Читать книгу Das Haus im Nebel - V.C. Andrews - Страница 11
ОглавлениеKAPITEL ZWEI
Ich kann meine Geschichte wirklich mit ›Es war einmal‹ anfangen, weil es einmal eine Zeit gab, in der ich wirklich glaubte, eine kleine Prinzessin in einem Märchen zu sein. Meine Mutter und ich leben immer noch in dieser Villa in Beverly Hills, in der ich aufwuchs. Manche Leute würden sie ein Schloss nennen, weil sie diesen runden Turm mit dem hohen, spitzen Dach hat. Dort befindet sich auch die Haupteingangstür.
Es ist ein großes Haus. Wenn es kein Haustelefon gäbe, bekäme meine Mutter von dem Versuch, mich zu rufen, jeden Tag Halsschmerzen. Und wenn ich nicht ans Haustelefon gehe, ruft sie mich auf meinem Telefon an. Ich habe Anklopffunktion, und wenn ich gerade mit jemandem telefoniere, ruft sie mich an und sagt: ›Misty, ich brauche dich unten. Hör auf zu telefonieren. Ich weiß, dass du gerade wieder telefoniert hast.‹
Natürlich hat sie Recht. Ich telefoniere normalerweise auch. Als wir noch eine glückliche kleine Familie waren und Lächeln wie Ballons durch das Haus schwebten, erzählte mein Daddy immer, dass ich mit einem Telefonhörer am Ohr auf die Welt kam und deshalb die Geburt für meine Mutter so schwierig war.
Ich hielt inne und schaute Dr. Marlowe an.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen je erzählt habe, wie viel Schwierigkeiten ich meiner Mutter gemacht habe, als es so weit war, mein Gesicht zu zeigen. Sie lag über zwanzig Stunden in den Wehen. Manchmal, wenn sie mich an meine schwierige Geburt erinnert, werden es vierundzwanzig Stunden; einmal waren es sogar achtundzwanzig Stunden.« Ich sah die anderen Mädchen an. »Ich sagte ihr, das beweise nur, dass ich nicht hier sein wollte.«
Ich warf die Hände hoch und hopste auf dem Sofa.
»›Nein, nein‹, schrie ich im Mutterleib. ›Ihr Ärzte, lasst eure Pfoten von mir.‹«
Jade und Star lachten. Selbst Cathy ließ sich zu einem kleinen Lächeln hinreißen.
»Das hattest du mir bereits erzählt, allerdings nicht so farbenfroh«, sagte Dr. Marlowe.
»Ja, also das stimmt. Sie musste hinterher auch genäht werden. Also, sie liebt es, diese Geschichte in allen grausigen Einzelheiten zu schildern, das Erbrechen, das Blut, die Schmerzen, alles.«
»Warum, glaubst du, tut sie das?«, fragte Dr. Marlowe.
»Aha, wir stellen also Fragen«, feuerte ich zurück. Sie lachte.
»Eine berufsmäßige Angewohnheit«, erklärte sie.
»Sie will, dass ich mich schuldig fühle und sie mir Leid tut, damit ich für sie gegen meinen Vater Partei ergreife«, sagte ich. »Ständig erzählt sie mir, wie viel einfacher Männer es haben, besonders in der Ehe. Nun? Das ist doch der Grund, oder?«
Dr. Marlowes Gesicht blieb ausdruckslos wie eine leere Schiefertafel. Es war aber gar nicht nötig, dass sie zustimmte. Ich wusste, dass es stimmte.
»Auf jeden Fall glaubte ich früher einmal, ich sei eine Prinzessin, weil ich alles haben konnte, was ich wollte. Ich bekomme immer noch alles, was ich haben will, seit ihrer Scheidung vielleicht sogar noch mehr. Meine Mutter beklagt sich immer über die Höhe der Unterhaltszahlungen, die sie bekommt. Nie ist es genug, und wenn mein Daddy mir etwas schenkt, stöhnt sie, dass er dafür genug Geld hat, aber nicht genug, um ihr einen anständigen Unterhalt zu gewähren. Die Wahrheit ist, dass ich es hasse, irgendetwas geschenkt zu bekommen. Das führt nur zu noch mehr Klagen. Manchmal ist es so schlimm, dass ich mir die Ohren zuhalten muss!«, rief ich.
Ich tat das auch in dem Augenblick, und alle starrten mich an. Nach einem Augenblick verging dieses Gefühl. Ich holte tief Luft und fuhr fort.
