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Kennenlernen

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Es war Frühstückszeit. Mam erzählte Dad von einer ihrer Ballerinas. Bart saß mir gegenüber am Tisch und stocherte in seinen Cornflakes herum. Er mochte eigentlich überhaupt nichts gerne, außer solchen Knabbersachen, von denen Dad sagt, sie wären nicht gut für ihn.

»Chris, ich glaube nicht, daß Nicole es schafft«, sagte Mam mit einem besorgten Stirnrunzeln. »Ist es nicht furchtbar, wie viele Menschen bei Autounfällen zu Schaden kommen? Und sie hat ein kleines Mädchen, das erst zwei Jahre alt ist. Ich hab’ die Kleine noch vor ein paar Wochen gesehen. Weißt du, sie erinnerte mich sehr an unsere Carrie, als sie zwei Jahre alt war.«

Dad nickte abwesend, während sein Blick sich irgendwo in der Morgenzeitung verlor. Die Szene damals zwischen den beiden auf dem Dachboden verfolgte mich noch immer, besonders nachts, wenn ich nicht schlafen konnte. Manchmal saß ich einfach allein in meinem Zimmer und versuchte mich zu erinnern, was da tief unten unter all meinen Erinnerungen versteckt sein mußte. Etwas sehr Wichtiges, da war ich sicher, aber ich kam und kam nicht darauf, was es war.

Auch jetzt, als ich ihnen zuhörte, wie sie sich über Nicole und ihre Tochter unterhielten, ging mir die Dachbodengeschichte wieder durch den Kopf, und ich fragte mich, was das alles wohl zu bedeuten gehabt hatte und wer denn diese Großmutter war, vor der sie sich fürchteten. Und wie konnten sie sich bloß gekannt haben, schon als Mam erst vierzehn war?

»Chris«, drängte Mam in einem Ton, der Dad zwingen sollte, die Sportseite endlich aus der Hand zu legen. »Du hörst mir nicht zu, wenn ich mit dir rede. Nicole hat überhaupt keine Angehörigen – hast du das mitbekommen? Nicht einmal einen Onkel oder eine Tante, die sich um Cindy kümmern können, wenn ihre Mutter stirbt. Und du weißt, daß sie nie mit dem Jungen verheiratet war, den sie damals liebte.«

»Hmmm«, antwortete er und biß in seinen Toast. »Vergiß nicht, daß heute der Garten gesprengt werden muß.«

Sie runzelte die Stirn noch mehr und wirkte jetzt richtig verärgert. Er hörte ihr viel weniger zu als ich. »Ich glaube, daß es ein großer Fehler war, Pauls Haus zu verkaufen und hierher zu ziehen. Seine Statuen passen einfach nicht in diese Gegend.«

Das sicherte ihr seine Aufmerksamkeit.

»Cathy, wir haben uns geschworen, daß wir nie irgend etwas bedauern wollen, und es gibt wichtigere Dinge im Leben, als einen großen Garten zu haben, in dem alles wild wuchert.«

»Wild wuchert? Paul hatte den gepflegtesten Garten, den ich je gesehen habe!«

»Du weißt, was ich meine.«

Für ein paar Sekunden war sie stumm, dann redete sie wieder von Nicole und dem kleinen Mädchen, das in ein Waisenhaus kommen würde, wenn seine Mutter starb. Daddy meinte, daß die kleine Cindy in diesem Fall wohl schnell von jemandem adoptiert würde. Er stand auf, um sich sein Sportjackett überzuziehen. »Hör doch auf, alles immer von der finstersten Seite zu sehen. Nicole kann doch auch wieder gesund werden. Sie ist jung, stark, hat keine Krankheiten gehabt. Aber wenn du dir solche Sorgen machst, sehe ich heute mal bei ihr vorbei und rede mit ihren Ärzten.«

»Daddy«, meldete sich Bart, der schon den ganzen Morgen finster vor sich hin starrte. »Niemand hier kann mich zwingen, diesen Sommer in den Osten zu fahren! Ich will nicht weg, und da kann mich auch keiner zwingen!«

»Sicher doch«, sagte Dad, streichelte Bart unter dem Kinn und fuhr ihm spielerisch über das schon wieder strubbelige dunkle Haar. »Niemand kann dich zwingen, mit uns zu fahren – ich hoffe nur, daß du dich doch noch dazu entschließt, weil du sonst wochenlang hier ganz alleine bleiben mußt.« Er gab Mam einen Abschiedskuß.

