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Bart
Оглавление»Und am siebten Tag ruhte Gott«, las Jory vor, während ich die Erde über den Stiefmütterchen-Samen festklopfte. Die Stiefmütterchen sollten zur Ehre von meiner Tante Carrie und meinem Onkel Cory wachsen, denn die hatten am 5. Mai Geburtstag. Onkel und Tanten, die ich nie gesehen hatte. Beide schon lange, lange tot. Sie waren schon tot, als ich auf die Welt kam. In unserer Familie starben die Menschen schnell. Ich frage mich immer, warum die wohl Stiefmütterchen so gern gemocht haben? Sind doch so komische langweilige kleine Blumen. Ich hätte auch gern gehabt, daß Mammi die Geburtstage von toten Leuten nicht so verdammt wichtig genommen hätte.
»Weißt du, wie es weitergeht?« fragte Jory, denn mit neun war man ja wohl noch richtig blöd, und er war der große Erwachsene. »Am Anfang, als Gott Adam und Eva erschaffen hatte, lebten sie ganz ohne Kleider im Garten Eden. Dann erzählte ihnen eines Tages eine böse sprechende Schlange, daß es eine Sünde sei, nackt herumzulaufen, und Adam band sich ein Feigenblatt um.«
Puh … nackte Leute, die nicht wußten, daß Nacktsein böse war. »Und was band sich Eva um?« fragte ich, während ich mich in unserer Umgebung nach einem Feigenblatt umsah. Er las mir weiter auf so eine Art vor, daß ich mich richtig in die alten Zeiten versetzt fühlte, als Gott sich noch selbst um jeden kümmerte – selbst um nackte Leute, die mit Schlangen reden konnten. Jory sagte, er könne biblische Geschichten im Kopf in Musik verwandeln, und das fand ich ganz verrückt und unheimlich – daß er da so zu einer Kopf-Musik tanzte, die ich nicht hörte! Ich fühlte mich richtig dumm. »Jory, wo kriegt man denn Feigenblätter?«
»Warum?«
»Wenn ich eins hätte, dann würde ich mir alle Kleider ausziehen und mich nur damit bedecken.«
Jory lachte. »Gütiger Himmel, Bart, für einen Jungen gibt es nur eine ganz bestimmte Art, ein Feigenblatt zu tragen – und das wär’ dir wohl ganz schön peinlich.«
»Wär’s mir nicht!«
»Aber klar doch!«
»Mir ist nie etwas peinlich!«
»Woher weißt du dann, was das überhaupt ist? Und mal abgesehen davon, hast du Dad jemals ein Feigenblatt tragen sehen?«
»Nein …« Aber ich dachte mir, wo ich doch nie ein Feigenblatt gesehen hatte, woher sollte ich da wissen, ob Dad je eins trug? Das sagte ich Jory. »Junge, Junge, das wär’ dir schon aufgefallen!« antwortete er und lachte mich wieder aus.
Dann grinste er, sprang auf und war mit einem riesigen wunderbaren Satz, den ich einfach bewundern mußte, am oberen Ende der Marmortreppe. Ich mußte wie immer hinter ihm herrennen. Wünschte mir, ich könnte auch einmal so elegant hüpfen. Wünschte mir, daß ich tanzen könnte und jeden so verzaubern, daß er mich gern hatte. Jory war größer, älter, klüger – aber Moment mal. Vielleicht konnte ich doch klüger sein als er, wenn schon nicht größer. Mein Kopf war groß. Mußte doch also auch ein großes Hirn drin sein. Und dann wuchs ich auch höher und höher, hatte Jory fast eingeholt und würde ihn sicher eines Tages überholen. Ja, einmal würde ich größer als Daddy sein. Größer sogar als der Riese in Der kleine Däumeling – und dieser Riese war größer als alle anderen!
Neun Jahre alt … Ich wünschte mir so, ich wäre vierzehn.
Da saß Jory auf der obersten Treppenstufe und wartete, daß ich ihn einholte. Ich fand das ungerecht. Das war gemein. Gott hatte es wirklich nicht gut mit mir gemeint, als er die Gaben verteilte. Ich erinnere mich noch, wie das vor fünf Jahren war. Da war ich vier, und Emma gab jedem von uns ein frisch geschlüpftes Küken, ganz aus weichem gelbem Flaum, das zirpte und piepte. Hatte vorher noch nie in meinem Leben so was Schönes in der Hand gefühlt. Da hatte ich es lieb, hielt es schön fest, roch seinen Kükengeruch, bevor ich es vorsichtig wieder auf den Boden setzte – und verdammt, da fiel das Hühnchen doch einfach tot um.