»Manchmal stelle ich mir mein Leben in Farben vor.«
Ich sah, wie Jade eine Augenbraue hochzog. Vielleicht machte sie das auch, überlegte ich.
»Als ich noch klein war und wir eine perfekte Familie darstellten, war alles leuchtend rosa oder strahlend gelb. Nach ihrer Trennung und dem ganzen Ärger wurde die Welt grau, alles verblasste. Ich kam mir vor wie Dornröschen, als die Uhr Mitternacht schlug. Ich hörte einen Glockenschlag, einen Knall und war nicht länger eine Prinzessin. Ich war eine … eine …«
»Eine was?«, fragte Dr. Marlowe.
Ich schaute die anderen an. »Eine Waise mit Eltern.«
Jade nickte, ihre Augen leuchteten jetzt stärker. Star wirkte sehr ernst, und Cathy hob plötzlich den Kopf, als hätte ich etwas gesagt, das ihr sehr sinnvoll erschien.
»Mein Vater arbeitet für eine Risikokapitalfirma und reist viel. Es fiel mir immer schwer zu erklären, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Andere Kinder meines Alters konnten mit einem oder zwei Worten sagen, was ihre Eltern taten: Anwalt, Arzt, Zahnarzt, Apotheker, Einkäufer, Krankenschwester.
Mein Vater analysiert Investitionen, steckt Geld in Geschäfte und schafft es irgendwie, diese Firmen zu übernehmen und sie dann Profit bringend wieder zu verkaufen. So jedenfalls erklärte er es mir. Ich erinnere mich daran, dass ich das nicht fair fand. Die Firma eines anderen zu übernehmen und wieder zu verkaufen hörte sich an, als sei es nicht richtig. Ich fragte ihn einmal danach, und er antwortete: ›So darfst du das nicht sehen. Es ist ein Geschäft.‹
Alles ist für ihn auf die eine oder andere Weise ein Geschäft. Mit diesem Begriff kann er alles, was auf der Welt passiert, erklären. Vielleicht ist sogar Liebe für ihn ein Geschäft«, überlegte ich. »Dass die ganze Scheidung für ihn eine geschäftliche Angelegenheit ist, weiß ich. Meine Mutter ruft ständig den Steuerberater oder den Anwalt an.
Mommy war fürchterlich dahinter her, alle Spuren von Daddy aus dem Haus zu tilgen. Tagelang, nachdem er gegangen war, suchte sie die Zimmer nach Hinweisen dafür ab, dass er jemals dort gelebt hatte. Fotos, auf denen sie ihrer Meinung nach gut aussah, schnitt sie sogar entzwei. Sie verschenkte oder verkaufte viele schöne Sachen, weil er sie gemocht oder benutzt hatte, sogar das teure Werkzeug in der Garage. Ich sagte ihr, dass sie das ersetzen müsste, aber sie erwiderte: ›Zumindest hat das nicht sein Stigma.‹
Sein Stigma?, überlegte ich. Was war denn stärker von ihm gebrandmarkt als ich? Bis zu einem gewissen Grad glich ich ihm doch, oder? Manchmal erwischte ich sie tatsächlich dabei, wie sie mich anstarrte. Dann fragte ich mich, ob sie nicht überlegte, dass ich ihm zu ähnlich sehe. Wie konnte sie das ändern? Vielleicht würde sie mich zu ihrem plastischen Chirurgen schicken und ihn bitten, die Spuren meines Vaters aus meinem Gesicht zu tilgen.
Im Wohnzimmer hatten wir einen großen kuscheligen Sessel, so einen mit einer Fußstütze, die hochklappt, dass man praktisch liegen kann. Daddy liebte diesen Sessel und verbrachte darin die meiste Zeit, wenn er im Wohnzimmer war. Ich weiß, es hört sich seltsam an, aber in den ersten Tagen der Trennung, bevor meine Mutter das Haus von allem reinigte, das an ihn erinnerte, rollte ich mich in diesem Sessel zusammen und schmiegte mein Gesicht daran, um seinen Geruch zu spüren und so zu tun, als sei er noch da und wir wären noch eine kleine glückliche Familie.
Dann verkaufte sie den Sessel eines Nachmittags, als ich in der Schule war, einem Secondhandgeschäft. Eine Zeit lang stand nichts an dieser Stelle, nur ein leerer Fleck. Empfindet ihr nicht alle manchmal diesen leeren Fleck, wenn ihr neben eurem Vater oder eurer Mutter geht und auf der anderen Seite ist niemand? Ich schon!«, sagte ich, bevor sie antworten konnten. Plötzlich war mein Kopf erfüllt von schrillen Klagen. Einen Augenblick lang schloss ich die Augen, bis es vorüberging, dann holte ich noch einmal tief Luft.