»Fahr vorsichtig.« Mam mußte das jeden Morgen sagen, wenn er aufbrach. Er lächelte, sagte, er werde sich bemühen, und ihre Blicke trafen sich und erzählten sich etwas, das ich inzwischen auf gewisse Art verstand.

»Der Friederich, der Friederich, das war ein arger Wüterich. Den Fliegen riß er gar, o Graus, die kleinen Fliegenbeinchen aus …« Bart grinste Mam an und stand vom Tisch auf. Das war seine Art, sich bei Tisch zu verabschieden. Ob er gehen durfte, fragte er so gut wie nie.

Fast zehn Jahre alt, und er redete noch immer in Kinderreimen. Er schnappte sich seinen alten Lieblingspullover, warf ihn über die Schulter und stieß dabei einen Karton mit Milch um. Die Milch floß auf den Boden, wo Clover sofort begann sie aufzulecken wie eine Katze. Mam war so mit einem Foto von Nicoles kleiner Tochter beschäftigt, daß sie die Milch auf dem Boden gar nicht bemerkte.

Es war Emma, die dann die Milch aufwischte und Bart anfunkelte, der die Zunge herausstreckte und hinausrannte.

»Entschuldige mich, Mam«, sagte ich und sprang auf, um Bart nach draußen zu folgen. Bald saßen wir wieder oben auf der Mauer und besahen uns das Nachbargrundstück. Beide wünschten wir uns, die Lady würde sich mit dem Einziehen etwas beeilen. Wer konnte schon wissen, vielleicht hatte sie sogar Enkelkinder.

»Mir fehlt das alte Haus richtig«, beklagte sich Bart. »Hasse die Leute, die in unser Spukschloß einziehen.«

Der Tag zog sich so dahin, wir säten ein bißchen, jäteten ein bißchen Unkraut, und bald begann ich mich ernsthaft zu fragen, wie wir den ganzen langen Sommer hier aushalten sollten, ohne jemals mehr eine Expedition nach nebenan machen zu können.

Beim Abendessen war Bart schlechter Laune, weil auch er den Gang nach nebenan so vermißte. Er starrte dumpf seinen vollen Teller an. »Iß tüchtig, Bart«, sagte Dad, »sonst fehlt dir nachher die Kraft, dich in Disneyland richtig zu vergnügen.«

Bart blieb der Mund offen stehen. »Disneyland?« Seine dunklen Augen wurden groß vor Begeisterung. »Wir fahren da wirklich hin! Nicht nach Osten, die ollen Gräber besuchen?«

»Disneyland gehört zu deinen Geburtstagsgeschenken«, erklärte Dad. »Du wirst damit deinen Geburtstagsausflug bekommen, und dann fliegen wir nach South Carolina. Nun jammer nicht rum. Außer dem, was du gerne machst, müssen wir auch noch an andere Leute denken. Jorys Großmutter möchte ihn wenigstens einmal im Jahr sehen, und da wir letzten Sommer nicht gefahren sind, erwartet sie uns jetzt natürlich ganz besonders. Dann ist da auch noch meine Mutter, die auch eine Familie braucht.«

Ich bemerkte, daß ich Mam erwartungsvoll anstarrte. Sie schien innerlich zu kochen. Sie war jedes Mal so, wenn es daran ging, »seine« Mutter zu besuchen. Wie dumm, dachte ich mir, daß sie einfach nicht verstand, warum Mütter so wichtig waren. Sie war so lange eine Waise gewesen, daß sie es vergessen haben mußte, oder vielleicht war sie auch eifersüchtig.

»Junge, Disneyland ist mir lieber als alles andere!« sagte Bart. »Von Disneyland kriege ich niemals genug.«

»Das wissen wir«, meinte Dad auf seine trockene Art.

