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KAPITEL SECHS

Die Luft roch süß nach den frischen Düften des Frühlings. Jetzt, wo wir nach dem Mittagessen draußen waren, ging es uns noch schlechter bei der Vorstellung, wieder hineinzugehen und unseren geheimen Alpträumen wieder begegnen zu müssen. Dr. Marlowe ging mit gesenktem Kopf einher, die Arme verschränkt, mit hängenden Schultern. Meine Mutter würde ihre Haltung stark kritisieren. Wir vier bleiben ein bisschen hinter ihr zurück, gingen aber auch nicht wirklich zusammen. Cat bildete den Schluss, ging am langsamsten und ließ den Blick misstrauisch von Jade über Star zu mir wandern.

»Mein Gärtner meint, ich muss all diese Oleanderbüsche dort hinten herausreißen lassen«, meinte Dr. Marlowe und nickte in Richtung auf das Ende ihres Grundstückes. »Irgendeine Seuche grassiert dort. Er möchte, dass ich dort etwas Neues anpflanze, damit es in den Sommermonaten wachsen kann.«

»Kann er sie denn nicht heilen?«, fragte Star.

»Er meint nicht.«

»Besorgen Sie sich einen anderen Gärtner«, schlug Jade vor. Dr. Marlowe lachte.

»Nein, er ist sehr gut. Er arbeitet schon seit Jahren für mich. Es ist leichter, die Pflanzen zu ersetzen als den Gärtner.«

»Wie schade, dass man nicht das Gleiche mit Eltern machen kann«, sagte ich. Alle schauten mich an. Ich zuckte die Achseln. »Sie funktionieren nicht, also ersetzen wir sie einfach durch welche, die es tun.«

»Keiner von uns hat Garantien für irgendetwas in diesem Leben, Misty«, erinnerte mich Dr. Marlowe. »Wir müssen einfach lernen, damit fertig zu werden und weiterzumachen.«

»Für einen anderen ist es immer einfacher, das zu sagen«, murmelte Jade. Star nickte.

»Das stimmt«, bestätigte sie.

»Ich bin kein anderer«, erklärte Dr. Marlowe. »Ich bin nicht nur eure Therapeutin«, fuhr sie fort. »Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich ein wenig jünger war als ihr. Ich glaube, das brachte mich darauf, Psychiaterin zu werden … mein eigener Schmerz.«

»Sind Sie deshalb nicht verheiratet?«, fragte Jade sie.

»Das ist eine andere Geschichte«, antwortete sie. »Außerdem bin ich hier die Therapeutin, erinnert ihr euch? Ich stelle die Fragen. Kommt, wir gehen weiter um das Haus herum und dann wieder hinein«, schlug sie vor.

Jade warf mir einen verschwörerischen Blick zu, und ich erwiderte ihn.

»Komm schon, Mädchen«, trieb Star, die darauf wartete, dass Cathy sie einholte, sie an. »Du gehst ja langsamer als meine Oma.«

Überrascht, dass Star stehen blieb, holte Cathy sie rasch ein.

Alle gingen wieder zur Toilette. Ich wollte mir nur kaltes Wasser über das Gesicht laufen lassen. Wir mussten auf Cathy warten, die so lange brauchte, dass wir uns schon fragten, ob sie gegangen war.

»Entschuldigung«, sagte Cathy, als sie schließlich hereinkam und Platz nahm.

»Wir wollen Misty jetzt fortfahren lassen und unsere Sitzung beenden. Es wird spät, und ihr habt sicher an einem so schönen Tag noch etwas anderes vor.«

»Ich glaube, was mir die größten Sorgen bereitet, worüber ich am meisten nachdenke, ist, was ihre Scheidung für mich bedeutet. Bevor ich Daddy in seinem neuen Zuhause besuchte, traf ich ihn an einem Samstag, nachdem er ausgezogen war, zum Mittagessen. Das war etwas, was wir noch nie zuvor getan hatten, zusammen in einem Restaurant zu Mittag essen ohne meine Mutter. Er lud mich ein, weil die Pläne, ihn in seiner neuen Wohnung zu besuchen, verschoben werden mussten wegen einer dringenden Geschäftsreise, wie er es nannte. Später fand ich heraus, dass er mit seiner neuen Freundin nach San Francisco reiste.