»Nachdem ich geboren worden war, hatte ich lange Zeit eine Nanny. Meine Mutter musste sich von meiner schrecklichen Geburt erholen, und die Kinderschwester, die mit uns nach Hause kam, verwandelte sich in eine Vollzeitbetreuerin. Sie hieß Mary Williams.«
Ich warf Star einen Blick zu.
»Sie war eine Schwarze. Als sie bei uns wohnte und sich um mich kümmerte, war sie Mitte dreißig, aber wenn ich mich jetzt an sie erinnere, kam sie mir viel älter vor. Sie war bei uns, bis ich vier wurde und in die Vorschule kam.«
Ich lachte.
»Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter ein großes Theater darum machte, dass sie nicht zu viel Sonne abbekam, weil das Falten verursacht. Ich dachte, Marys braune Haut käme von der Sonne.«
Star schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf.
»Ich glaube, ich stellte ständig Fragen. Meine Mutter erzählte mir, dass ich sie, als ich klein war, mit meinem ›warum dies‹ und ›warum das‹ völlig erschöpfte. Sie versuchte im wahrsten Sinne des Wortes vor mir davonzulaufen, aber ich kam immer hinter ihr her, nur machte ich immer warum, warum, warum statt quak, quak, quak!«
Cathys Lächeln wurde breiter, aber es war nur ein halbes Lächeln, nur ihr Mund war beteiligt. Ihre Augen blieben dunkel, misstrauisch, ja ängstlich. Sie war wirklich wie eine Katze, dachte ich. Cathy, die Katze.
»Wenn mein Vater nicht auf Reisen war, veranstalteten wir großartige Familienessen. Manchmal glaube ich, dass ich das am meisten vermisse. Wir haben in unserem Haus dieses ewig lang gestreckte Esszimmer. An einem Ende des Tisches sitzt man an dieser Küste und am andere an der Ostküste.«
Dr. Marlowes ausdrucksloser Blick erhellte sich ein wenig, ein winziges Lächeln spielte um ihre Lippen.
»Mir wurde natürlich die beste Etikette beigebracht, und meine Mutter rechtfertigte diesen Aufwand damit, dass ich eine schöne junge Frau sei und mich in den besten Kreisen bewegen würde, also sollte ich mich auch entsprechend benehmen. Schöne junge Frau. In was für einer Welt lebt sie eigentlich?« Ich warf Jade, die nickte, einen Blick zu.
»Auf jeden Fall konnte man sich kein höflicheres Kind denken. Ich sagte immer bitte und danke und unterbrach nie einen Erwachsenen.
Normalerweise brachte Daddy mir von jeder Reise eine Puppe mit, manche von ihnen aus anderen Ländern. Ich hatte genug Spielzeug, um damit einen Laden zu füllen. Meine Schränke waren voll gestopft mit modischer Kleidung, Dutzenden Paaren Schuhe, und ich besitze einen Schminktisch mit einem ovalen Elfenbeinspiegel. Ich habe die besten Föhns, die neuesten Hautlotionen und Pflanzenpräparate. Bei mir zu Hause ist es sehr wichtig, schön zu sein.«
Ich hielt inne und stierte einen Moment zu den Terrassentüren hinaus.
Mein Daddy ist ein sehr gut aussehender Mann. Er achtet auch sehr auf sich. Er ist Mitglied in einem dieser schicken Fitnessstudios. Dort hat er auch Ariel kennen gelernt, seine lebende Barbiepuppe.
Daddy hat einen gleichmäßig gebräunten Teint und dichtes flachsblondes Haar. In letzter Zeit trägt er es länger. Meine Mutter behauptet, er versuche zwanzig Jahre jünger auszusehen, um sich so seinem Reifegrad anzupassen. Ständig kritisieren sie einander auf solche Weise, und ich soll daneben sitzen oder stehen und so tun, als wäre es mir egal, oder dem einen oder anderen zustimmen.«
Ich merkte, wie ich die Augen wütend zusammenkniff.
