Читать книгу Dornen des Glücks - V.C. Andrews - Страница 12
Mein Herzenswunsch
ОглавлениеVerdorbenes kleines Mädchen, diese Cindy. Machte sich so gar nichts daraus, wer sie nackt sah. Kümmerte sich auch nicht, ob ihr jemand zusah, wenn sie auf dem Töpfchen saß. Machte sich nichts daraus, ob sie sauber und anständig war. Nahm meine Spielzeugautos und kaute einfach darauf rum.
War nicht mehr viel los mit diesem Sommer. Hatte nichts zu tun. Konnte nirgendwohin gehen, außer nach nebenan. Die alte Lady versprach mir immer das Pony, aber es tauchte nie auf. An der Nase führte sie mich herum, zum Narren hielt sie mich. Würde es ihr schon zeigen. Sollte sie doch wieder ganz alleine da drüben sitzen, würde sie nicht mehr besuchen. Zur Strafe. Letzte Nacht hörte ich, wie Mammi Daddy erzählte, daß sie die alte Lady in Schwarz auf einer Leiter an der Mauer hätte stehen sehen. »Und sie starrte zu mir herüber, Chris. Sie starrte richtig das Haus an!«
Daddy lachte. »Wirklich, Cathy, was kann das schon schaden? Sie ist eine Fremde in einer fremden Umgebung. Wäre es nicht eine freundliche Geste gewesen, wenn du ihr zugewinkt und ›Guten Tag‹ gesagt hättest – du hättest dich vielleicht auch vorstellen können?« Ich kicherte lautlos. Großmutter hätte doch nie geantwortet. Bei Fremden war sie ganz schüchtern, nur bei mir nicht. Ich war der einzige, dem sie vertraute.
Nachdem ich es Cindy wieder einmal einen Tag lang richtig gezeigt hatte, durfte ich zur Strafe fast nirgendwo mehr hingehen. Aber ich war schlau, schlich mich aus dem Haus und, husch, husch, über die Mauer nach nebenan, wo die Leute mich mochten.
»Wo ist mein Pony!« wetterte ich, als ich sah, daß die Scheune noch immer leer war. »Du hast mir ein Pony versprochen – wenn du mir nicht bald eins gibst, dann erzähl’ ich Mammi und Daddy, daß du mich ihnen wegnehmen willst!«
Sie schien unter ihrer häßlichen schwarzen Robe richtig zusammenzuschrumpfen, während ihre bleichen, dünnen Hände an ihren Hals flogen, wo sie eine Perlenkette, die sonst meist unter dem Kleid versteckt war, herauszerrten und kneteten.
»Morgen, Bart. Morgen wird dir dein Herzenswunsch erfüllt.«
Auf dem Heimweg traf ich John Amos. Er führte mich in sein geheimes Schlupfloch und flüsterte mir etwas von »Männersachen« zu. »Frauen wie sie sind reich geboren und haben nie nötig gehabt, ihr Hirn anzustrengen«, sagte John Amos, die wäßrigen Augen hart und zusammengekniffen. »Hör auf mich, Junge, und verlieb dich nie in eine dumme Frau. Und alle Frauen sind dumm. Wenn du mit Frauen umgehst, dann mußt du sie gleich von Anfang an wissen lassen, wer der Boß ist – und sie dürfen das nie wieder vergessen. So, jetzt zu deiner täglichen Lektion. Wer ist Malcolm Neal Foxworth?«
»Mein Urgroßvater, der tot und begraben ist, aber selbst jetzt noch mächtig«, antwortete ich, ohne es richtig zu verstehen, als ich es sagte.
»Was war Malcolm Neal Foxworth noch?«
»Ein Heiliger. Ein Heiliger, der einen Ehrenplatz im Himmel verdient hat.«
»Richtig. Aber erzähl alles, laß nichts aus.«
»Niemals gab es einen klügeren Mann als Malcolm Neal Foxworth.«
»Das ist nicht alles, was ich dich gelehrt habe. Wenn du das Tagebuch liest, solltest du mehr über ihn wissen. Liest du täglich darin? Er vertraute sein ganzes Leben diesem Buch an. Ich habe es ein dutzend Mal und mehr gelesen. Es zu lesen heißt, zu lernen und daran zu wachsen. Deshalb hör niemals auf, im Tagebuch deines Urgroßvaters zu lesen, bis du genau so clever und klug bist wie er.«
»Ist clever nicht das gleiche wie klug?«
»Nein, natürlich nicht! Clever ist, wenn du die Leute nicht ahnen läßt, wie klug du bist.«
»Warum mochte Malcolm seine Mammi nicht?« fragte ich, denn auch wenn ich wußte, daß seine Mutter weggelaufen war – würde mich das meine Mutter etwa hassen lassen?