Aber damals fand ich es aufregend, ihn in einem schicken Restaurant in Beverly Hills zu treffen. Er schickte mir ein Taxi, was mich sofort an eine der Lieblingsleiern meiner Mutter denken ließ, dass es ihm immer gelang, jemand anders seine Pflichten erfüllen zu lassen.

›Warum konnte er dich nicht selbst abholen? Es ist Samstag. Er kann jetzt keinen geschäftlichen Termin haben. Es ist ihm nur unbequem, das ist alles; deshalb schickt er ein Taxi. Ein typisches Jeffrey-Foster-Verhalten‹, tobte sie.

›Wie kannst du ihn jetzt so hassen, wo du ihn früher doch geliebt hast?‹, fragte ich sie.

›Das frage ich mich auch ständig‹, erwiderte sie. Sie überlegte einen Augenblick und fügte dann hinzu: ›Ich war einfach blind und weigerte mich, seine Schwächen und Fehler zuzugeben. Ich wollte der Tatsache nicht ins Auge sehen, dass ich solch einen Fehler begangen hatte. Ich weiß auch nicht. Ich war einfach zu jung zum Heiraten. Ich war hoffnungslos romantisch, und als ein Mann mir sagte, ich sei für ihn Erde, Mond und Sterne, glaubte ich, er meinte es auch so.‹ Selbstmitleid verdunkelte ihre Augen wie abendliche Schatten«, erinnerte ich mich.

»›Sie setzen dich auf einen Thron, bis sie dich heiraten und eine Weile mit dir leben; dann verwandelt sich der Thron zu Pappe, und all die Juwelen schmelzen‹, fuhr Mommy fort. ›Glaube nichts, was ein Mann dir erzählt; selbst wenn er es mit eigenem Blut schreibt‹, warnte sie mich.

All das ergab für mich keinen Sinn, und es dauerte nicht lange, bis sie selbst es vergaß und nach einem anderen Mann Ausschau hielt, der ihr Versprechungen machen sollte. Ich musste nur immer an eines denken: Wenn die Beziehung meiner Eltern solch ein kolossaler Fehler war, was war ich dann, das Produkt dieser Beziehung? Wie konnte ich denn in Ordnung sein? Ich wette, dass jemand, der als Folge einer Vergewaltigung geboren wurde, sich nicht viel anders fühlen kann als ich«, sagte ich und sah die anderen an, ob sie mir zustimmten.

»Kennst du jemanden, der als Folge einer Vergewaltigung geboren wurde?«, fragte Star mich.

»Nein.«

»Es ist nicht ganz das Gleiche«, sagte sie. Ihr Blick zeugte von Wissen, das weit über ihr Alter und meines hinausging, vielleicht sogar über das von Dr. Marlowe.

»Ich verstehe, was Misty meint«, sagte Jade. »Ich empfinde ähnlich.« Cathy nickte, um anzudeuten, dass auch sie solche Gefühle hatte.

»Ich weiß, dass meine Mutter es hasste, wenn ich ihr all diese Fragen stellte und sie zwang, sich mit der Situation auseinander zu setzen«, fuhr ich fort. »Sie wollte die Scheidung als Chance betrachten, wieder jung zu sein, und nicht als ein großes persönliches Versagen. Sie wollte so tun, als wäre sie von Ketten befreit worden, aus einem Gefängnis entlassen worden, in dem man sie daran hinderte, so jung und schön wie möglich zu sein.

Ihr glaubt es vielleicht nicht«, erzählte ich den Mädchen, »aber nach der Scheidung machte sie sich noch mehr Sorgen um ihr Aussehen als vorher. Sie lackierte ihre Nägel so oft, dass das ganze Haus nach Nagellackentferner stank. Ständig war sie beim Friseur, Hochglanzmodemagazine türmten sich bis zur Decke, und sie verbrachte Stunden damit, sie zu studieren, damit sie auch sicher sein konnte, mit der Mode zu gehen. Sie sprach sogar anders, versuchte ihre Stimme jünger klingen zu lassen, nicht nur vor Charles Allen. Eine Frage schoss mir immer wieder durch den Sinn: Wenn sie vergessen wollte, dass sie je mit Daddy verheiratet war, wenn sie wieder jung und frei sein wollte, was empfand und dachte sie dann, wenn sie mich sah? Ich konnte doch nur ein Erinnerungsstück an diesen Fehlschlag sein.