»Ich kann gar nicht glauben, dass ich meine Eltern früher für so vollkommen hielt. Ich fand, meine Mutter sei so schön wie ein Filmstar. Auf jeden Fall verbrachte sie so viel Zeit mit Make-up und Garderobe wie ein Filmstar. Bis zum heutigen Tag setzt sie keinen Fuß vor die Tür, ohne perfekt geschminkt und frisiert zu sein und zueinander passende Kleidung, Schuhe und Schmuck zu tragen. Sie beschwert sich darüber, dass mein Daddy versucht, jung auszusehen und zu bleiben, aber wenn sie auch nur ein graues Haar sieht oder eine Falte ahnt, fällt sie ins Koma. Sie hat sich von einem plastischen Chirurgen oder, wie sie es nennt, von einem Schönheitschirurgen operieren lassen, um die Haut unter ihrem Kinn und unter ihren Augen straffen zu lassen. Ich soll das natürlich niemandem erzählen. Sie lebt dafür, dass jemand ihr ein Kompliment darüber macht, wie jung sie aussieht. Dann zieht sie diese Show ab, wie streng sie ihre Diät einhält, nur pflanzliche Medizin benutzt, diese spezielle Hautcreme verwendet und regelmäßig Gymnastik betreibt. Die Wahrheit sagt sie nie.
Es ist seltsam, wenn du klein bist, entgehen dir all diese kleinen Lügen. Sie treiben direkt an dir vorbei, aber du wunderst dich nicht darüber. Lange Zeit glaubst du, das sei etwas, was Erwachsene auch noch tun, wenn sie keine Kinder mehr sind – so tun, als ob. Eines Tages wirst du dann wach und dir ist klar, dass der Großteil deiner Welt auf falschem Schein aufgebaut ist. Meine Eltern haben einander jahrelang angelogen, bevor sie sich endlich entschieden, dies zuzugeben, und sich scheiden ließen.
Als ich etwa zwölf Jahre alt war, fand meine Mutter heraus, dass mein Vater eine Affäre mit einer Frau aus seiner Firma hatte, die mit ihm eine Geschäftsreise nach Texas unternommen hatte. Er hatte irgendeinen dummen Fehler mit den Rechnungen gemacht, und sie wartete auf ihn, als er nach Hause kam. Mit dem Beweisstück auf dem Schoß wie eine Pistole, die sie gegen ihn richten wollte, saß sie im Flur.
Ich war in meinem Zimmer und telefonierte mit meiner besten Freundin Darlene Stratton, als ich unten etwas gegen die Wand krachen und zerschmettern hörte. Sie hatte ihm eine wertvolle chinesische Vase entgegengeschleudert. Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann begann das Geschrei. Ich musste auflegen, um zu sehen, was los war. Auf Zehenspitzen schlich ich mich oben an die Treppe und hörte, wie meine Mutter losbrüllte über diese Frau und meinen Vater und seinen Betrug. Er machte ein paar schwache Versuche, es abzustreiten, aber als sie ihn mit dem Beweismaterial konfrontierte, gab er ihr die Schuld.«
»Wie konnte er ihr denn die Schuld geben?«, fragte Star, die plötzlich viel interessierter wirkte.
»Damals erfuhr ich zum ersten Mal, dass sie sexuelle Probleme hatten. Er sagte, sie sei frigide, und wenn sie miteinander schliefen, würde sie sich ständig über die Schmerzen beklagen. ›Das ist doch nicht normal‹, sagte er. ›Du musst deshalb zum Arzt gehen.‹
›Ich bin bei meinem Gynäkologen gewesen, und der sagte, mit mir sei alles in Ordnung. Du suchst nur nach einer Entschuldigung. ‹
›So einen Arzt meine ich doch nicht. Du solltest zum Psychiater gehen‹, empfahl er ihr. ›Jedes Mal, wenn ich mit dir schlafe, gibst du mir das Gefühl, ich würde dich vergewaltigen.‹
Sie fing an zu weinen, er entschuldigte sich für die Affäre und behauptete, es sei in einem schwachen Moment passiert, nachdem er zu viel getrunken hatte.
Ich saß regungslos auf der Treppe und lauschte. Er sagte, er sei einfach einsam gewesen.
›Ich schwöre dir, dass ich sie nicht liebe. Es hätte jede sein können‹, sagte er, aber das machte meine Mutter nur noch wütender.
›Was meinst du, wie ich mich fühle‹, schrie sie, ›wenn ich weiß, dass du mit jeder x-Beliebigen schlafen würdest und dann zu mir ins Bett kriechst?‹
Er entschuldigte sich immer wieder und versprach auch, dass es nie wieder passieren würde, aber er bat sie auch, einen Psychiater aufzusuchen.