Aber kaum hatte Bart die erste Freude über die Erfüllung seines »Herzenswunsches« hinter sich, da begann er schon wieder zu maulen, daß er nicht in den Osten wollte. »Mammi, Daddy, ich fahr’ da nicht hin! Zwei Wochen ist viel zu lang, um olle Gräber und olle Großmütter zu besuchen!«

»Bart!« sagte Mam scharf. »Wie kannst du den Toten gegenüber so respektlos sein! Dein eigener Vater ist einer von diesen Leuten, deren Gräber du nicht besuchen willst. Deine Tante Carrie ist auch dabei. Und du wirst ihre Gräber besuchen und auch Madame Marisha, ob du nun willst oder nicht. Und wenn ich noch ein Wort von dir höre, dann wird Disneyland gestrichen!«

»Mammi«, bemühte sich der zurechtgewiesene Bart jetzt das Thema zu wechseln, »warum sieht dein toter Daddy aus Gladstone, Pan …«

»Sag Pennsylvania, nicht Pan.«

»Wie kommt es, daß sein Foto fast genauso aussieht wie Daddy, unser Daddy heute?«

Man sah ihren Augen an, daß ihr die Frage weh tat. Ich mischte mich ein, weil ich es haßte, wie Bart es jedesmal schaffte, ihr Innerstes schmerzhaft zu treffen. »Mensch, Dollanganger ist wirklich ein komischer Name. Jede Wette, daß du froh warst, ihn los zu werden.«

Sie wandte sich zu dem großen Foto von Dr. Paul Sheffield um und sagte dann leise: »Ja, es war ein wunderbarer Tag, als ich Mrs. Sheffield wurde.«

Jetzt sah Dad irgendwie verärgert aus. Ich kauerte mich tief in die samtbezogenen Polster des Eßzimmerstuhls. Überall um mich herum, in der Luft, auf dem Boden kriechend, in den Schatten lauernd, waren die Erinnerungen an jene Vergangenheit, von der sie wußten, aber ich nicht. Vierzehn Jahre alt, und noch immer wußte ich nicht, was eigentlich mit dem Leben los war – oder mit meinen Eltern.

Schließlich kam der Tag, an dem das Haus fertig renoviert war. Putzfrauen erschienen, schrubbten die Böden und putzten die Fenster. Wir waren die ganze Zeit drüben, schlichen um das Haus herum, spähten durch Fenster und rannten schnell zurück zur Mauer, um über einen Baum hinaufzuklettern, bevor man uns erwischte. Oben auf der Mauer saßen wir dann ganz ruhig und harmlos, als könnten wir niemals etwas tun, was uns unsere Eltern ausdrücklich verboten hatten. »Sie kommt, sie kommt!« flüsterte Bart ganz aufgeregt. »Da kommt die alte Lady und zieht ein!«

Das Haus war so toll hergerichtet worden, daß wir erwarteten, eine Filmschauspielerin müßte hineinziehen oder eine Präsidentengattin, jedenfalls jemand sehr Wichtiges. Eines Tages, als Dad bei seiner Arbeit war, Mam zum Einkaufen und Emma wie immer in ihrer Küche, sahen wir eine große schwarze Limousine langsam in die nachbarliche Auffahrt einbiegen. Dahinter folgte ein älterer Wagen, aber auch der sah noch ganz schön teuer aus. Zwei Wochen vorher hatte die Auffahrt noch aus gesprungenem und eingesunkenem Beton bestanden, jetzt war alles glatter Asphalt. Ich stieß Bart an, damit er seine Aufregung etwas bremste. Wenn wir uns ruhig verhielten, gaben die Blätter um uns herum ein perfektes Versteck ab, aus dem heraus wir alles sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden.

Langsam, sehr langsam brachte der Chauffeur den großen mysteriösen Wagen zum Halten. Dann stieg er aus, ging um den Wagen herum und öffnete die hintere Seitentür. Wir sahen mit angehaltenem Atem zu. Jetzt würden wir sie sehen – diese furchtbar reiche Frau, die sich alles leisten konnte!