Mich interessierte auch sehr, wie mein Vater mich jetzt sah, daher war ich ganz aufgeregt, als er mich zum Mittagessen einlud.

Es war das erste vertrauliche Gespräch, das ich mit Daddy führte, seit er und meine Mutter mir mitgeteilt hatten, dass sie sich scheiden lassen wollten. Er war nicht im Restaurant, als ich eintraf, und ich begann mir schon Sorgen zu machen, als er nach fünfzehn Minuten immer noch nicht erschienen war. Der Kellner fragte mich ständig, ob ich bestellen wollte, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich überlegte schon, ob ich meine Mutter anrufen sollte, was eine Atombombenexplosion in unserer bereits zerstörten Familie ausgelöst hätte, daher versuchte ich ruhig zu bleiben.

Endlich tauchte er auf, entschuldigte sich und behauptete, im Verkehr stecken geblieben zu sein. Er küsste mich, was er schon eine ganze Weile nicht mehr getan hatte, und setzte sich.

Als Erstes fiel mir auf, wie verändert er aussah. Er ließ sich das Haar länger wachsen und war lässiger gekleidet als üblich. Früher trug er immer eine Krawatte, wenn er ausging. Er trug weder ein Jackett noch eine Stoffhose, sondern einen Trainingsanzug und Turnschuhe. Er erklärte mir, er käme aus dem Fitnessstudio.

›Das hier ist ein tolles Lokal, eines meiner Lieblingsrestaurants‹, sagte er und ließ den Blick schweifen. Dann schaute er sich die Speisekarte an. ›Alles ist sehr gut hier.‹

›Bist du mit Mommy hierher gegangen?‹, fragte ich ihn.

›Mit deiner Mutter? Nein, ich glaube nicht‹, erwiderte er. Er überlegte einen Augenblick und ergänzte dann: ›Hier treffe ich meistens Geschäftsfreunde.‹

›Ich weiß nicht, was ich bestellen soll‹, sagte ich. ›Alles ist so teuer.‹

Er lachte und sagte, er würde für mich bestellen, aber er war sich gar nicht sicher, was ich mochte, und musste immer wieder nachfragen.

›Eigentlich sollte ich das ja wissen‹, gab er zu, ›aber deine Mutter kümmerte sich immer um die Mahlzeiten. Was macht denn die Schule?‹, erkundigte er sich, nachdem er beim Kellner bestellt hatte. ›Irgendwelche Fortschritte?‹

›Nicht wirklich‹, gestand ich.

›Vielleicht sollte ich mich darum kümmern, dass du Nachhilfe bekommst‹, überlegte er laut.

Mir wurde klar, dass Mommy Recht hatte. Daddy sucht immer nach Wegen, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Als das Essen kam, redete er über seine Arbeit und seine neue Wohnung, und eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, wir wären zwei Menschen, die nicht viel voneinander wissen und sich gerade erst kennen lernen. Ich merkte, dass er genauso nervös war wie ich.

Die Scheidung war wie eine verheerende Krankheit, die nicht nur Erinnerungen auslöschte; sie verwandelte auch einen Vater und eine Tochter in Fremde.

Mitten in der Mahlzeit machte ich eine Pause, schaute ihm direkt in die Augen und fragte ihn: ›Daddy, was ist passiert? Warum haben du und Mommy euch nach so vielen gemeinsamen Jahren getrennt?‹

Er wirkte sehr unbehaglich. Er hatte mich zum Essen ausgeführt, um ein bisschen mit mir zu plaudern und dann wieder in sein neues Leben zu verschwinden, und ich zwang ihn, sich mit unserer kalten Realität auseinander zu setzen. So etwas, das Sie mit uns zu machen versuchen, Dr. Marlowe«, sagte ich, worauf sie lächelte und nickte.

»Sehr gut, Misty. Es stimmt, Mädchen«, bestätigte sie und wandte sich an die anderen. »Jede von euch praktiziert von Natur aus eine Art Therapie.«

»Vielleicht treten wir alle eines Tages in Ihre Fußstapfen, Dr. Marlowe«, sagte Jade. Sie hatte einen bissigen Unterton in ihrer Stimme, und ich spürte, dass sie trotz ihrer Schönheit und Eleganz genau solchen Schmerz empfinden musste wie ich, wenn nicht größeren.

»Es könnte Schlimmeres passieren«, entgegnete Dr. Marlowe. »Und ist es auch«, warf Jade ein.