›Du versuchst doch nur, dich aus der Verantwortung zu stehlen‹, beschuldigte sie ihn erneut. ›Du versuchst mich zum Bösewicht zu machen. Also, das läuft nicht! Das läuft nicht!‹ Sie kam die Treppe hoch, und ich verzog mich wieder in mein Zimmer.
Noch tagelang hinterher war es, als seien beide stumm geworden. Wenn ich beim gemeinsamen Essen nicht redete, tat es niemand. Beide benutzten das Schweigen wie ein Messer, mit dem sie dem anderen ins Herz schnitten, bis meine Mutter sich eines Tages ein teures Kleid für irgendein gesellschaftliches Ereignis, an dem sie teilnehmen mussten, kaufte und mein Vater ihr sagte, wie fantastisch sie darin aussehe.
Plötzlich waren die Schleusentore der Vergebung geöffnet, und beide taten so, als hätten sie nie gestritten. Es gab mir das Gefühl, als lebte ich in einem Traum, in dem Menschen, Worte und Ereignisse einfach zerplatzten und niemand wusste, ob es je geschehen war. Natürlich wusste ich nicht, wie ernst das Problem wirklich war.
Ich hielt inne.
Emma Marlowe balancierte ein Tablett durch die Tür, auf dem ein Krug mit Limonade und einige Gläser standen. Auch ein Teller mit Chocolate-Chip-Keksen war dabei.
»Ich dachte, das wäre Ihnen vielleicht angenehm, Dr. Marlowe«, meinte sie. In unserer Gegenwart nannte sie ihre Schwester immer Dr. Marlowe. Ich fragte mich, ob sie es auch noch tat, wenn wir weg waren.
»Danke, Emma«, sagte Dr. Marlowe.
Sie stellte das Tablett auf den Tisch, warf uns allen einen Blick zu und lächelte, bevor sie wieder hinausmarschierte. »Bedient euch«, forderte Dr. Marlowe uns auf.
Ich nahm ein Glas Limonade, weil meine Kehle vom vielen Reden trocken war. Auch Star goss sich ein Glas ein, Jade und Cathy jedoch nicht. Dr. Marlowe bediente sich und trank, den Blick auf mich gerichtet. Ich dachte einen Moment nach. Durch das Reden über meine Eltern waren Schubladen, voll gestopft mit Erinnerungen, die ich etikettiert und abgelegt hatte, wieder geöffnet worden, Erinnerungen, die ich für immer begraben glaubte.
»Ich erinnere mich an die Karten, so viele Karten, Karten für jede Gelegenheit. Keiner von ihnen vergaß je den Geburtstag des anderen oder ihre Jahrestage.«
»Jahrestage?«, fragte Jade. »Wie oft waren sie denn miteinander verheiratet?«
»Nicht nur den Hochzeitstag. Sie feierten Jahrestage von allem und jedem … das erste Rendezvous, die Verlobung, so was. Viele von ihnen waren geheim, aber ich konnte mir leicht vorstellen, um was es ging«, sagte ich mit einem Blick auf Cathy. »Dass sie zum ersten Mal miteinander geschlafen haben.« Cathy lief rot an.
»Außerdem haben sie, glaube ich, tatsächlich zweimal geheiratet«, fügte ich an Jade gewandt hinzu. »Beim ersten Mal taten sie es nur für sich, beim zweiten Mal war es für die Verwandten. Sie sprachen immer davon, dass sie ihr Eheversprechen erneuern wollten, wenn sie zwanzig Jahre verheiratet waren. Es klang so romantisch und wunderbar, dass ich mich sogar darauf freute. Ich sollte die Brautjungfer sein und Blumen tragen. Vielleicht gehe ich an dem Tag zu irgendeiner anderen Hochzeit.«
»Wie meinst du das?«, fragte Star mit einem verwirrten Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. »Zu wessen Hochzeit gehst du denn dann?«
»Das ist mir egal. Zu irgendeiner. Ich schaue in der Zeitung nach, gehe dahin und sehe zu, wie sie heiraten. Dabei stelle ich mir vor, die beiden Menschen wären meine Eltern und alles wäre so wunderschön, wie sie immer gesagt hatten.«
»Aber …«, widersprach Jade mit einem verwirrten Gesichtsausdruck.
»So wunderschön, wie sie immer gesagt hatten!«, schrie ich sie an. Sie starrte mich nur an. Alle waren still. Unter meinen Augenlidern brannten Tränen.