»Großer Gott, Junge, Malcolm war ganz verrückt nach seiner Mutter, bis sie mit ihrem Geliebten durchbrannte und Malcolm mit seinem Vater alleine ließ, der zu beschäftigt war, um sich um seinen Sohn zu kümmern. Wenn du weiter liest, Junge, wirst du schon bald herausfinden, weshalb Malcolm bald gegen alle Frauen eingestellt war. Lies weiter und vertiefe dein Wissen. So wird Malcolms Weisheit zu deiner eigenen werden. Er wird dich lehren, niemals einer Frau zu vertrauen und zu glauben, sie wäre da, wenn man sie wirklich braucht.«
»Aber meine Mammi ist eine gute Mammi«, verteidigte ich sie schwach, auch wenn ich mir nicht mehr sehr sicher war, ob das stimmte. Das Leben war so »hinterhältig«. Das neue Wort für den heutigen Tag lautete »hinterhältig«.
»Also, Bart«, hatte Daddy heute morgen erklärt, als er das Wort sorgfältig geschrieben und verdeutlicht hatte, was es hieß. »Ich will, daß ihr, du und Jory, es heute schafft, das Wort ›hinterhältig‹ mindestens fünfmal im Gespräch zu verwenden. Es bedeutet, daß etwas mit böser Absicht nicht so ist, wie es scheint.«
Sagte mir das Wort immer leise auf. Kein schönes Gefühl, in einer hinterhältigen Welt zu leben. Diese verdammten neuen Lernworte brachten mir erst richtig bei, wie hinterhältig alle sein konnten.
»Ich werde dich jetzt allein lassen, damit du noch mehr von Malcolms Erkenntnissen lesen kannst«, meinte John Amos und schlurfte davon, wie immer mit leicht zitterndem Oberkörper und hin und her pendelndem Kopf.
Ich öffnete das Buch auf der Seite, wo ich das lederne Lesezeichen eingelegt hatte.
Heute wollte ich einfach einmal ein bißchen von Vaters Tabak probieren, deshalb stopfte ich von dem, was ich in seinem Arbeitszimmer fand, etwas in seine Pfeife, schlich mich dann damit nach draußen und rauchte hinter der Garage.
Ich weiß nicht, wie er dahintergekommen ist – es sei denn, jemand vom Personal hat es ihm erzählt. Er wußte es jedenfalls. Seine harten Augen funkelten mich an und er befahl mir, mich nackt auszuziehen. Ich duckte mich und schrie, als er mich mit der Rute auspeitschte, und dann schickte er mich auf den Dachboden, damit ich dort blieb, bis ich die Wege des Herrn verstand und meine Sünden bereute. Während ich dort oben war, fand ich alte Fotografien von meiner Mutter, als sie ein junges Mädchen war. Wie schön sie war, so unschuldig und süß. Ich haßte sie! Ich wünschte mir, daß sie noch im gleichen Augenblick starb, wo immer auf der Welt sie gerade sein mochte. Ich wollte, daß sie genauso zu leiden hatte wie ich, mit blutigen Striemen auf dem Rücken, während ich in der stickigen Hitze des Dachbodens fast erstickte.
Ich fand solche Sachen auf dem Dachboden, Korsetts mit Spitzen, die so geschnürt wurden, daß eine Frau vorne anschwoll, um den Männern vorzutäuschen, sie hätte mehr zu bieten, als die Natur ihr mitgegeben hatte. Es war Schönheit, wegen der ich auf diesem Dachboden saß, und Schönheit war es auch gewesen, wegen der ich den Stock bekommen hatte. Eigentlich war es nicht die Schuld meines Vaters, daß er das getan hatte. Er war verletzt und verzweifelt, genau wie ich auch.
Ich wußte jetzt, daß es stimmte, was er mir die ganze Zeit erzählt hatte: Man durfte keiner Frau trauen und ganz besonders nicht solchen mit schönen Gesichtern und verführerischen Körpern.
Ich blickte vom Buch auf, aber ich sah nicht die Scheune mit dem Heu vor mir, sondern das dunkle, schöne Gesicht meiner Mutter. War sie hinterhältig? Würde sie eines Tages mit ihrem Liebhaber davonlaufen und mich mit meinem Stiefvater allein lassen, der mich viel weniger lieb hatte als Jory und Cindy?
Was sollte ich dann tun? Würde meine Großmutter mich bei sich aufnehmen?
Später fragte ich sie danach. »Ja, mein Schatz, ich werde dich bei mir aufnehmen. Ich werde mich um dich kümmern, für dich kämpfen, alles für dich tun, was ich kann, denn du bist der wahre Sohn meines zweiten Mannes, Bart Winslow. Hab’ ich dir das eigentlich schon erzählt? Vertraue mir, glaub an mich und halte dich von diesem John Amos fern. Er ist nicht die Art von Freund, die du haben solltest.«
Sohn ihres zweiten Mannes. Hieß das, meine Mammi war mit diesem Mann auch noch verheiratet gewesen? Sie schien ständig irgend jemand gerade geheiratet zu haben. Ich schloß die Augen und dachte über Malcolm nach, der schon lange in seinem Grab liegen mußte. Schaukel, schaukel, schaukel machte ihr Stuhl. Knirsch, knirsch, knirsch machte die Erde auf meinem Grab. Alles dunkel. Feucht. Steif und kalt. Der Himmel … wo war der Himmel?