Sie und Dr. Marlowe wechselten einen Moment Blicke, dann wandte sich Dr. Marlowe wieder mir zu.

»›Wenn du jung und verliebt bist, oder es zumindest glaubst, lässt du es manchmal nicht zu, die Fehler des geliebten Menschen zu sehen‹, begann Daddy.

›Genau das sagt Mommy auch‹, teilte ich ihm mit.

Sein Blick wurde eiskalt.

›So, sagt sie das? Was waren denn meine Fehler?‹, wollte er mit erhobener Stimme wissen. ›Ich habe doch immer gut für den Unterhalt der Familie gesorgt. Ihr hat es nie an irgendetwas gemangelt, das sie haben wollte, ganz gleich wie frivol es war‹, jammerte er.

So wie er gekleidet war, wie er redete, erweckte er bei mir plötzlich den Anschein, viel weniger reif zu sein. Ich spürte, wie all mein Respekt für ihn ebenso wie der für meine Mutter mir aus den Händen glitt wie ein nasses Stück Seife.

›Vielleicht warst du zu beschäftigt und hast ihr nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet‹, schlug ich vor.

›Behauptet sie das?‹, wollte er wissen und lehnte sich zurück. ›Nein, ich dachte nur, das könnte ein Grund sein.‹

Er starrte mich an, als ordnete er seine Gedanken, dann wirkte er ruhiger und wandte sich wieder seinem Essen zu.

›Nein, das ist es nicht‹, erwiderte er. ›Ich habe sie nie vernachlässigt. Wenn ich zu lange weg war, rief ich immer wieder an und brachte ihr immer etwas Hübsches mit. Außerdem, wenn ich mich nicht rangehalten hätte, hätte sie nicht so viel Geld für die Sachen, die sie haben wollte, ausgeben können.

›Sie ist verwöhnt‹, präsentierte er mir seine Erklärung. ›Ich nehme die Schuld auf mich. Ich habe sie verwöhnt. Nein, Misty, es kann gar keine Rede davon sein, dass ich sie vernachlässigt habe. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall. Ich habe zu viel Zeit und Geld auf sie verwendet, und sie nahm alles als selbstverständlich hin. Als ich sie dann bat, einmal innezuhalten und zu überdenken, was sie tat, beschuldigte sie mich, egoistisch und rücksichtslos zu sein.‹

›Was konnte denn so schrecklich sein, Daddy? Warum ist das passiert?‹, fragte ich ihn.

Ich glaubte nicht, dass er meine Frage beantworten würde. Er saß eine ganze Weile still da und diskutierte diese Fragen für sich. Dann schaute er mich mit solch einem ernsten Gesichtsausdruck an, dass meine Herz einen Sprung machte.

›Deine Mutter und ich haben einander nun schon eine ganze Weile nicht mehr genossen. Ich möchte dein Bild von ihr in keiner Weise beflecken. Sie ist immer noch deine Mutter, und sie wird dich immer lieben, da bin ich mir sicher, aber sie ist eine gestörte Frau. Sie hat ein ernstes psychisches Problem, das sein hässliches Haupt in unserem Bett erhebt.‹

Ich muss fürchterlich verwirrt ausgesehen haben.

Der Fachbegriff dafür lautet funktionale Dyspareunie‹, erklärte er.

Ich konnte kaum atmen. Es hörte sich so ernst an.

›Was ist das?‹, fragte ich ihn.

›Jedes Mal, wenn wir miteinander schlafen, oder schliefen, sollte ich wohl sagen, leidet sie unter anhaltenden genitalen Schmerzen. Schließlich zwang ich sie, ihren Gynäkologen aufzusuchen, aber der meinte, organisch sei alles mit ihr in Ordnung. Mit anderen Worten, es ist psychisch. Ich nahm mir die Zeit, selbst herauszufinden, um was es sich handelt, und teilte ihr das mit. Sie weigerte sich, dieser Tatsache ins Auge zu sehen, weigerte sich, einen Psychiater aufzusuchen, und alles wurde nur noch schlimmer.

›Sex ist nicht und sollte auch nicht alles in der Ehe sein, aber es ist ein wichtiger Bestandteil, Misty. Ich glaube, du bist alt genug, um das zu verstehen.‹

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir war so heiß, und das Atmen fiel mir schwer. Ich hatte Angst, am Tisch in Ohnmacht zu fallen und ihn in Verlegenheit zu bringen.