»Trink noch einen Schluck Limonade«, forderte Dr. Marlowe mich sanft auf. »Nur zu, Misty.«
Ich hielt die Luft an und tat, was sie sagte. Alle schauten mich an. Ich schloss einen Moment die Augen, zählte bis fünf und machte sie wieder auf. Dr. Marlowe nickte leicht.
»Möchtest du aufhören?«, fragte sie.
»Nein«, fauchte ich und trank noch etwas Limonade.
»Meine Mutter hat diese Karten immer noch«, fuhr ich fort.
»Sie will nicht, dass ich das weiß, aber ich habe sie gesehen, in einer Schachtel hinten in ihrem Schrank. Eine Menge lustiger Karten, Karten, die ihr mein Daddy einfach nur geschickt hatte, um ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte oder wie schön er sie fand und was er für ein Glück hatte, sie zu haben.«
Ich richtete den Blick auf Dr. Marlowe.
»Ich habe Sie das schon einmal gefragt«, sagte ich mit zornerfüllter Stimme, »aber wie können Menschen so etwas zueinander sagen und es zu dem Zeitpunkt auch so meinen und dann einfach vergessen, dass sie jemals so etwas gesagt haben?«
Als ich sah, dass sie mir keine Antwort geben würde, schaute ich weg und fuhr fort, bevor sie wie üblich »Was meinst du denn?« fragen konnte.
»Als ich ein kleines Mädchen war, glaubte ich, dass ich eines Tages so schön würde wie meine Mutter. Die Leute sagten immer, ich sähe genau aus wie sie. Wir hatten die gleiche Nase und den gleichen Mund. Aber ich habe Daddys Augen. Ich weiß das, aber das ist in Ordnung, weil er schöne Augen hat. Mommy gibt das selbst heute noch zögernd zu. Schließlich will sie nicht, dass jemand glauben könnte, eine so gut aussehende Frau wie sie hätte einen hässlichen Mann geheiratet. Das ist so eine Art … na, wie nennt man das noch …«
»Paradox?«, schlug Star vor.
»Ja, genau. Danke. Auf jeden Fall machte es Mommy nichts aus, dass ich sie nachäffte, mit Make-up herumexperimentierte und versuchte, mir die gleiche Frisur zu machen wie sie. Sie fasste das als Kompliment auf. Ich versuchte zu gehen wie sie, essen wie sie, reden wie sie, weil ich glaubte, dass mein Vater sich deshalb in sie verliebt hatte, und ich wollte doch, dass mein Vater mich auch immer liebte«, sagte ich.
»Ich fragte meine Mutter, warum ich keinen größeren Busen habe, und sie erwiderte, mit mir sei doch alles in Ordnung, weil ich selbstbewusst sei. Selbstbewusst und clever, so bin ich nun mal. Dabei fühle ich mich wie eine Zwölf jährige«, gestand ich.
Als ich Cathy einen Blick zuwarf, schaute sie schuldbewusst drein und verschränkte die Arme vor ihrem üppigen Busen. Als könnte sie ihn je verbergen. Ich seufzte und redete weiter. Plötzlich holte Cathy so tief Luft, dass wir alle erstarrten und sie ansahen. Den Blick zur Decke gerichtet, presste sie die Hände gegen den Busen, als spräche sie ein Gebet. Ich schaute Star an, die die Achseln zuckte. Dr. Marlowe trank einen Schluck Limonade und wartete ab. Ich hasste ihre Geduld, ihre verdammte Toleranz und ihr Verständnis. Wo waren ihre verborgenen Verletzungen, ihre Schmerzen und Enttäuschungen? Ich war kurz davor, meinen Zorn gegen sie zu richten. Da sah sie den wütenden Ausdruck in meinen Augen.
»Wir machen eine Pause, damit ihr euch frisch machen könnt«, sagte sie.
»Ich muss nicht gehen«, sagte ich, weil ich weiterreden wollte. Ich wusste, dass sie mich manipulierte. Nichts hasste ich mehr auf der Welt, als manipuliert zu werden.
»Also, ich muss gehen«, sagte Jade und schlenderte hinaus, als sei sie ein Model auf dem Laufsteg.
Star schaute zu mir herüber und erhob sich dann ebenfalls. Cathy kniff die Augen zusammen, bevor sie den Blick wieder senkte.
Ich lehnte mich zurück gegen die Kissen des Sofas und fragte mich, was diese kleine Gruppe an sich hatte, dass es mir möglich war, ihnen die tiefsten Geheimnisse meines Herzens anzuvertrauen.