Der Chauffeur war jung und machte einen munteren Eindruck. Selbst aus dieser Entfernung konnten wir sehen, daß er gut aussah. Aber der alte Mann, der jetzt aus dem Fond des Wagens stieg, sah alles andere als gut aus. Er überraschte mich. Hatten die Arbeiter nicht von einer Lady und ihren Dienstboten gesprochen? »Sieh mal«, flüsterte ich Bart zu, »das muß der Butler sein. Ich wußte gar nicht, daß Butler mit ihren Herrschaften in einem Wagen fahren.«

»Hasse alle Leute, die in unser Haus ziehen!« knurrte Bart.

Der hagere alte Butler streckte seine Hand aus, um einer alten Frau aus dem Wagen zu helfen. Sie ignorierte sie und nahm statt dessen den Arm des Chauffeurs. Oh, Mann! Sie trug von Kopf bis Fuß schwarz. So stellte ich mir die Frau eines Araberscheichs vor. Sogar über ihrem Kopf und Gesicht lag ein schwarzer Schleier. War sie eine Witwe? Eine Mohammedanerin? Sie sah so geheimnisvoll aus.

»Hasse schwarze Kleider, die über den Boden schleifen. Hasse alte Ladys, die schwarze Schleier über dem Kopf haben. Hasse Gespenster!«

Alles, was ich tun konnte, war, fasziniert zuzusehen, wobei mir auffiel, daß die Frau sich unter ihren schwarzen Kleidern sehr elegant und graziös bewegte. Selbst aus meinem Versteck war es nicht schwer zu beobachten, daß sie für diesen hageren alten Butler ganz und gar nichts übrig hatte. Meine Güte, was für Intrigen und Geheimnisse!

Sie sah sich lange alles an. Am längsten starrte sie in unsere Richtung zu der weißen Mauer hin, hinter der man das Dach unseres Hauses aufragen sehen konnte. Ich wußte, daß sie nicht viel sehen konnte. Ich hatte selbst oft genug da gestanden, von wo aus sie jetzt zu uns herüberblickte. Von dort aus konnte man nur den Kamin und den Dachfirst erkennen. Nur wenn sie in ihrem Haus im zweiten Stock aus dem Fenster sah, würde sie in einige unserer Fenster sehen können. Besser ich sagte Mam, sie sollte noch mehr große Bäume entlang der Mauer pflanzen.

Dann kam mir ein Gedanke, warum zwei der Arbeiter eine Reihe der großen Eukalyptus-Bäume abgesägt hatten. Vielleicht wollte sie einen freien Blick auf unser Haus haben, weil sie neugierig auf ihre Nachbarn war. Aber wahrscheinlich wollte sie wohl doch nur einfach keine so hohen Bäume nahe bei ihrem Haus haben.

Jetzt fuhr der zweite Wagen vor. Ihm entstieg eine Hausdame in einer schwarzen Uniform mit einer weißen Spitzenschürze und einer Haube. Ihr folgten zwei Diener in grauen Uniformen. Diese Diener machten sich jetzt an die Arbeit. Sie waren die einzigen, die die vielen Koffer, Hutschachteln, Topfpflanzen und alles mögliche ins Haus schafften, während die Lady in Schwarz die ganze Zeit dastand und auf unseren Kamin starrte. Ich fragte mich, was sie wohl dort so Bemerkenswertes sah.

Als nächstes kam ein großer gelber Möbelwagen, von dem elegante Möbel abgeladen wurden, während die Lady noch immer draußen vor dem Haus blieb und es dem Hauspersonal überließ, wohin die Möbel zu stellen waren. Schließlich kam eines der Mädchen zu ihr gelaufen und fragte sie etwas. Und erst dann wandte sie ich um und verschwand im Haus. Das Personal folgte ihr.