»Bart, deine Augen sind ganz glasig.«
»Müde, Großmutter, bin so müde.«
»Bald geht dein Herzenswunsch in Erfüllung.« Geld, wollte Geld, viele Bündel grüner Scheine. In diesem Augenblick hämmerte jemand an die Vordertür. Ich sprang von ihrem Schoß und versteckte mich schnell.
Jory kam hereingerannt, gefolgt von John Amos, der ihn wohl hereingelassen hatte. »Wo ist mein Bruder?« fragte er und sah sich im Zimmer um. »Ich mag nicht, was hier mit ihm geschieht. Er hat sich in der letzten Zeit sehr verändert, und ich habe den Eindruck, das hängt mit seinen Besuchen hier zusammen …«
»Jory«, sagte meine Großmutter und streckte ihre Hand mit den funkelnden, juwelenberingten Fingern aus. »Starr mich nicht so an. Ich tu’ ihm doch nichts Böses. Ich gebe ihm nur ein wenig Eiscreme, aber nur nach den Mahlzeiten. Setz dich her und rede ein wenig mit mir. Ich lasse uns ein paar Erfrischungen bringen.« Er ignorierte sie völlig und machte mich mit der Nase eines Bluthundes in meinem Versteck aus. Mit einem Satz war er bei mir und zerrte mich hinter den Topfpalmen hervor. »Nein, vielen Dank, Lady«, sagte er kalt. »Meine Mutter gibt mir alles, was ich brauche – was sie hier drüben mit meinem Bruder machen, verändert seinen Charakter, also lassen Sie ihn bitte nicht mehr zu Ihnen kommen.«
Ihre kaum sichtbaren Lippen preßten sich zusammen, und ich sah Tränen in ihren Augenwinkeln, als ich fortgezerrt wurde. Zurück in unserem Garten schüttelte Jory mich wild. »Geh niemals wieder in dieses Haus, Bart Sheffield! Sie ist nicht deine Großmutter! Du schaust sie mit Blicken an, als hättest du sie lieber als unsere Mam!«
Es gab welche, die behaupteten, Bart Winslow Scott Sheffield wäre nicht so groß wie andere Jungs mit neun. Aber ich wußte genau, sobald ich zehn würde, da würde ich in die Höhe schießen wie Unkraut nach dem Regen. Sobald ich erst wieder in Disneyland gewesen war, bekäme ich solchen Auftrieb, daß ich so groß werden würde wie ein Riese.
»Warum siehst du so traurig aus, Liebling?« fragte Großmutter, als ich mich am nächsten Tag wieder auf ihren Schoß gekuschelt hatte. Das Pony war noch immer nicht da.
»Ich komm’ jetzt überhaupt nie wieder zu dir«, erklärte ich knurrig. »Daddy wird mir ein Pony zum Geburtstag schenken, wenn ich ihm noch einmal richtig sage, wie sehr ich eines haben möchte. Brauche deines dann nicht mehr.«
»Bart, du hast doch deinen Eltern nichts von mir erzählt?«
»Nein, Großmutter.«
»Wenn du lügst, wird Gott dich strafen.«
Würde er das? Wieso eigentlich? Die andern logen doch auch alle. »Erzähle niemals irgend etwas«, murmelte ich. »Mammi und Daddy mögen mich sowieso nicht mehr. Sie haben Jory. Jetzt haben sie auch noch Cindy dazu. Das reicht ihnen.«
Sie warf einen schnellen Blick umher und vergewisserte sich besonders, daß alle Türen fest geschlossen waren. Dann flüsterte sie: »Bart, ich habe dich mit John reden sehen. Ich habe dich gebeten, dich von ihm fernzuhalten. Er ist ein böser alter Mann, der sehr grausam sein kann. Denk immer daran.«
Mensch, wem sollte ich nun eigentlich trauen? Er sagte von ihr ja dasselbe. Früher mal hatte ich geglaubt, man könne jedem in meiner Familie trauen. Nun mußte ich erkennen, daß die Leute nicht immer das waren, was sie oberflächlich besehen zu sein schienen. Liebten einen gar nicht wirklich, kümmerten sich nie genug um einen, besonders wenn ich derjenige war. Vielleicht war es nur die Großmutter, die sich echt um mich kümmerte – und John Amos. Dann fühlte ich mich wieder verwirrt. War John Amos nun ein richtiger Freund? Wenn er das war, dann konnte meine Großmutter es nicht sein. Mußte wählen zwischen ihnen. Aber welchen? Wie konnte ich eine so große, schwere Entscheidung treffen? Dann, als Großmutter mich in ihrem Arm hielt und mein Gesicht an ihren warmen, weichen Busen zog, wußte ich, sie war diejenige, die mich am meisten liebte. Sie war meine eigene, einzig echte Großmutter.
Aber … was, wenn sie es nun doch nicht war?
Meine Großmutter hatte ich schon Dutzende oder mehr Male gesehen. John Amos war erst seit wenigen Tagen mein Freund. Wenn er siebenmal hintereinander auf mich warten würde, dann hieß das vielleicht, daß er gut für mich war und mir Glück brachte. Siebenmal bedeutete bei allem Glück. Fünf Gespräche mit ihm an seinem unheimlichen Versteck hatten mich schon gelehrt, daß Frauen verlogen und hinterhältig waren.