›Ist mit dir alles in Ordnung?‹, erkundigte er sich besorgt.

Ich nickte und trank rasch einen Schluck Wasser, um den Kloß in meinem Hals hinunterzuspülen.

›Warum ist sie denn so?‹, fragte ich ihn schließlich. Er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht zu einem arroganten Lächeln und schaute dann wieder wütend drein.

›Ich bin kein Psychiater‹, sagte er, ›aber ich vermute, dass sie sich in jemand anders verliebt hat.‹

›Was? In wen?‹, fragte ich rasch. Mommy hatte die ganze Zeit einen Geliebten. Wo war ich denn gewesen?

›Sie selbst‹, meinte er. ›Wenn es je einen Fall von Narzissmus gab, ist sie einer. Hast du dich je darüber gewundert, warum es in unserem Haus so viele Spiegel gibt? Es gibt kaum eine Wand, eine Ecke, ein freies Plätzchen ohne einen Spiegel, damit sie ihr Haar und ihr Gesicht kontrollieren kann und sichergehen kann, dass sie keinen Tag gealtert ist. Sie ist besessen davon. Es ist Wahnsinn.

›Immer wenn ich ihr sagte, dass sie professionelle Hilfe benötigte, bekam sie einen Wutanfall.‹

›Du warst ihr untreu, Daddy‹, sagte ich. ›Ich habe selbst gehört, wie du es zugegeben hast.‹

Am liebsten wäre ich aufgesprungen und aus dem Restaurant gelaufen. Es tat weh, wenn er solche gemeinen Dinge über Mommy sagte, und es tat genauso weh, wenn sie gemeine Dinge über ihn sagte. Normalerweise endete das damit, dass ich denjenigen verteidigte, der gerade nicht anwesend war. Dr. Marlowe und ich haben viel darüber gesprochen. Ich habe das Gefühl, ich kann nicht anders, aber ich hasse es. Ich hasse es!« Auf den Gesichtern der anderen spiegelte sich Verständnis. Ich holte tief Luft. Wieder einmal fühlte ich mich wie ein Zünder an einer Zeitbombe. Früher oder später würde ich explodieren.

»›Jetzt weißt du es. Ein Mann hat Bedürfnisse‹, sagte er.

Er begann mit seinem Essen zu spielen, schob es mit der Gabel auf dem Teller umher, während er sprach.

›Es ist nicht leicht, mit so jemandem verheiratet zu sein, Misty. Ganz gleich, welches Kompliment du ihr machst, es ist nicht gut genug, und wenn du nicht daran denkst, ihr etwas über ihr Aussehen zu sagen, wirst du sofort beschuldigt, sie nicht mehr zu lieben. Ständig verteidigte ich mich. Es wurde mir verhasst, nach Hause zu kommen. Natürlich wollte ich deinetwegen dort sein‹, fügte er rasch hinzu, ›aber es war nicht leicht.‹

›Also hast du dir eine andere gesucht?‹, fragte ich ihn.

›Willst du wissen, was ich meinem Psychiater gesagt habe?‹, fragte er.

Ich hatte Angst, es zu hören, aber ich nickte.

›Ich sagte ihm, ich sei verheiratet, aber einsam. Er sagte, unter den gegebenen Umständen sei das verständlich.‹

Lange Zeit war er ganz still. Dann legte er seine Gabel mit einem Klappern auf den Teller und bat: ›Bitte, lass uns nicht mehr darüber reden. Vielleicht bemüht sie sich ja jetzt um professionelle Hilfe. Lass uns einfach über dich reden.‹

Da dachte ich: ›Wie können wir über mich reden, aber nicht über dich und Mommy, Daddy? Wo stehe ich denn in der ganzen Geschichte?‹ Aber ich sagte nichts dergleichen. Während des restlichen Essens versprach er mir alles Mögliche, das er mit mir unternehmen wollte. Es war seltsam, dass es nie solche Versprechen gegeben hatte, während er und Mommy zusammen waren. Vielleicht wären wir immer noch eine Familie, wenn wir alle zusammen einige von diesen Dingen getan hätten, dachte ich, und Mommy hätte nicht diese psychischen Probleme. Ich war im Treibsand der Erwachsenenwelt ins Rutschen gekommen. Es war besser, schnell dort herauszukommen.