»Da hast du zu fest gedrückt«, erklärte mir Daddy, der sich mit solchen Sachen auskannte. »Ich hab’ dir ja gesagt, daß du es nicht zu sehr festhalten darfst. Küken sind sehr zart und zerbrechlich, und man muß sie ganz vorsichtig auf der Hand halten. Ihre kleinen Herzen liegen ganz dicht unter der Haut – nächstes Mal also schön vorsichtig anfassen, klar?«
Ich dachte mir, Gott müßte mich eigentlich für so was auch tot umfallen lassen, obwohl er ja selbst hauptsächlich daran schuld war. Konnte ja nicht mein Fehler sein, daß er meine Nerven nicht bis ganz in die Haut hatte wachsen lassen, daß sie so tief drinnen endeten, und ich nicht richtig fühlen konnte. Konnte ich doch nicht dafür, daß ich keine Schmerzen fühlte wie alle anderen – das war es doch! Dann bekam ich eine Gänsehaut und fürchtete, er würde mir was tun. Aber als er mir einfach vergab, da ging ich eine Stunde später zu dem kleinen Hühnerstall, in dem Jorys lebendes Hühnchen jetzt ganz allein rumlief. Es war so einsam. Ich nahm es hoch und erzählte ihm, daß es jetzt einen Freund hatte. Junge, was hatten wir für einen Spaß, als wir uns dann gegenseitig jagten und nachliefen, bis ganz plötzlich, nachdem wir kaum zwei Stunden zusammen gespielt hatten, auch dieses Hühnchen einfach tot umfiel!
Ich haßte kalte steife Sachen. Warum ging es nur so leicht kaputt? »Was ist denn los mit dir?« schrie ich es an. »Ich hab’ dich nicht gedrückt! Meine Hände haben dich doch gar nicht angefaßt! Ich war vorsichtig – also hör doch auf, tot zu spielen und steh wieder auf, sonst denkt mein Daddy, ich hätte dich absichtlich tot gemacht!« Ich hatte mal gesehen, wie mein Daddy einen Mann aus dem Wasser gezogen hatte und ihm dann das Leben rettete, indem er das ganze Wasser aus ihm rauspumpte und Luft in ihn reinbließ. Deshalb versuchte ich das auch mit dem Küken. Es blieb tot. Ich massierte sein Herz, dann betete ich, und es blieb noch immer tot.
Ich war nicht gut. Ich war zu nichts gut. Ich konnte auch nie sauber bleiben. Emma sagte immer, mir saubere Sachen anzuziehen sei reine Zeitverschwendung. Konnte auch nie einen Teller festhalten, den ich abtrocknen sollte. Neue Spielsachen gingen immer sofort kaputt, wenn ich sie in die Finger bekam. Neue Schuhe sahen zehn Minuten, nachdem sie meine Füße kennengelernt hatten, schon ganz alt aus. War aber doch nicht mein Fehler, wenn sie sich so leicht abschürften. Die Leute wußten einfach nicht, wie man gute, strapazierfähige Schuhe herstellte. Es gab auch nie ’nen Tag, an dem meine Knie nicht aufgeschlagen oder die Hosen zerrissen waren. Beim Ballspielen rutschte ich immer aus. Meine Hände wußten auch nie, wie man richtig etwas fängt oder sich festhält. Deshalb bogen sich meine Finger immer so leicht nach hinten, und zweimal hatte ich schon einen Finger gebrochen. Dreimal war ich von einem Baum gefallen. Einmal habe ich mir den rechten Arm gebrochen, einmal den linken. Beim dritten Mal kriegte ich nur Schrammen ab. Jory brach sich nie irgendwas.
Kein Wunder, daß meine Mam uns immer sagte, wir dürfen nicht in das große alte Haus mit den vielen Treppen nebenan hinter der Mauer. Sie wußte genau, daß ich sonst irgendwann eine von den alten Treppen runterfiel und mir alle Knochen brach.