»Bart, mein Liebling«, flüsterte meine Omi und drückte mir ihre trockenen Lippen dicht unter meinem Ohr auf die Wange. »Schau nicht so verängstigt drein, halt dich einfach von diesem John Amos fern und glaube nicht alles, was er dir erzählt.« Sie streichelte mir das Gesicht, dann spürte ich ihr Lächeln. »So, wenn du jetzt in die Scheune läufst und dich umsiehst, dann wirst du etwas finden, das jeden Jungen begeistern muß, und alle Kinder, die so etwas nicht haben, werden dich beneiden.«
Sie wollte noch etwas sagen, aber ich sprang von ihrem Schoß, rannte aus dem Zimmer, rannte so schnell ich konnte direkt zur Scheune. O Mann, jeden Tag trug ich einen Apfel in der Tasche und hoffte einfach darauf. Jeden Tag steckte ich hoffnungsvoll ein paar von Mammis Zuckerstücken ein. Jede Nacht betete ich um das Pony, das ich haben mußte. Dieses Pony würde mich mehr lieben, als irgend jemand sonst mich liebte! Ich rannte zur Scheune und fiel unterwegs kein einziges Mal hin. Dann stand ich wie festgenagelt und starrte. Das war kein Pony!
Es war nur ein Hund. Ein großer, langhaariger Hund stand da und wedelte mit dem Schwanz, und seine Augen sahen mich bereits hingebungsvoll an, obwohl ich doch noch gar nichts getan hatte, um mir seine Liebe zu erobern. Mir war zum Weinen. Der Hund trug ein Halsband und war an einen Pfahl gekettet, der in den Scheunenboden gerammt war. Er sprang hin und her, als wäre er richtig glücklich, mich zu sehen – und ich mochte diesen Hund überhaupt nicht.
Hinter mir kam sie angerannt, ganz atemlos und keuchend. »Bart, mein Schatz, sei nicht enttäuscht. Ich hätte dir wirklich gerne ein Pony geschenkt, wie ich es dir gesagt habe. Aber wenn ich das täte, kämst du mit Pferdegeruch nach Hause, und Jory und deine Eltern fänden schnell alles heraus, und dann würden sie dich nie wieder zu mir kommen lassen.«
Ich sank auf die Knie und ließ den Kopf hängen. Ich wollte sterben. Ich hatte alles über mich ergehen lassen, all diese Küsse und Streicheleien ausgehalten … und trotzdem hatte sie mir kein Pony geschenkt. »Du hast mich angelogen.« Ich schluchzte mit Tränen in den Augen. »Deinetwegen habe ich meine ganzen Ferientage mit Besuchen hier verschwendet, wo ich doch etwas viel Besseres hätte tun können.«
»Bart, mein Schatz, du weißt ja gar nicht, was ein Bernhardiner für ein tolles Tier ist!« rief sie und nahm mich auf den Arm. »Dieser Hund ist noch gar nicht ausgewachsen. Er ist erst wenige Monate alt, und sieh mal, wie groß er schon ist. Später wird er so groß sein wie ein Pony. Du kannst ihm einen Sattel überlegen und auf ihm herumreiten. Und wußtest du, daß man diese Hunde in den Bergen dafür einsetzt, Vermißte im Schnee zu suchen? Solche Hunde tragen ein Fäßchen mit Branntwein um den Hals, und so ein Hund wie dieser hier kann ganz alleine einen Vermißten finden und ihm das Leben retten. Der Bernhardiner ist der berühmteste und tapferste Hund der Welt.«
Ich glaubte ihr nicht. Trotzdem sah ich mir den jungen Hund etwas genauer an – war das wirklich noch ein Welpe? Er zerrte an seiner Leine und versuchte, zu mir zu kommen. Deswegen mochte ich ihn gleich ein wenig mehr. »Wird er wirklich einmal so groß wie ein Pony?«
»Bart, er ist erst 6 Monate alt und schon jetzt fast so groß wie ein Zwergpony!« lachte sie, nahm mich bei der Hand und zog mich in die Scheune. »Schau mal«, sagte sie und deutete auf einen roten Sattel mit Zaumzeug und Zügel, und danach zeigte sie mir einen kleinen, roten zweirädrigen Karren. »Du kannst ihn reiten oder ihn vor seine Kutsche spannen – so hast du einen Hund oder ein Pony, was immer du gerade haben möchtest. Alles was du brauchst, ist deine Phantasie, und von der hast du ja genug.«
»Wird er mich beißen?«
»Nein, natürlich nicht. Sieh ihn dir an, Liebling, wie glücklich er ist, seinen kleinen Herrn zu sehen. Halt ihm deine Hand hin und laß ihn daran schnuppern. Behandle ihn freundlich, füttere ihn gut und halte seine langen Haare sauber, dann wirst du nicht nur den schönsten Hund der Welt haben, sondern auch den besten Freund deines Lebens.«
Vorsichtig näherte ich mich ihm mit meiner Hand, ganz langsam – und er leckte daran wie an einem Eis. Feuchte Küsse. Ich lachte, weil sie so kitzelten. »Geh weg, Großmutter«, befahl ich.