»Bart, sieh dir mal das Sofa an, das die Männer da schleppen! Hast du schon einmal so ein tolles Sofa gesehen?«

Er hatte schon lange das Interesse an den Möbelpackern verloren. Er starrte jetzt auf eine schwarz-gelbe Raupe, die an einem dünnen Zweig nicht weit von seiner schmutzigen Jeans entlang kroch. Überall sangen schöne Vögel in den Bäumen. Der tiefblaue Himmel war voll von weißen Federwölkchen. Die Luft fühlte sich frisch und kühl an, erfüllt vom Duft der Fichten- und Eukalyptus-Bäume – und Bart starrte das einzige häßliche Ding an, das es weit und breit zu sehen gab. Eine arme kleine Raupe mit Hörnern!

»Hasse häßliche kriechende Dinger mit Hörnern auf dem Kopf«, murmelte er zu sich selbst. Ich wußte, daß er die unangenehme Angewohnheit hatte, immer wissen zu wollen, wie solche »Dinger« von innen aussahen. »Wetten, daß du ganz fiesen grünen Matsch unter dem schönen gelben Fell hast. Du fieser kleiner Drachen auf dem Zweig, komm mir nicht näher. Noch ein bißchen weiter, dann bist du tot.«

»Hör mit diesem dummen Gequatsche auf. Sieh dir doch mal den Tisch an, den die Männer da ins Haus tragen. Junge, jede Wette, daß dieser Stuhl da aus einem europäischen Schloß ist.«

»Noch ’n kleines Stückchen, dann geht es dir an den Kragen!«

»Weißt du was? Jede Wette, daß die Lady, die da einzieht, ’ne ganz nette Dame sein muß. Jeder, der so einen guten Geschmack bei Möbeln hat, muß schon ein toller Typ sein.«

»Ein Zentimeter noch … und tot bist du!« verkündete Bart der Raupe.

Als die Sonne unterging, färbte sich der Himmel rötlich, und durch diese Röte zogen sich breite violette Streifen, die den Sonnenuntergang noch schöner machten.

»Bart, sieh dir den Sonnenuntergang an. Hast du schon mal irgendwo noch großartigere Farben gesehen? Farben sind für mich wie Musik. Ich kann sie singen hören. Jede Wette, wenn Gott mich jetzt im Augenblick taub und blind machen würde, dann könnte ich noch immer die Musik der Farben hören und sie hinter meinen Augen sehen. Und ich würde in der Dunkelheit tanzen und nie erfahren müssen, daß gar kein Licht mehr da ist.«

»Verrücktes Zeug«, murmelte mein Bruder, die Blicke noch immer auf die pelzige Raupe gerichtet, die näher und näher zu dem tödlichen Stiefel kroch, der über ihr drohte. »Blind sein heißt: alles pechschwarz. Keine Farben. Keine Musik. Kein gar nichts. Tot sein, das heißt Stille.«

»Taub … t-a-u-b – nicht tot!«

Genau in diesem Augenblick stampfte Bart mit seinem Stiefel auf die Raupe. Dann sprang er vom Baum auf den Boden, und dort wischte er sich auf dem frischen Rasen der Lady den grünen Matsch vom Stiefel.

»Das war eine Gemeinheit, was du da getan hast, Bart Winslow. Raupen entwickeln sich auf eine Art, die man Metamorphose nennt. Aus der Sorte, von der du da gerade eine umgebracht hast, werden die schönsten Schmetterlinge. Du hast keinen Drachen getötet, sondern eine Elfenkönigin – die süßeste Braut der Rosen.«

»Blödes Ballettgerede«, meinte er dazu, obwohl er es schaffte, ein wenig betroffen auszusehen. »Ich kann es wieder gutmachen«, meinte er unsicher und sah sich nervös nach allen Seiten um. »Ich baue eine Falle auf und fang’ eine lebende Raupe. Die halt’ ich mir dann, bis sie sich in eine Elfenkönigin verwandelt, und dann laß’ ich sie fliegen.«

»He, das war doch nur ein Scherz. Aber von jetzt an bring keine Insekten mehr um außer denen, die an den Rosen sitzen.«

»Wenn ich welche an den Rosen finde, darf ich dann alle tot machen?«

Es war schon komisch, wie sehr Bart dahinter her war, alle Insekten umzubringen. Einmal erwischte ich ihn dabei, wie er einer Spinne ein Bein nach dem anderen ausriß und sie dann zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschte. Dabei schien ihn das schwarze Blut sehr zu interessieren. »Fühlen solche Dinger Schmerzen?«

»Ja«, sagte ich, »aber mach dir nichts daraus. Früher oder später wirst du auch Schmerzen spüren. Also wein nicht. Es war nur eine kleine Raupe, keine Elfenkönigin. Komm, gehen wir nach Hause.« Er tat mir leid, weil ich wußte, wie viel es ihm ausmachte, daß er keine Schmerzen fühlen konnte wie ich, obwohl er ja eigentlich froh darüber hätte sein können.

