Art, die mich überraschte. Urplötzlich klang er um Jahre älter. Aber er änderte immer wieder seinen Tonfall, selbst wenn er mit sich selbst sprach, spielte etwas vor, war ein Teil von irgendeinem seiner Phantasiespiele.

Ich mußte nach Hause und Mam und Dad davon erzählen. Bart brauchte wirklich Freunde in seinem eigenen Alter, nicht ein alte Lady in Schwarz. Es war nicht gut für einen Jungen, wenn er keine Gleichaltrigen zum Spielen hatte. Dabei mußte ich mich wieder fragen, warum meine Eltern eigentlich niemals einen unserer Schulkameraden zu uns nach Hause einluden, wie das alle anderen Eltern gelegentlich taten. Wir lebten hier ganz für uns allein, isoliert von allen Nachbarn – bis diese Mohammedanerin, oder was immer sie sein mochte, nebenan einzog und offenbar das Herz meines kleinen Bruders gewonnen hatte. Ich hätte mich für ihn freuen sollen; statt dessen hatte ich ein ungutes Gefühl.

Schließlich stand Bart auf und sagte: »Auf Wiedersehen, Großmutter.« Einfach so mit seiner alltäglichen Kinderstimme – aber was, bei allen guten Geistern, meinte er mit Großmutter?

Ich wartete geduldig ab, bis ich sicher sein konnte, daß Bart sich außer Sicht auf unserem Grundstück befand, bevor ich zu dem großen alten Haus lief und hart an der Vordertür klopfte. Ich erwartete, den alten Butler durch die lange Eingangshalle schlürfen zu hören, aber es war die alte Lady selbst, die an dem kleinen Türfenster auftauchte und fragte, wer da sei.

»Jory Marquer Sheffield«, sagte ich stolz, genau wie es mein Dad getan hätte.

»Jory«, flüsterte sie. Im nächsten Augenblick hatte sie die Tür weit aufgerissen. »Komm herein«, lud sie mich glücklich ein und trat zur Seite, um mich eintreten zu lassen. Weiter hinten im Dunkel glaubte ich jemanden zu sehen, der sich schnell in eine Tür duckte. »Ich bin so glücklich, daß du mich einmal besuchst. Dein Bruder war hier und hat unseren Eisvorrat schon geplündert, aber ich kann dir ein Cola anbieten und etwas Kuchen oder Kekse.«

Kein Wunder, daß Bart nichts von Emmas gutem Essen aß. Diese Frau fütterte ihn mit Süßigkeiten durch. »Wer sind Sie?« fragte ich aufgebracht. »Sie haben kein Recht, meinem Bruder Süßigkeiten zu geben.«

Sie wich zurück und wirkte unbeholfen und verletzt. »Ich habe versucht, ihn dazu anzuhalten, die Süßigkeiten nur nach den Mahlzeiten zu essen, aber er bedrängt mich immer so. Bitte verurteile mich nicht gleich, ohne mir eine Chance zu geben, dir alles zu erklären.« Mit einer Geste lud sie mich ein, mich in einer der Nischen neben der Halle in einen Sessel zu setzen. Obwohl ich eigentlich ablehnen wollte, wurde ich jetzt neugierig. Von dort aus blickte ich in einen der größten Räume, die ich mir außerhalb eines französischen Schlosses auch nur vorstellen konnte! Ein riesiger Konzertflügel stand darin, Sofas, Brokatstühle, ein mächtiger Schreibtisch und ein breiter marmorner Kamin. Schließlich wandte ich mich der alten Frau zu und sah sie mir genauer an. »Haben Sie einen Namen?«

Unsicher brachte sie mit leiser Stimme heraus: »Bart nennt mich … Großmutter.«

»Sie sind nicht seine Großmutter«, sagte ich. »Wenn Sie ihm erzählen, Sie wären es, dann bringen Sie ihn durcheinander, und der Himmel weiß, wenn es etwas gibt, was mein Bruder absolut nicht gebrauchen kann, dann ist es, noch mehr durcheinandergebracht zu werden.«

Sie lief leicht rot an auf der Stirn. »Ich habe keine eigenen Enkelkinder. Ich bin einsam. Ich brauche jemanden … und Bart scheint mich zu mögen …«

Mitleid für sie überwältigte mich, so daß ich kaum noch herausbekam, was ich eigentlich hatte sagen wollen, aber dann schaffte ich es doch. »Ich glaube nicht, daß es gut für Bart ist, wenn er Sie besucht, Madame. Wenn ich Sie wäre, würde ich versuchen, ihn davon abzuhalten. Er braucht Freunde in seinem eigenen Alter …« Und hier versagte mir die Stimme, denn wie sollte ich ihr sagen, daß sie zu alt für ihn war? Und zwei Großmütter, eine als Närrin in der Klapsmühle, die andere Ballettnärrin, das war wirklich mehr als genug.