Widerwillig zog sie sich zurück, während ich mich vor meinem Pony niederkniete, damit ich ihm erklären konnte, was es war. »Also jetzt sieh mich an«, sagte ich fest, »und vergiß nicht, was ich dir sage: Du bist kein Hund, sondern ein Pony. Du bist nicht dazu da, Fässer voll Branntwein zu Leuten zu tragen, die in Lawinen verschüttet sind – du bist nur dazu da, mich zu tragen. Du bist mein Pony, ganz alleine meines!« Er sah mich an, als wäre er erstaunt, legte dabei seinen großen, zottligen Kopf auf die Seite und setzte sich auf die Hinterbeine. »Du sollst nicht so sitzen!« schrie ich. »Ponys sitzen nicht so auf den Hinterbeinen, sondern nur Hunde!«
»Bart«, hörte ich die weiche Stimme meiner Großmutter, »sei freundlich zu ihm, denk daran.«
Ich achtete nicht auf sie. Frauen zählten nicht bei Männersachen wie dieser hier. John Amos hatte mir das erklärt. Die Männer beherrschten die Welt, und die Frauen hatten sich herauszuhalten und schön still zu sein.
Ich mußte eine Zauberformel sprechen, um einen Welpen in ein Pony zu verwandeln. Die bösen Hexen auf der Bühne wußten immer genau, wie man das machte. Ich überlegte und überlegte, erinnerte mich an jede einzelne Hexe, die ich je bei einer Ballettaufführung gesehen hatte, und schließlich dachte ich, ich wüßte genau, was zu tun war.
Brauchte eine lange, krumme Nase und ein vorspringendes, spitzes Kinn, ganz tiefliegende, böse Augen und lange Knochenfinger mit Nägeln, die mindestens fünf Zentimeter waren. Aber das einzig Brauchbare, was ich hatte, waren böse, schwarze, stechende Augen – vielleicht reichte das. Wußte jedenfalls, wie man richtig böse Augen macht.
Ich warf die Arme über den Kopf, krümmte meine Finger zu schrecklichen Klauen, zog die Schultern hoch und hexte los: »Ichhh taufe dichhhh Apple! Mit diesem Zauberapfel, den ich dir gebe, und mit diesem Hexenspruch verwandle ich dich in ein Pony.« Ich gab ihm den magischen Zauberapfel. »Jetzt gehörst du mir, ganz allein mir! Niemals wirst du fressen oder trinken, wenn ich dir nicht dein Futter und dein Wasser gebe. Niemals wirst du jemanden anderes lieben als mich. Wenn ich sterbe, dann kommst du zu mir und stirbst mit mir. Apple, du bist mein! Jetzt und immer … mein!“
Die Macht meines Zauberspruches ließ Apple an der Frucht schnuppern, die ich ihm reichte. Er winselte unglücklich und wandte die Nase ab, interessierte sich offenbar für den Zucker, den ich mir aber noch für später aufhob. »So, jammer hier nicht rum und iß, was du zu essen bekommst«, schimpfte ich und biß selbst in den Apfel, um ihm zu zeigen, wie man so etwas aß. Wieder streckte ich meinem Pony den Apfel entgegen. Wieder wandte es seinen riesigen, weißen und goldenen Kopf zur Seite. An seinem Fell schimmerte es an vielen Stellen rotgolden. Sah richtig hübsch aus. Ich biß noch einmal in den Apfel und kaute genüßlich, damit Apple sah, was für leckeres Fressen ihm gerade entging.
»Bart«, rief die Großmutter mit einer irgendwie komischen Stimme, »vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Ich werde den Hund zurück in die Tierhandlung bringen und dir das Pony kaufen, das du haben möchtest.«
Ich sah von ihr zu meinem neuen Freund hinüber, dann zu unserem Haus und überlegte. Sie würden bei uns drüben wirklich den Pferdegeruch riechen, wenn Ponys nach Pferden stanken. Aber Hundegeruch wäre gar nichts Besonderes. Sie würden einfach glauben, daß Clover schließlich doch etwas Vertrauen zu mir gefaßt hätte – obwohl er mich ja nie in seine Nähe ließ. »Großmutter, ich werde dieses Hunde-Pony hier behalten. Ich werde ihm alles beibringen, was es wissen muß, um Pferd zu spielen. Wenn er nicht genug gelernt hat, bevor wir nach Disneyland fahren, kannst du ihn zurückbringen – und dann werde ich dich nicht wieder besuchen kommen.«
Lachend und glücklich warf ich mich dann ins Heu und schmuste mit meinem Hunde-Pony, dem einzigen Hunde-Pony auf der ganzen Welt. Und sein großer, warmer Körper fühlte sich schön an in meinen Armen, richtig gut.
Als ich sie dann ansah, wußte ich, daß John Amos nicht recht hatte. Frauen waren nicht böse und verdorben, und ich war richtig erleichtert, am Ende herausgefunden zu haben, daß es John Amos war, der hinterhältig sein mußte, und Mammy und meine Großmutter waren das Beste in meinem ganzen Leben – direkt nach Apple.