»Nein! Will nicht nach Hause! Ich will sehen, was da drüben im Haus jetzt los ist.«

In diesem Moment kam Emma aus unserem Haus und schlug den Gong, so daß wir uns, hungrig wie wir waren, sofort auf den Heimweg begaben.

Am nächsten Tag saßen wir wieder auf der Mauer. Die Möbelpacker waren am gestrigen Abend noch fertig geworden, nachdem wir schon zu Bett gegangen waren. Keine großen Lastwagen kamen mehr vorgefahren. Den Vormittag und den frühen Nachmittag hatte ich mit Mam in der Ballettschule verbracht, während Bart zu Hause geblieben war und allein gespielt hatte. Sommertage waren lang. Er lächelte und war glücklich darüber, mich wieder bei sich zu haben. »Fertig?« fragte ich.

»Fertig!« bestätigte er. Nachdem wir unsere Pläne bereits geschmiedet hatten, ließen wir uns jetzt von der Mauer gleiten und kletterten auf der anderen Seite an einem Baum herunter. Wir betraten Boden, der uns streng verboten worden war, aber wir fanden, ob zu Recht oder zu Unrecht, daß dieses Grundstück uns gehörte, denn wir waren zuerst hier gewesen. Wie zwei Schatten huschten wir zwischen den Bäumen hindurch. Bart sah sich Hecken an, deren Büsche man in der Form von Tieren geschnitten hatte. Wie unheimlich! Ein krähender Hahn neben einer fetten Henne auf einem Nest. Hübsch, alles ganz ordentlich geschnitten. Wer hätte gedacht, daß dieser alte mexikanische Gärtner so toll mit seinen Scheren umgehen konnte!

»Mag keine Büsche, die wie Tiere aussehen«, beschwerte sich Bart. »Mag keine grünen Augen. Grüne Augen sind gemeine Augen. Jory – die gucken hinter uns her!«

»Pssst, flüster nicht. Paß auf, wo du hintrittst. Bleib genau in meinen Fußstapfen.« Ich blickte über die Schulter und sah, daß der Himmel sich mit einem dunklen Blau überzog, in dem die letzten dunkelroten Streifen wie frisch vergossenes Blut hingen. Die Nacht senkte sich bald herab, und der Mond zeigte nicht immer ein freundliches Gesicht.

»Jory«, erklang Barts Flüstern, während er mich am Hemdzipfel zog, »hat Mammi uns nicht gesagt, wir müssen zu Hause sein, wenn es dunkel wird?«

»Noch ist es nicht dunkel.« Aber es war beinahe dunkel. Aus dem milchigen Weiß, in dem die frisch verputzten Wände des Hauses bei Tageslicht strahlten, wurde in der Dämmerung ein bläuliches Weiß, das irgendwie bedrohlich wirkte.

»Ich mag keine knochenfarbenen alten Häuser, die man auf neu rausgeputzt hat.«

Bart und seine Ideen.

»Muß doch jetzt schon Zeit sein, daß Mammi auf uns wartet.«

Ich ließ mich von seinem Zupfen am Ärmel nicht beeindrucken. Da wir nun schon einmal so weit waren, konnten wir auch noch ganz bis zum Haus schleichen. Ich legte meinen Finger auf die Lippen, flüsterte: »Bleib, wo du bist« und stahl mich dann lautlos unter das einzige erleuchtete Fenster dieses riesigen Hauses mit seinen vielen Fenstern.