»Was für ein Pech, daß du so wenig Koordinationsvermögen hast«, murmelte Jory. Dann stand er auf und schrie: »Bart, hör auf, wie ein Mädchen zu laufen! Beug dich doch mal vor und benutz deine Beine fürs Gleichgewicht. Vergiß einfach alles andere, denk nicht immer daran, du könntest fallen! Du fällst nicht hin, außer wenn du ständig darauf wartest. Wenn du mich fängst, dann geb’ ich dir meinen Gummiball!«
Junge, in der ganzen weiten Welt gab’s nichts, was ich so gerne haben wollte, wie diesen Ball. Jory konnte ihn so richtig angeschnitten werfen, daß er ’ne Kurve flog. Wenn er damit nach Blechbüchsen auf der Mauer warf, dann schoß er sie eine nach der anderen runter, und der Ball kam jedesmal zu ihm zurück. Ich traf nie, worauf ich zielte – aber dafür traf ich eine ganze Menge, was ich überhaupt nicht treffen wollte, Blumenvasen, Fenster und Menschen.
»Behalt deinen ollen Gummiball!« keuchte ich, obwohl ich ihn gerne haben wollte. Es war ein besserer Ball als meiner; sie gaben ihm immer die besseren Sachen.
Er sah mich so richtig mitleidig an, daß ich am liebsten geweint hätte. Mitleid haßte ich! »Du kannst ihn auch haben, wenn du das Wettrennen verlierst. Du gibst mir dann deinen dafür. Ich möchte dir nicht weh tun oder dich verletzen. Ich möchte doch nur, daß du endlich damit aufhörst, immer Angst zu haben, etwas falsch zu machen, und dann machst du vielleicht gar nichts mehr falsch – manchmal bringt es wirklich was, wenn man einfach nur ganz feste will.« Er lächelte, und ich dachte mir, wenn Mammi jetzt da wäre, dann fände sie seine weißen Zähne, die so strahlten, bestimmt zauberhaft. Mit meinem Gesicht konnte man nur gut einen Flunsch ziehen.
»Kannst deinen blöden Ball behalten!« wiederholte ich und lehnte es entschieden ab, jemanden nett zu finden, der hübsch, graziös und der Vierzehnte einer langen Reihe von russischen Ballettänzern war, die Ballerinas geheiratet hatten. Was war so großartig an Tänzern? Nichts, gar nichts! Gott hatte Jorys Beine angelächelt und sie hübsch gemacht, meine dagegen sahen aus wie knorrige Äste und knickten bei jeder Gelegenheit ab.
»Du haßt mich im Grunde! Am liebsten wäre dir, wenn ich schon tot wäre, stimmt’s?«
Er sah mich komisch und sehr lange an. »Quatsch, ich hasse dich nicht, und ich will auch nicht, daß du stirbst. Irgendwie habe ich dich gern als Bruder, auch wenn du immer so rumstolperst und so ein Schreihals bist.«
»Ganz herzlichen Dank.«
»Klar doch … Mach dir nichts draus. Komm, sehen wir uns das Haus an.«
Nach der Schule gingen wir jeden Tag zu der weißen hohen Mauer und setzten uns oben auf die Mauerkrone. An manchen Tagen schlichen wir uns sogar in das alte Haus auf der anderen Seite. Bald war das Schuljahr zu Ende, und dann gab es für uns den ganzen Tag nichts anderes zu tun als zu spielen. Da war es schön zu wissen, daß dieses alte Haus auf uns wartete. So’n richtiges altes Spukschloß mit vielen Zimmern, verwinkelten Gängen, Truhen voller versteckter Schätze, hohen Decken und komisch geformten Räumen, von denen kleine, verborgene Nebenräume abgingen, manchmal ganze Reihen von kleinen Räumen, die sich einer hinter dem anderen versteckten.
Spinnen lebten dort und webten ihre Netze von den alten Leuchtern an den Decken. Mäuse rannten überall herum, die Hunderte von kleinen Mäusebabys hatten. Aus dem Garten krabbelten Insekten ins Haus, krochen überall an den Wänden und auf den hölzernen Böden herum. Vögel flatterten die Kamine herunter und schossen wild durch die leeren Zimmer, um wieder nach draußen zu finden. Manchmal schlugen sie gegen die Fenster oder Wände, und wenn wir kamen, fanden wir sie jämmerlich tot auf dem Boden liegen. Manchmal schafften Jory und ich es aber auch, rechtzeitig Türen und Fenster aufzureißen, so daß die kleinen Vögel nach draußen konnten.