»Großmutter, bist du wirklich meine richtige Großmutter und war mein richtiger Daddy wirklich dein zweiter Mann?«
»Ja, das ist wirklich so«, sagte sie mit gesenktem Kopf, »aber es ist ein Geheimnis. Nur wir beide dürfen davon wissen. Du mußt mir versprechen, niemandem davon zu erzählen.« Sie schien den Kopf hängen zu lassen, sah richtig traurig aus, aber ich war so glücklich, daß ich hätte platzen können. Ein Hunde-Pony und eine richtige Großmutter, die mit meinem wirklichen Vater verheiratet gewesen war. O Mann, endlich hatte ich auch einmal Glück.
Bald fand ich heraus, daß Fressen und Liebe sehr viel miteinander zu tun haben. Je mehr Futter ich Apple gab, desto mehr liebte er mich. Und ganz ohne die Hilfe weiterer Zaubersprüche blieb er mein, mein Freund allein. Wenn ich morgens zu ihm kam, lief er mir entgegen, sprang hoch, umkreiste mich schwanzwedelnd und leckte mir Gesicht und Hände. Als ich ihn vor die neue Pony-Kutsche spannte, bäumte er sich auf wie ein richtiges Pferd. Er versuchte alles, um sich den kleinen Sattel abzustreifen, den ich ihm auf den Rücken gebunden hatte. Junge, die sollten bloß warten, bis ich Jory mal eine Ladung von meinen Zaubersprüchen verpaßte, die so gut wirkten.
»Bin bald elf«, sagte ich der Großmutter eines Tages in der Hoffnung, daß es sie auf ein paar neue Geschenkideen bringen könnte. »Zehn«, verbesserte sie. »An deinem nächsten Geburtstag wirst du zehn.«
»Elf!« rief ich entschieden. »Ich bin doch schon das ganze Jahr dabei, zehn zu werden. Inzwischen muß ich mindestens elf sein.«
»Bart, du solltest dir nicht wünschen, daß dein Leben so schnell vergeht. Die Zeit vergeht auch so schnell genug. Sei froh, jung zu sein, und bleibe es, solange du kannst.«
Ich streichelte weiter Apples Kopf. »Oma, erzähl mir etwas von deinen kleinen Jungen.«
Sie sah wieder traurig aus. Am Gesicht merkte ich es nicht, denn das sah ich ja nicht richtig, aber ich erkannte es immer daran, wie sie die Schultern hängen ließ. »Der eine ist im Himmel«, flüsterte sie heiser, »der andere ist weggelaufen.«
»Wo ist der andere denn hin?« fragte ich und dachte mir, daß ich vielleicht auch dahin gehen wollte.
»Nach Süden«, sagte sie einfach und ließ auch noch den Kopf hängen.
»Ich geh’ auch nach Süden. Aber mir gefällt es da nie – ist alles voll oller Gräber und oller Großmütter. Eine ist in eine Klapsmühle gesperrt. Die andere 1st eine böse alte Hexe mit ganz schwarzen Augen. Du bist meine beste Großmutter.« Denn jetzt wußte ich, daß sie auf keinen Fall Daddys verrückte Mutter sein konnte. Sie mußte die Mutter meines richtigen Vaters sein. Und Frauen änderten ihren Namen, wenn sie ihre Männer wechselten, also … und da fiel mir auf, daß ich nicht einmal ihren Vornamen oder ihren Nachnamen kannte. »Corinna Winslow«, erzählte sie mir, als ich sie fragte. Dabei war ihr Kopf noch immer traurig gesenkt. Ich konnte ein wenig von ihrem Gesicht sehen, wo die Nase den schwarzen Schleier vom Gesicht hob. Auch von ihrem Haar war ein bißchen zu sehen. Graues Haar mit Strähnen von schimmerndem Gold, weißes Haar. Sie tat mir leid. Sie würde wirklich darunter leiden, wenn ich fortführe.
»Fahr jetzt bald nach Disneyland, Großmutter. Da bleibe ich dann eine Woche und habe eine Geburtstagsfeier, auf der ich noch viel mehr Geschenke bekomme von Daddy, Mammi, Jory und Emma, und dann fliegen wir alle nach Osten und bleiben da zwei ekelhafte Wochen, bloß um …«
»Ich weiß«, unterbrach sie mich mit einem Lächeln in ihrer Stimme, »zwei vergeudete Wochen bei ollen Gräbern und ollen Großmüttern. Aber es wird bestimmt eine schöne Zeit werden.« Sie beugte sich über mich, küßte mich und drückte mich fest. »Und während du fort bist, werde ich gut für Apple sorgen.«
»Nein!« schrie ich entsetzt, denn dann würde Apple sie bestimmt mehr lieben als mich, wenn ich zurückkam. »Du läßt mein Hunde-Pony in Ruhe. Apple gehört nur mir. Füttere ihn ja nicht und mach, daß er dich mehr liebt als mich.«
Sie versprach, alles so zu tun, wie ich es wollte. Als nächstes erklärte ich ihr, daß ich vor hatte, nur nach Disneyland zu fahren, und danach würde ich einen Weg finden, mich abzusetzen, damit ich zurück hierher zu Apple kommen konnte. Wie ich das schaffen würde, wußte ich noch nicht so richtig – und aus ihrem Blick sah man deutlich, daß sie auch keine gute Idee dazu hatte.