Gleich am nächsten Tag erfuhren Bart und ich, daß Nicole in der letzten Nacht gestorben war und ihre kleine Tochter Cindy von nun an unsere Schwester sein würde. Mein Blick traf sich mit dem von Bart. Dad blickte starr auf seinen Teller, aber er aß nichts. Ich blickte überrascht auf, als ich ein kleines Kind schreien hörte. »Das ist Cindy«, meinte Dad, »eure Mutter und ich waren an Nicoles Bett, als sie starb. Mit ihren letzten Worten bat sie uns, sich um ihr Kind zu kümmern. Als ich darüber nachdachte, daß ich wohl auch erst in Frieden sterben könnte, wenn ich wüßte, daß ihr beiden Jungs ein gutes Zuhause ohne mich hättet … Na, also ich erlaubte eurer Mutter, Nicole das zu versprechen, was sie schon die ganze Zeit so gerne wollte.«

Mam kam in die Küche. Auf dem Arm trug sie ein kleines Mädchen mit blonden Ringellocken und großen blauen Augen, deren Farbe sehr der von Mammis Augen glichen. »Ist sie nicht hinreißend, Jory, Bart?« Sie küßte eine der runden, rosigen Wangen, während die großen blauen Augen sich einen nach dem anderen von uns ansahen. »Cindy ist genau zwei Jahre, zwei Monate und fünf Tage alt. Nicoles Vermieterin war ganz begeistert, endlich loszuwerden, was sie ›diese schwere Verantwortung‹ nannte.« Sie lächelte uns glücklich an. »Weißt du noch, wie du dir eine Schwester gewünscht hast, Jory? Ich mußte dir erzählen, daß ich keine Kinder mehr bekommen kann. Na, wie du jetzt siehst, hat Gott manchmal seine eigenen Wege in solchen Dingen. Das mit Nicole tut mir natürlich sehr weh. Sie hätte achtzig Jahre alt werden müssen. Aber ihr Rückgrat war gebrochen, und sie hatte schwere innere Verletzungen …«

Sie ließ den Rest ungesagt. Ich wußte, daß es furchtbar traurig war, wenn jemand so jung und hübsch wie die neunzehnjährige Nicole sterben mußte, damit wir die Schwester bekamen, die ich mir irgendwann mal halbherzig gewünscht hatte.

»War Nicole deine Patientin?« fragte ich Dad.

»Nein, Jory, das war sie nicht. Aber weil sie eine Freundin von uns war und die Schülerin deiner Mutter, hat man uns von ihrer aussichtslosen Lage berichtet. Man benachrichtigte uns auch, als es mit ihr zu Ende ging. Wir fuhren sofort ins Krankenhaus zu ihr. Ich nehme an, ihr habt beide nicht gemerkt, daß heute nacht um vier Uhr das Telefon geklingelt hat.«

Ich starrte meine neue Schwester an. Sie sah sehr hübsch aus in ihrem rosa Schlafanzug. Ihre weichen Locken ringelten sich niedlich um ihr Gesicht. Sie klammerte sich an meine Mutter, starrte zurück und versteckte dann den Kopf an ihrer Brust vor dem fremden Blick. »Bart«, sagte Mam mit ihrem süßesten Lächeln, »du warst genauso in diesem Alter. Du dachtest, wenn du dein Gesicht versteckst und uns nicht mehr siehst, dann könnten wir dich auch nicht sehen.«

»Bring sie weg hier!« schrie er und lief rot an im Gesicht vor Wut. »Bring sie weg! Leg sie zu ihrer Mutter ins Grab! Will nie eine Schwester haben. Ich hasse sie, ich hasse sie!«

Sprachloses Schweigen. Niemand konnte nach diesem Ausbruch etwas sagen. Daddy griff nach Bart, während Mam zu schockiert war, um Luft zu holen, als er versuchte, Cindy ins Gesicht zu schlagen! Dann kreischte Cindy, und Emma sah meinen Bruder ganz außer sich an.

»Bart, ich habe noch nie etwas so Gemeines und Grausames gehört, wie das, was du gerade gesagt hast«, erklärte Dad und hob Bart zu sich auf die Knie. Bart wand sich und strampelte und versuchte von Daddy freizukommen, aber das gelang ihm nicht. »Du gehst jetzt in dein Zimmer und bleibst da, bis du gelernt hast, Mitgefühl für andere Menschen aufzubringen. Wenn du an Cindys Stelle wärst, könntest du von Glück sagen, neue Eltern zu finden.«

Lautlos die Lippen bewegend stürmte Bart hinauf in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Daddy griff nach seinem schwarzen Arztkoffer und machte Anstalten, in die Praxis aufzubrechen. Er warf meiner Mutter einen strafenden Blick zu. »Begreifst du jetzt, warum ich dagegen war, Cindy zu adoptieren? Du weißt so gut wie ich, daß Bart schon immer eifersüchtig war. Ein Kind so niedlich wie Cindy wäre keine zwei Tage im Waisenhaus gewesen und es hätte sich ein kinderloses Ehepaar gefunden, das glücklich gewesen wäre, die Kleine zu bekommen.«