Jory behauptete, daß dieses alte Haus von jemandem sehr schnell verlassen worden war – daß die Leute von einem Tag auf den anderen ausgezogen sein müßten. Mindestens die Hälfte der Möbel war noch da, verstaubte und verschimmelte, und wenn Jory den modrigen Geruch bemerkte, rümpfte er die Nase. Ich schnüffelte und versuchte herauszufinden, was mir dieser Geruch erzählte. Ich konnte ganz ruhig so dastehen und fast hören, wie die Geister sich unterhielten, und wenn wir ruhig auf einem der verstaubten alten Samtsofas saßen, dann drang aus dem Keller ein fernes Rascheln und Huschen zu uns herauf, als ob die Geister uns Geheimnisse ins Ohr flüstern wollten.
»Erzähl bloß nie jemandem, daß die Geister sich hier unterhalten, sonst hält man dich noch für verrückt«, hatte Jory mich gewarnt. Wir hatten schon eine Verrückte in unserer Familie – die Mutter von unserem Daddy, die in einer Klapsmühle in Virginia saß. Einmal jeden Sommer fuhren wir in den Osten, um sie und die alten Gräber zu besuchen. Mammi wollte nie mitgehen in das lange Ziegelgebäude. Leute in schönen Kleidern wanderten über grüne Wiesen hinter der hohen Mauer, und niemand würde auf den Gedanken kommen, sie hätten nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn nicht überall Wärter in weißen Kitteln rumgelaufen wären.
Jeden Sommer fragte Mammi, wenn Daddy von dem Besuch bei seiner Mutter zurückkam: »Na, geht es ihr besser?« Und Daddy blickte ganz traurig, bevor er antwortete: »Nein, keine großen Fortschritte … Aber es würde ihr bestimmt besser gehen, wenn du ihr vergeben könntest.«
Dann ging Mammi immer richtig hoch. Sie tat so, als wäre ihr am liebsten, wenn diese Großmutter für immer da eingeschlossen bliebe.
»Hör mir genau zu, Christopher Meißner!« fuhr Mammi unseren Daddy an. »Sie ist diejenige, die auf den Knien um Verzeihung bitten muß – Sie muß uns um Verzeihung bitten!«
Letzten Sommer waren wir nicht in den Osten gefahren. Ich haßte die ollen Gräber, die olle Madame Marisha mit ihren schwarzen, steifen Kleidern, ihrem hohen Turm aus weißem und schwarzem Haar – und es machte mir auch gar nichts aus, wenn zwei alte Damen da unten im Osten nie wieder Besuch von uns bekamen. Und was die in den Gräbern da unten anging – sollten sie ohne Blumen auskommen! Zu viele tote Leute in unserer Familie, die uns das Leben mies machten.
»Los, Bart!« rief Jory. Er war schon an dem Baum auf unserer Seite der Mauer hochgeklettert und wartete nun oben auf der Mauer auf mich. Ich schaffte den Aufstieg glatt, dann suchte ich mir einen Platz neben Jory, der darauf bestand, daß ich mich gegen den Baumstamm gelehnt setzte – nur vorsichtshalber. »Weißt du was?« meinte Jory. »Eines Tages, da werde ich Mam ein Haus kaufen, das genauso groß ist. Ich höre immer mal wieder, wie sie mit Dad über große Häuser redet. Deshalb denke ich mir, sie will ein noch größeres, als wir es jetzt schon haben.«
»Stimmt, sie reden ’ne Menge über große Häuser.«
»Mir gefällt unser Haus besser«, sagte Jory, während ich damit begann, mit den Fersen gegen die Mauer zu hämmern, unter deren abbröckelndem weißen Verputz Ziegelsteine zum Vorschein kamen. Mammi hatte mal gemeint, sie fände, die durchscheinenden Ziegel gäben der Sache einen »interessanten Farbkontrast.« Ich tat, was ich konnte, um die Mauer noch interessanter zu machen.
Aber ganz bestimmt konnte man sich in einem großen Haus wie dem von nebenan im Dunkeln verlaufen und tagelang umherirren. Keines der Badezimmer funktionierte. Kein Wasser. Verrückte Spülsteine ohne Wasser und blöde Kartoffelkeller ohne Kartoffeln und Weinkeller ohne Wein.
»Mensch, wär’ es nicht toll, wenn hier nebenan eine große Familie einziehen würde?« meinte Jory, der sich wie ich wünschte, es wären endlich viele Kinder in der Nähe, mit denen wir Freundschaft schließen und spielen konnten. Wir hatten niemanden außer uns selbst, sobald wir aus der Schule nach Hause kamen.