Später war ich mit Apple in der Scheune. John Amos ragte groß und hager vor mir auf, während ich auf dem Heu ausgestreckt lag. Er unterrichtete mich wieder darin, wie böse Frauen waren und wie sie die Männer zur »Sünde« verführten.
»Niemand tut etwas umsonst«, sagte er. »Denkst du denn keine Sekunde daran, welche bösen Pläne sie mit dir hat, Bart Winslow?«
»Warum nennen Sie mich so?«
»Es ist doch dein richtiger Name, oder nicht?«
Ich grinste und war richtig stolz darauf, ihm erzählen zu können, daß ich den längsten Namen der Welt hatte.
»Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte er ungeduldig. »Paß genau auf, Junge. Du hast mich gestern nach ›Sünde‹ gefragt, und ich wollte es dir genau erklären, aber ich mußte mir erst einmal sorgfältig überlegen, wie. Sünde ist, was Männer und Frauen zusammen tun, wenn sie ihre Schlafzimmertür hinter sich schließen.«
»Und was ist so schlecht an Sünde?«
Er runzelte die Stirn und leckte die Zähne. Ich kroch tiefer ins Heu. Wünschte mir, er wäre weg und ließe mich mit Apple allein.
»Sünde ist, was die Frauen benutzen, um einen Mann schwach zu machen. Es gibt bestimmte Tatsachen über das Leben, die du einfach lernen mußt. Jeder Mann hat eine schwache, weiche Stelle, und Frauen wissen, wie man sie findet und sich zunutze macht, indem sie ihre Kleider ausziehen und dem Mann mit Hilfe der Fleischeslust seine Stärke aussaugen. Achte auf deine eigene Mutter, sieh dir an, wie sie deinen Vater anlächelt, wie sie ihr Gesicht und ihre Nägel bemalt und enge Kleider trägt, und beobachte, wie die Augen deines Stiefvaters dann aufleuchten – beide sind sie dabei zu sündigen, wenn du das siehst.«
Ich schluckte. Tat mir irgendwie weh, so etwas zu hören. Wollte nicht, daß meine Eltern böse Sachen machten, für die Gott sie bestrafen mußte.
»Hör noch einmal, was Malcolm geschrieben hat: ›Ich weinte und weinte fünf Jahre lang, nachdem meine Mutter fortgegangen war und mich bei meinem Vater zurückließ, der mich dafür haßte, daß ich ihr Sohn war. Er erzählte mir, daß sie während der ganzen Ehe mit ihm untreu war und ihn mit vielen Liebhabern betrogen hatte. Deshalb könnte er mich nicht wie ein Vater lieben. Konnte es nicht einmal ertragen, wenn ich in seiner Nähe war. Es war sehr einsam, so in diesem großen Haus eingeschlossen zu leben, ohne daß sich jemand richtig um einen kümmerte. Wieder und wieder erzählte Vater mir, er könne meinetwegen keine andere Frau mehr finden. Keine seiner Freundinnen mochte mich. Aber sie hatten Angst vor mir. Bei Gott, ich ließ sie wissen, was ich von ihnen dachte. Ich wußte, daß sie in den ewigen Höllenfeuern schmoren würden.«
»Was ist ein Verhältnis?« fragte ich. Manchmal war Malcolm richtig langweilig.
»Der direkteste Weg in die ewige Verdammnis.« Seine Augen brannten sich in mein Gesicht. »Und ich glaube nicht, daß du einfach in Ferien fahren und die Pflege von Apple jemand anderem überlassen kannst. Wenn du die Liebe eines Tieres annimmst, dann bist du das ganze Leben dieses Tieres lang dafür verantwortlich. Du fütterst es, gibst ihm Wasser, streichelst es und dressierst es – oder Gott wird dich für deine Nachlässigkeit strafen!«
Mich schauderte und ich sah mir mein Hunde-Pony an, das mit dem Schwanz wedelte.
»Du hast Macht in deinen dunklen Augen, Bart. Die gleiche Macht, die auch Malcolm besaß. Gott hat dich gesandt, um eine unerfüllte Aufgabe zu vollenden. Malcolm wird niemals Ruhe in seinem Grab finden, bevor die Satansbrut nicht in den ewigen Feuern der Hölle schmort!«
»Feuern der Hölle«, wiederholte ich gelangweilt.
»Zwei sind schon dort … drei müssen noch hinab.«
»Drei müssen noch hinab.«
»Die Brut des Satans vermehrt sich sonst weiter und weiter.«
»Weiter und weiter.«
»Und wenn du deine Pflicht erfüllt hast, findet Malcolm endlich Ruhe in seinem Grab.«
»Ruhe in meinem Grab.«
»Was hast du da gesagt?«
Ich war verwirrt. Manchmal tat ich so, als ob ich Malcolm war. John Amos lächelte aus irgendeinem Grund und schien zufrieden. Ich durfte dann nach Hause gehen.