Anstatt zu bleiben, wie ich es ihm gesagt hatte, folgte Bart mir auf den Fersen. Ich ermahnte ihn noch einmal, leise zu sein, dann kletterte ich eine kleine Eiche hinauf, die gerade kräftig genug war, mein Gewicht zu tragen. Ich kletterte, bis ich einen Blick durch das Fenster werfen konnte. Zuerst konnte ich nichts weiter erkennen als einen großen, schwach beleuchteten Raum voller noch nicht ausgepackter Kartons. Eine hohe, dicke Lampe versperrte mir die Sicht, und ich mußte mich vom Baum weg zur Seite beugen, damit ich um sie herumsehen konnte. Undeutlich sah ich eine in dunkle Kleider gehüllte Gestalt, die auf einem harten hölzernen Lehnstuhl saß, sehr unbequem, verglichen mit den weichen luxuriösen Sofas und Sesseln, die wir gestern gesehen hatten. War das die Frau mit dem schwarzen Schleier? Dieselbe, die ich draußen gesehen hatte?

Araber trugen auch solche langen Gewänder, also hätte es auch der hagere Butler sein können. Aber dann sah ich eine blasse, schlanke Hand mit vielen funkelnden Ringen, und ich wußte, daß ich die Herrin des Hauses vor mir hatte. Um besser sehen zu können, verlagerte ich mein Gewicht noch weiter vom Stamm weg, und als ich das tat, knarrte der Ast unter mir bedenklich. Die Frau im Zimmer hob den Kopf und sah in meine Richtung.

Ihre Augen wirkten groß und furchterregend. Ich beruhigte mich, indem ich mir sagte, daß Leute aus einem hellen Zimmer nicht in die Dunkelheit vor dem Fenster sehen können. Mein Herzschlag verdreifachte sich, während ich den Atem anhielt. Kleine Nachtinsekten schwärmten um meinen Kopf und begannen auf meiner verschwitzten Stirn herumzukrabbeln.

Unter mir wurde Bart ungeduldig. Er rüttelte an meinem dünnen Baum. Ich versuchte, mich festzuklammern und gleichzeitig Bart mit Zeichen klarzumachen, daß er damit aufhören sollte. Glücklicherweise kam im selben Moment ein Mädchen in das Zimmer und trug ein großes Silbertablett, beladen mit mehreren abgedeckten Tellern.

»Beeil dich!« quäkte mein kleiner Angsthase. »Ich will nach Hause!«

Wovor hatte er bloß Angst? Ich war es doch, der gerade von einem Baum zu fallen drohte. Das Geklapper der Teller und Bestecke, die von dem Tablett auf einen kleinen Tisch gesetzt wurden, übertönte den Lärm, den Bart veranstaltete. Kaum war das Dienstmädchen aus dem Zimmer, da hob die verschleierte Frau ihre Hände und nahm den Schleier ab.

Sie begann zu essen. Ganz allein stocherte sie in ihrem Abendessen herum. Als ich schon fast sicher war, daß sie von mir nichts gehört haben konnte, gab der schwache Ast unter mir ein splitterndes Geräusch von sich.

Sie wandte den Kopf. Jetzt bekam ich meine Chance, sie endlich ohne den schwarzen Schleier zu sehen, und ich sah sie. Sah ihr wirklich ins Gesicht! Aber ich sah gar nicht wirklich auf ihre Nase, ihre Lippen, ihre Augen; ich sah nur die langen Reihen von Narben in ihrem Gesicht. Hatte eine Katze sie so zerkratzt? Plötzlich empfand ich Mitleid für eine alte Frau, die dort so ganz allein zu Abend essen mußte, ohne Appetit und Spaß daran. Es kam mir unfair vor, daß jemand ein einsames, ungeliebtes Leben führen mußte. Und es erschien mir auch unfair vom Schicksal, daß es mir hier so gnadenlos zeigte, wie das Alter den Menschen jede Schönheit stehlen konnte, eine Frau, die einmal genauso schön gewesen sein mußte wie meine Mutter – früher.