»Und wenn sie zwei Jungs und zwei Mädchen hätten, das wäre genau richtig«, meinte Jory und träumte weiter. »Wäre doch hübsch, nette Mädchen gleich nebenan wohnen zu haben.«
Klar, wäre das hübsch. Ich könnte wetten, er wünschte sich, daß Melodie Reicharm nebenan einziehen würde. Dann könnte er sie jeden Tag treffen und in den Arm nehmen und küssen, wie ich das ein paarmal gesehen hatte. Mädchen! Wurde mir schlecht von. »Ich hasse Mädchen! Ich will nur Jungs nebenan!« knurrte ich. Jory lachte und erklärte mir, ich wäre erst neun und würde noch früh genug Mädchen viel mehr mögen als Jungen.
»Was ist eigentlich an Melodies Arm so reich?«
»Merkst du gar nicht, was für eine blöde Frage das ist? Das ist doch nur ihr Nachname und hat überhaupt nichts zu bedeuten.«
Gerade als ich ihm sagen wollte, daß alle Namen etwas zu bedeuten hätten, warum würde man sie sonst denn überhaupt haben, kamen zwei Lastwagen die lange Auffahrt zum Nachbarhaus herauf. He! Was war das? Außer uns kamen dort nie Menschen hin.
Wir saßen auf der Mauer und sahen den Arbeitern zu, die sich bald überall am Haus zu schaffen machten. Einige kletterten auf das Dach, von dem Mammi uns gesagt hatte, das wäre eine ›Pantile‹ und suchten nach Schäden. Andere liefen mit Leitern und Farbsprühdosen und Eimern ins Haus. Einige hatten große Tapetenrollen unter dem Arm. Ein anderer Trupp begann die Fenster zu untersuchen, und einige sahen sich auch im Garten mit seinen verwilderten Büschen und Bäumen um.
»Das ist ja was!« sagte Jory und sah sehr aufgeregt aus. »Irgend jemand muß das Anwesen gekauft haben. Jede Wette, da zieht jemand ein, sobald alles repariert ist.«
Ich wollte aber keine Nachbarn, die Mammis und Daddys »Zurückgezogenheit« störten. Die ganze Zeit redeten sie davon, wie schön es sei, keine Nachbarn in der Nähe zu haben, die die »Zurückgezogenheit störten«.
Wir blieben auf der Mauer, bis es dunkel wurde, dann gingen wir in unser Haus und sagten unseren Eltern kein Wort davon – denn wenn man etwas erst mal laut aussprach, dann war es auch wirklich wahr. Gedanken zählten nicht.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und wir fuhren zu einem Picknick an den Strand. Dann kam der Montagnachmittag, und Jory und ich saßen wieder auf der Mauer, um uns die Aktivitäten nebenan anzusehen. War ganz schön nebelig und kalt, aber wir konnten genug sehen, um traurig davon zu werden. Wir würden nicht mehr rübergehen können und dort einen Platz für uns alleine haben. Wo sollten wir jetzt spielen?
»He, ihr Kinder!« rief uns an einem der nächsten Tage, als wir wieder zusahen, ein stämmiger Mann zu. »Was macht ihr denn da oben?«
»Nichts!« schrie Jory. Ich redete nie mit Fremden. Jory zog mich immer auf, weil ich mit niemandem viel sprach, nur mit mir selbst.
»Kommt, kommt, Burschen, erzählt mir nichts. Ich hab’ euch hier schon öfter gesehen! Das Haus hier ist Privatbesitz – also verschwindet hier, oder ihr bekommt es mit mir zu tun!«
Er sah richtig böse und wütend aus. Sein Arbeitsanzug war alt und schmutzig. Als er näher kam, sah ich die größten Füße meines Lebens und die schmutzigsten Stiefel. Ich war froh, daß die Mauer mehr als drei Meter hoch war, und wir uns so außerhalb seiner Reichweite befanden.
»Klar, wir spielen da drüben schon manchmal ein bißchen«, sagte Jory, der sich vor niemandem fürchtete, »aber wir machen nichts kaputt. Wir lassen alles so, wie wir es vorfinden.«
»So! Von nun an habt ihr hier überhaupt nichts mehr zu suchen!« fuhr er uns an und starrte erst Jory und dann mich an. »Eine reiche Dame hat dieses Haus gekauft, und sie will hier keine Kinder rumstrolchen sehen. Und glaubt ja nicht, ihr kämt hier mit irgendwas durch, weil sie eine alte Frau ist, die allein lebt. Sie bringt nämlich ihre Diener mit.«
Diener! Puh!