»Ja, Chris, du hast recht wie immer. Wenn Cindy erst unter Vormundschaft gekommen wäre, dann hätte sie bald jemand adoptiert – und du und ich, wir wären unser Leben lang ohne eine Tochter geblieben. Aber jetzt ist es so, daß ich ein kleines Mädchen habe, ein Mädchen, das mich so sehr an Carrie erinnert.«

Mein Vater verzog das Gesicht, als täte ihm etwas sehr weh.

Er ließ Mam mit Cindy auf dem Schoß vor dem Tisch sitzen, und zum ersten Mal, jedenfalls soweit ich mich erinnern konnte, gab er ihr keinen Abschiedskuß. Und sie rief ihm nicht nach: »Sei vorsichtig.«

Im Handumdrehen hatte Cindy mich um den Finger gewickelt. Sie krabbelte in allen Ecken herum, wollte alles anfassen und von allem etwas in den Mund stecken. Ein schönes warmes Gefühl stieg in mir auf, als ich zusehen und mithelfen durfte, ein kleines Mädchen so zu versorgen, zu lieben und zu verwöhnen. Die beiden zusammen sahen aus wie Mutter und Tochter. Beide trugen rosa Kleider, hatten rosa Schleifen im Haar, nur daß Cindy weiße Söckchen trug.

»Jory wird dir das Tanzen beibringen, wenn du alt genug bist.« Ich lächelte Mam zu, während ich zu meinem Ballettunterricht aufbrach. Mam sprang schnell auf und gab Cindy an Emma weiter, dann lief sie mir nach und holte das Auto aus unserer Garage, um mit mir zur Ballettschule zu fahren. »Jory, glaubst du nicht, daß Bart bald lernen wird, Cindy wenigstens ein kleines bißchen zu mögen?«

Ich wollte sagen, daß Bart genau dies nie lernen würde, aber ich nickte, weil ich sie nicht spüren lassen wollte, wie sehr ich mir um meinen Bruder Sorgen machte.

»Jory, was hast du da gerade vor dich hin gemurmelt?«

O Mensch, mir war gar nicht aufgefallen, daß ich gemurmelt hatte. »Nichts, Mam. Ich hab’ nur wiederholt, was Bart gestern nacht im Schlaf gemurmelt hat. Er weint manchmal im Schlaf, Mam. Er ruft nach dir und jammert, weil du mit deinem Geliebten fortgegangen bist.« Ich grinste und versuchte es auf die leichte Schulter zu nehmen. »Und ich wußte überhaupt nicht, daß du überhaupt einen hast.«

Sie ignorierte meine etwas anzügliche Bemerkung. »Jory, warum hast du mir nie davon erzählt, daß Bart Alpträume hat?«

Wie sollte ich ihr die Wahrheit erzählen? Sie war doch viel zu sehr mit Cindy beschäftigt, um sonst noch jemand genug Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Und niemals, niemals hätte sie jemand anderem mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen dürfen als Bart. Nicht einmal mir.

»Mammi, Mammi!« hörte ich Bart in dieser Nacht im Schlaf rufen. »Wo bist du? Laß mich nicht allein! Mammi, bitte verlaß mich nicht. Du darfst ihn nicht mehr liebhaben als mich. Ich bin nicht schlecht, wirklich nicht schlecht … kann nur manchmal nicht dafür, was ich immer anstelle. Mammi … Mammi!«

Nur Verrückte konnten nicht für das, was sie taten. Eine verrückte Person in unserer Familie war mehr als genug. Wir brauchten nicht noch einen Verrückten, der mit uns unter einem Dach lebte.

Also – war es wohl meine Sache, Bart vor sich selbst zu retten. Ich mußte das wieder geradebiegen, was sich bei ihm schon vor langer Zeit zu verdrehen begonnen hatte. Und weit hinten, hinter den dunkelsten Schatten meiner Erinnerung, waren jene vagen, beunruhigenden Bilder von etwas, das mich verängstigt hatte, als ich noch viel zu jung war, es zu begreifen. Zu jung, die Puzzleteile dieses schrecklichen Ereignisses richtig zusammenzufügen.

Das Schlimme war, ich hatte jetzt so lange über die Vergangenheit nachgegrübelt, daß sie langsam lebendig zu werden begann, und ich konnte mich jetzt wieder an einen Mann mit dunklen Haaren erinnern, einen Mann, der ganz anders aussah als Daddy Paul. Einen Mann, den Mam Bart Winslow genannt hatte – und das waren die beiden ersten Namen meines Halbbruders.

Dornen des Glücks

Подняться наверх