»Jory …?«

»Psst …«

Sie starrte auf das Fenster und zog dann schnell wieder den Schleier über ihr Gesicht. »Wer ist da draußen?« rief sie. »Verschwinden Sie, wer immer Sie sind! Ich rufe sonst die Polizei!«

Ich sprang vom Baum, packte Bart bei der Hand und rannte los. Er stolperte und fiel und hielt mich wie üblich auf. Ich stellte ihn immer wieder auf seine Füße, lief weiter und zwang ihn schneller zu rennen, als er das ohne meine Hilfe je geschafft hätte. Er keuchte: »Jory! Nicht so schnell. Was hast du gesehen? Schnell, sag es mir – war es ein Gespenst?«

Viel schlimmer. Ich hatte gesehen, wie meine Mutter in dreißig Jahren aussehen mochte, wenn sie lange genug lebte, um vom Alter so zugerichtet zu werden.

»Wo seid ihr beiden denn gewesen?« Mam verstellte uns den Weg, als wir gerade ins Bad huschen wollten, um uns zurechtzumachen, bevor sie den Schmutz an unseren Kleidern bemerken konnte.

»Wir kommen ganz hinten aus dem Garten«, antwortete ich mit einem schlechten Gewissen. Sie sah es mir sofort an und schöpfte Verdacht. »Wo seid ihr wirklich gewesen?«

»Na, hinten im Garten …«

»Jory, wirst du jetzt auch so einsilbig wie Bart?«

Ich nahm sie in den Arm und preßte mein Gesicht an ihre weiche Brust. Für so was war ich eigentlich schon zu alt, aber ich hatte plötzlich das Bedürfnis, mich sicher und geborgen zu fühlen.

»Jory, mein Schatz, was ist denn los mit dir?«

Nichts war los. Ich hätte nicht sagen können, was mich eigentlich so beunruhigte. Es war ja nicht zum ersten Mal, daß ich einen alten Menschen gesehen hatte. Da war meine eigene Großmutter Marisha, aber die hatte ich schon immer nur als alte Frau gekannt.

In dieser Nacht träumte ich, Mammi käme zu mir und sie war ein lieblicher Engel, der einen Zauber über die ganze Welt legte, daß alle Leute nicht mehr älter wurden. Ich sah zweihundert Jahre alte Frauen, die noch so jung und hübsch waren, wie an ihrem zwanzigsten Geburtstag – alle außer einer alten Lady in Schwarz, die alleine in ihrem Schaukelstuhl wippte, ganz alleine.

Gegen Morgen kroch Bart zu mir ins Bett und kuschelte sich an meinen Rücken, um mit mir gemeinsam dem grauen Nebel zuzusehen, der sich über die Bäume legte, das goldene Gras verschluckte und alle Zeichen von Leben auslöschte, bis die ganze Welt draußen tot zu sein schien.

Bart redete wie so oft leise vor sich hin. „Die Erde ist voll von toten Menschen, toten Tieren und toten Pflanzen. Daraus wird all der Dünger, den Daddy im Garten braucht.«

Tod. Mein Halbbruder Bart war von Gedanken an den Tod besessen, und er tat mir leid. Ich spürte, wie er sich noch enger an mich kuschelte, während wir beide in den Nebel draußen starrten, der so sehr Teil unseres Lebens geworden war.

»Jory, niemand mag mich«, klagte er.

»Doch, alle mögen dich.«

»Nein, das tun sie nicht. Sie mögen dich viel mehr.«

»Das ist, weil du sie nicht magst und es jeden merken läßt.«

»Warum magst du denn jeden?«

»Tu’ ich gar nicht. Aber ich kann ein Lächeln aufsetzen und so tun als ob, auch wenn es nicht stimmt. Vielleicht solltest du auch besser lernen, eine Maske aufzusetzen, wenn es nötig ist.«

»Warum? Wir spielen doch nicht Theater.«

Er machte mir Sorgen. Genau wie diese Betten auf dem Dachboden mir Sorgen bereiteten. Wie diese seltsame Sache zwischen meinen Eltern, die ich so oft spürte und die mich daran erinnerte, daß sie etwas wußten, was ich nicht wußte.

Ich schloß die Augen und sagte mir, daß irgendwie schon alles am Ende zum Besten sein würde.

Dornen des Glücks

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