Jory kam angelaufen, um mich auszufragen. »Wo bist du gewesen? Was machst du immer da drüben? Ich habe dich mit diesem alten Butler reden sehen. Was erzählt er dir?«
Er gab mir ein Gefühl, als sei ich eine Maus, die vor einem Löwen steht. Dann erinnerte ich mich an Malcolms Buch und wie er mit so einer Situation fertig geworden wäre. Ich setzte ein kaltes Gesicht auf. »John Amos und ich haben Geheimnisse, die dich nicht das geringste angehen.«
Jory starrte mich an. ich ließ ihn stehen und marschierte weiter.
Unter einem großen Baum schaukelte Mammi Cindy in ihrer Babyschaukel. So blöde kleine Mädchen mußten extra an der Schaukel festgebunden werden, damit sie nicht runterfielen. »Bart«, rief sie, »wo bist du gewesen?«
»Nirgends!« fuhr ich sie an.
»Bart, ich mag solche frechen Antworten nicht.«
Ich blieb stehen und entschloß mich, es wie Malcolm zu machen, und sie mit meinem bösen Blick zur Schnecke zu machen – statt dessen mußte ich zu meiner Überraschung entdecken, daß sie eine enge blaue Bluse trug, die ihr nicht ganz bis zu den weißen Shorts reichte, so daß man ihren Bauchnabel sah. Sie zeigte ihre nackte Haut! Nackte Haut bedeutete Sünde. In der Bibel hatte der Herr Adam und Eva befohlen, sich Kleider anzuziehen und damit ihr sündiges Fleisch zu verhüllen. War meine Mammi genauso sündig wie diese böse Corinna, die mit ihrem »Verhältnis« fortgelaufen war?
»Bart, starr mich nicht so an, als würdest du mich nicht kennen.«
Plötzlich kam mir ein Bibelwort in den Sinn, das John Amos immer aufsagte. Stückchen für Stückchen lernte ich, was Gott von den Menschen erwartete, die er erschaffen hatte. »Sei gewarnt, Mammi, der Herr sieht, was ich nicht sehe, und ER wird dich strafen.«
Mammi zuckte richtig zusammen. Dann schluckte sie und fragte mit rauher Stimme: »Warum hast du das gesagt?« Sieh nur, wie sie zittert, dachte ich mir. Ich wandte den Kopf und ließ meinen Blick über all die nackten Statuen in diesem bösen Garten der Sünde wandern. Verdorbene nackte Menschen waren es, die Malcolm keine Ruhe in seinem Grab finden ließen.
Aber ich liebte sie. Sie war meine Mutter. Manchmal kam sie abends und gab mir einen Gutenachtkuß und blieb bei mir, um mein Nachtgebet mit mir zu sprechen. Bevor Cindy kam, verbrachte sie viel Zeit bei mir. Sie schien auch nicht in ein »Verhältnis« verliebt zu sein.
Wußte nicht, was ich tun sollte. »Müde, Mammi«, sagte ich und schlenderte davon. Ich fühlte mich mit mir selbst und dem Rest der Welt unzufrieden. Was, wenn Malcolms Tagebuch und John Amos’ Worte die Wahrheit waren? War sie böse und sündig, verführte Männer dazu, wie Tiere zu sein? War es schlecht, wie ein Tier zu sein? Apple war nicht schlecht oder sündig. Selbst Clover nicht, obwohl er mich nicht mochte.
In Jorys Zimmer blieb ich vor seinem Fünfzig-Liter-Aquarium stehen. Ein beständiger Strom kleiner Luftblasen schwebte darin und blubberte leise auf der Oberfläche, ein bißchen wie der Champagner, an dem Mammi mir einmal zu nippen erlaubt hatte.
In meinem Aquarium wollten keine schönen Fische wohnen. In Jorys fühlten sie sich wohl und starben nie. Mein Aquarium war leer – nur Wasser war drin und ein Spielzeugpiratenschiff auf dem sandigen Grund, in dem ein versunkener Schatz verborgen war. In Jorys Aquarium wuchsen Tangpflanzen, die sich aus einem kleinen versunkenen Schloß herausschlängelten. Seine Fische huschten zwischen winzigen Korallenriffen hin und her.
Jory machte alles schöner und besser als ich. Ich mochte gar nicht mehr Bart sein. Bart mußte zu Hause bleiben und mußte Disneyland vergessen, denn er trug jetzt Verantwortung.
Ein Tier konnte eine schwere Last sein.
Ich warf mich auf mein Bett und starrte zur Decke hinauf. Malcolm brauchte seine Macht und seine Stärke nicht mehr oder seinen klugen Kopf, mit dem er auch noch raffiniert war. Er war tot, und sein ganzes Können war verschwendet. Niemand hatte Malcolm je irgend etwas tun lassen, was Malcolm nicht gewollt hatte. Nicht, nachdem Malcolm erst einmal erwachsen gewesen war. Wollte kein Junge mehr sein. Wollte ein Mann sein wie der mächtige Malcolm, das Finanzgenie.
Ich würde die Menschen springen lassen, wenn ich auch nur den Mund aufmachte. Sie mußten rennen, wenn ich auch nur ein Wort sagte. Zittern, wenn ich sie nur ansah. Sich verstecken, wenn ich aufstand. Der Tag war nicht mehr fern. Ich spürte es.