Er fuhr mich nach Hause, aber natürlich wollte er nicht mit hereinkommen. Ich war froh darüber, denn ich wollte nicht, dass er sah, wie viel Mommy von dem, was ihm gehört hatte oder zu ihm in Beziehung stand, bereits verkauft oder verschenkt hatte. Wir machten aus, dass ich ihn in zwei Wochen in seiner Wohnung besuchen und dort das Wochenende verbringen sollte. Dann fuhr er davon. Ich fragte mich unwillkürlich, was das für ein Gefühl für ihn sein musste, die Auffahrt des Hauses hinaufzufahren, das so viele Jahre sein Heim gewesen war, und es jetzt wie irgendein x-beliebiges Haus zu behandeln.

Ihr kennt doch diese Wundertafel, auf die man schreibt, und wenn man sie herauszieht, ist alles wieder verschwunden?«, fragte ich die anderen. Sie nickten. »So stellte ich mir Daddys Kopf jetzt vor.

Sobald ich das Haus betrat, stürzte sich meine Mutter auf mich. Als hätte sie in der Tür zum Wohnzimmer gewartet und gehorcht, wann ich zurückkomme. Dort stand sie, die Hände in die Hüften gestemmt, die Augen weit aufgerissen, die Lippen zu einem sinistren Lächeln verzerrt.

›Na?‹, fragte sie. ›Wie war dein kleines Mittagessen mit deinem Daddy? Hat er sich die Mühe gemacht aufzukreuzen?‹

›Er kam zu spät, aber er war da‹, sagte ich.

›Zu spät. Typisch. War er allein?‹, schoss sie schnell hinterher, ›oder besaß er die Frechheit, seine Freundin mitzubringen? ‹

›Er war allein.‹

Ich wollte davonlaufen, die Treppe hinaufstürmen und die Tür meines Zimmers so fest zuschlagen, dass sie sich nie wieder öffnen ließ, aber sie verstellte mir den Weg.

›Was hat er über mich gesagt?‹, wollte sie wissen.

Ich hatte das Gefühl, als sei ich ein straff gespannter Draht, der von beiden so fest gezogen würde, dass er jeden Augenblick reißt.

›Nichts‹, erwiderte ich. ›Er sprach nur über seine Arbeit und über die Dinge, die er gemeinsam mit mir vorhat.‹

Mommy schaute mich an, die Augen zu misstrauischen Schlitzen zusammengekniffen.

›Er lässt dich für ihn lügen‹, beschuldigte sie mich.

Ich war noch nie eine gute Lügnerin, kein Vergleich mit Charles Allen zum Beispiel, und niemand wusste das besser als meine Mutter, aber ich versuchte, eine bittere, hässliche Szene zu vermeiden.

›Nein, das tut er nicht‹, rief ich.

Sie lächelte hämisch und nickte, sie glaubte mir nicht, ihre Augen waren dunkle Seen voller Anschuldigungen. Ihr Lachen klang spröde wie dünnes Glas.

›Töchter bevorzugen immer ihre Väter‹, behauptete sie. ›Alle meine Freundinnen sagen das. Es hat etwas mit Sex zu tun.‹

Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, aber es hörte sich widerlich an.

›Ich ergreife nicht für ihn Partei!‹, schrie ich. ›Ich ergreife niemandes Partei. Wenn es nach mir ginge, könntet ihr beide einander umbringen!‹«

Ich rannte die Treppe hoch, bevor sie reagieren konnte, knallte die Tür zu und schloss sie ab. Ich hatte mich gerade unter meiner Decke vergraben und versuchte die von draußen eindringenden atmosphärischen Störungen abzublocken, aber sie hörte nicht auf. Sie kam an meine Tür, legte ihren Mund an die Tür und machte immer weiter.

›Das ist also das Ergebnis von nur wenigen Stunden in der Gesellschaft deines Vaters. Jetzt stell dir einmal vor, was passiert, wenn du ein ganzes Wochenende lang in seinem Sündenpfuhl warst. Er wird versuchen, dich gegen mich aufzuhetzen. Ich weiß, dass er schreckliche Dinge über mich gesagt hat. Du brauchst es mir gar nicht zu erzählen. Ich kann mir schon denken, was es war. Er gibt mir an allem die Schuld. So ist er nun mal. Ständig schiebt er anderen seine Fehler zu. Ich wollte nicht, dass du weißt, was für ein Schwächling dein Vater ist. Es ist nicht schön für eine Tochter, das zu wissen, aber jetzt siehst du es selbst.‹

Sie begann zu weinen und zu stöhnen, in welcher schrecklichen Zwangslage sie sei.