»Reiche Leute können sich alles so machen lassen, wie sie Lust haben«, murmelte der Riese am Fuß der Mauer, während er davonmarschierte. »Tu dies, tu das, und gestern muß schon alles fertig gewesen sein. Das verdammte Geld – Gott, was tät ich nicht alles, damit ich auch mal was davon abbekäme.«
Wir hatten nur Emma, deshalb waren wir wohl nicht wirklich reich. Jory sagte, Emma wäre so was wie eine Haustante, keine richtige Verwandte und auch keine richtige Hausangestellte. Für mich war sie einfach jemand, den ich schon mein ganzes Leben lang kannte, jemand, der mich nicht halb so gern hatte wie den schönen Jory. Ich mochte sie auch nicht, deshalb machte ich mir nicht viel daraus.
Wochen vergingen. Das Schuljahr ging zu Ende. Noch immer wurde nebenan gearbeitet. Inzwischen hatten Mammi und Daddy die Veränderungen nebenan mitbekommen, und sie waren nicht besonders glücklich über Nachbarn, auf deren Besuch sie keinen Wert legten. Jory und ich hatten uns schon immer gefragt, warum sie nie wollten, daß Freunde in unser Haus zu Besuch kamen.
»Das ist die Liebe«, flüsterte Jory. »Sie sind noch immer wie ganz frisch Verheiratete. Denk daran. Chris ist der dritte Mann von unserer Mam, und da ist alles noch in voller Blüte.«
Was für ’ne Blüte? Konnte da nirgendwo Blumen sehen.
Jory kam mit besten Noten auf die Highschool. Ich schaffte nur haarscharf die Versetzung in die fünfte Klasse. Haßte die Schule. Haßte das alte Haus, das jetzt wie ein neues aussah. Die schönen, unheimlichen Zeiten, als wir da drüben so viel Spaß mit den alten Gespenstern hatten, war nun vorbei.
»Wir müssen jetzt Geduld haben, damit wir die richtige Zeit erwischen, um rüberzuschleichen und uns die alte Lady anzusehen«, meinte Jory flüsternd, so daß es die Gärtner, die da unten an den Büschen und Bäumen trimmten und schnitten, nicht hören konnten. Ihr gehörte eine Menge Land, bestimmt ein paar Hektar. Da gab es verdammt viel aufzuräumen und sauberzumachen. Und die Arbeiter auf dem Dach warfen einfach alles in den Hof, der schon ganz voll mit Kartons, Dachpappe, Nägeln, zerbrochenen Ziegeln und jeder Menge anderem Müll war, der durch den eisernen Zaun an der Auffahrt hereingeweht wurde, von der Straße, die Jory die »Liebesstraße« nannte.
Der widerwärtige Vorarbeiter sammelte Bierdosen auf, während er zu uns an die Mauer kam. Schon unser Anblick ließ ihn die Stirn runzeln, obwohl wir doch überhaupt nichts angestellt hatten. »Wie viele Male muß ich euch das eigentlich noch erzählen, Burschen?« brüllte er. »Zwingt mich nicht, es noch einmal zu sagen!« Er stemmte seine riesigen Fäuste in die Hüften und starrte zu uns herauf. »Ich habe euch doch schon oft genug davor gewarnt, euch auf dieser Mauer herumzutreiben – also haut ab, aber schnell!«
Jory hatte keine Lust, von der Mauer zu verschwinden, wo wir doch einfach nur da saßen und niemandem etwas taten.
»Seid ihr taub?« schrie er uns an.
Blitzartig wurde Jorys Gesicht, das sonst so hübsch war, richtig gemein. »Nein, wir sind nicht taub! Wir leben hier. Diese Mauer steht genau auf der Grenze, und sie gehört uns genauso wie ihr. Unser Dad sagt das. Also sitzen wir hier oben und sehen uns alles an, solange wir Lust dazu haben. Und wagen Sie ja nicht noch einmal, uns anzuschreien und zu sagen, wir sollten hier abhauen!«
»Kluges Kerlchen, was?« murmelte er und verzog sich, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, wo ich doch mindestens genauso klug war – auch wenn ich es nicht jeden merken ließ.