›Die besten Jahre meines Lebens habe ich diesem Mann geopfert. Jetzt lässt er mich fallen. Ich bin wie ein geschälter Apfel. Für einen Mann ist es so viel leichter bei einer Scheidung. Er kann immer ein hübsches, junges, hirnloses Ding finden, das sein Bett teilt, aber eine Frau muss vorsichtig sein und auf einen anständigen und verantwortungsbewussten neuen Mann hoffen. Und welche Chancen hat sie, in der heutigen selbstsüchtigen Welt je so einen zu finden? Keine sehr guten, sage ich dir. Es ist erniedrigend, in so einer Lage zu sein. Ich hoffe nur, dir passiert so etwas nicht. Schau bloß, was er mir angetan hat!

Wie kannst du ihn nur beschützen wollen?‹, stöhnte sie.

Ich presste die Handflächen so fest wie möglich gegen die Ohren, um ihre Stimme auszuschließen, aber sie leierte immer weiter, bis ich wieder anfing zu schreien. Ich weiß nicht, wie lange ich schrie, aber meine Kehle fing an zu brennen. Als ich aufhörte, hörte ich sie nicht mehr an der Tür.

An jenem Abend ging ich nicht zum Essen nach unten. Sie beschwerte sich eine Weile an der geschlossenen Tür, aber schließlich gab sie es auf und ging weg.

Am nächsten Morgen war alles wie immer, als sei nichts geschehen. Sie strahlte über das ganze Gesicht, war voller Neuigkeiten über neue Hautcremes, die ihre Freundinnen entdeckt hatten, und ein besseres Shampoo … Seifenblasen, unsere Leben waren Seifenblasen, die zerplatzten und verschwanden.

Zwei Wochenenden später hielt Daddy sein Versprechen und lud mich in seine neue Wohnung ein. Mommy ging bereits völlig in ihrer neuen Rolle als verlassener Frau auf, die aus der Asche aufersteht als starke, unabhängige Frau. Sie fühlte sich zu ihren Freundinnen hingezogen, die ebenfalls geschieden waren und die Gesichter ihrer Männer zu Zielscheiben gemacht hatten, auf die sie die Pfeile ihrer Verachtung schleuderten.

Es überraschte mich, dass sie gar nichts Gehässiges über meinen bevorstehenden Wochenendbesuch bei Daddy sagte. Ich wollte ihn sehen, war aber sehr nervös deswegen, denn er hatte mir am Telefon gesagt, dass ich eine Freundin von ihm kennen lernen würde, und es war ganz klar, was er damit meinte. Seine neue Freundin würde auch dort sein. Beinahe wäre ich nicht gegangen.

›Warum kannst du nicht zuerst einmal ein Wochenende nur mit mir verbringen?‹, fragte ich ihn.

Natürlich hatte er seine Daddy-Erklärung. Je schneller ich mich an die neue Situation gewöhnte, desto besser sei es für alle Beteiligten, mich eingeschlossen.

›Ich würde das nicht tun, wenn ich dich nicht für reif genug hielte, um mit dieser Situation fertig zu werden, Misty‹, sagte er.

Der gute alte psychologische Trick, die Situation einfach umzukehren, nicht wahr, Dr. Marlowe?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht.

»Dr. Marlowe fällt keine Urteile für uns«, erinnerte ich die anderen.

Jades Augen funkelten vor spitzbübischem Vergnügen. Cathy wirkte nervös und ängstlich, und Star sah aus, als sei ihr völlig gleichgültig, was Dr. Marlowe tat oder nicht tat.

Was waren wir für eine Murkserei, dachte ich. Vielleicht waren ja nicht unsere Eltern, sondern wir wie Dr. Marlowes kranke Oleanderbüsche dort draußen. Unsere Wurzeln waren verseucht und unsere Blüten blass.

Wer würde uns jetzt in seinen Garten pflanzen wollen? Wie konnten wir irgendjemanden dazu bringen, uns zu mögen? Wir mochten uns ja nicht einmal selbst.

Das Haus im Nebel

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