Читать книгу Das Haus im Nebel - V.C. Andrews - Страница 13

Оглавление

KAPITEL VIER

Zuerst versuchte ich geheim zu halten, dass meine Eltern geschieden werden. Keine meiner Freundinnen, nicht einmal Darlene, hätten je für möglich gehalten, dass bei mir zu Hause etwas nicht stimmte. Genau das Gegenteil war der Fall. Alle glaubten, wir seien die perfekte kleine Familie. Wenn sie mich besuchten und meinen Vater nicht sahen, nahmen sie einfach an, er wäre wieder auf einer seiner Geschäftsreisen.

Darlene hat zwei jüngere Schwestern und einen älteren Bruder. Sie hält mich für einen Glückspilz, weil ich ein Einzelkind bin. Ihr Bruder meckert ständig an ihr rum. Sie sagt, er hätte Angst, dass sie ihn irgendwie in Verlegenheit bringen könnte. Und ihre Mutter ist ständig hinter ihr her, sie soll ein gutes Beispiel für ihre jüngeren Schwestern sein. Jedes Mal, wenn sie anruft oder wenn ich sie anrufe, beklagt sie sich über ihre Eltern, ihren Bruder und ihre Schwestern. Einmal sagte sie sogar, sie hasste ihre Familie und wäre lieber eine Waise.

Menschen wissen nie, welch ein Glück sie haben. Ich bin in den Ferien bei ihr zu Hause gewesen, wenn alle zusammen waren, sogar ihre Großeltern mütterlicherseits. Dann aßen sie zusammen und beschenkten sich gegenseitig. Letztes Jahr Heiligabend war ich mit meiner Mutter in einem Restaurant in Beverly Hills zusammen mit zwei geschiedenen Freundinnen meiner Mutter. Während des ganzen Essens gratulierten sie sich gegenseitig, dass sie nicht länger unter der Fuchtel ihrer Ehemänner lebten. Ich warf einen Blick auf sie und dachte:

›Als ob diese Frauen je unter irgendjemandes Fuchtel gewesen wären.‹

Eine Zeit lang hoffte ich, meine Eltern würden wieder zusammenkommen. Häufig hatte ich einen Tagtraum, in dem mein Vater eines Nachmittags mit den Koffern in der Hand und einem strahlenden Lächeln auftauchte. Ich stellte mir sogar die Unterhaltung vor.

›Hallo, Misty‹, würde er sagen, ›ich glaube, mit der Scheidung hat das nicht so recht geklappt. Wir haben festgestellt, dass wir uns doch zu sehr lieben, und jetzt wollen wir unsere Probleme lösen, weil uns klar geworden ist, was wir dir angetan haben.‹

Was war so verkehrt an diesem Traum? Die Leute sagen einem doch ständig, dass man seine Probleme lösen soll. Lehrer, Schulpsychologen, Trainer predigen einem doch dauernd, dass man nicht aufgeben soll. Was ist denn mit dieser Vorstellung passiert?

Auf jeden Fall kam Daddy nicht nach Hause, und nach einer Weile lag es mir wie ein Klumpen Blei im Magen, dass er nie wieder nach Hause kommen würde, zumindest nicht in mein Zuhause.

Eines Tages kam Clara Weincoup, deren Mutter manchmal mit der Clique meiner Mutter zu Mittag isst, in der Schulcafeteria an meinen Tisch und posaunte wie ein Nebelhorn die Nachricht heraus: ›Ich habe gehört, dass deine Eltern sich scheiden lassen.‹

Es war, als sei der Vater oder die Mutter von jemandem gestorben. Alle schwiegen und schauten mich an.

›Ja, tatsächlich?‹, fragte ich. ›Ich habe mich schon gefragt, warum Daddy seine Sachen gepackt hat und gegangen ist.‹

Keine wusste, ob sie lachen sollte oder nicht. Eine kicherte, aber die anderen schauten mich an, als hätte ich gerade haufenweise Pickel bekommen.

›Ich habe mich nur gefragt wieso, das ist alles‹, trällerte Clara mit ihrer Singsangstimme. ›Ich dachte immer, deine Eltern kämen klar.‹ Sie trug so eine dicke Klammer mit Gummibändern und hatte Nasenlöcher, die groß genug waren für eine Geisterbahn in einem Vergnügungspark. Außerdem war sie so unreif. Samantha Peters erzählte uns, sie hätte gehört, dass Clara immer noch ihre Ken-Puppe mit ins Bett nimmt.«

»Du machst Witze«, sagte Jade.

»Was hast du dazu gesagt?«, wollte Star wissen.

»Ich sagte: ›Du brauchst dir über Scheidungen keine Sorgen machen, Clara, schließlich wirst du nie heiraten. Nicht bei deiner Persönlichkeit.‹

Am Tisch brüllte alles vor Lachen. Clara nahm die Farbe geronnenen Blutes an und marschierte davon. Ich war sie losgeworden, aber die Neuigkeit war heraus, und ich spürte die Blicke meiner so genannten Freundinnen überall, auf der Suche nach Unterschieden.«

»Unterschieden?«, fragte Star.

»Habt ihr nicht das Gefühl, dass die Leute euch anders anschauen, wenn sie erfahren, dass eure Eltern sich scheiden lassen oder geschieden sind?«, fragte ich die drei anderen.

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Jade nach einem Moment des Schweigens.

Ich schaute Cathy an. Sie schüttelte den Kopf.

»Du kannst doch reden, oder?«, fragte ich sie.

Sie schaute Dr. Marlowe Hilfe suchend an, aber Dr. Marlowe sagte kein Wort.

»Ja, ich kann sprechen«, antwortete sie mit einer Stimme, die kaum lauter war als ein Flüstern.

»Gut. Ich habe mich nämlich schon gefragt, ob du uns deine Geschichte in Zeichensprache erzählen willst.«

Jade lachte wieder. Wir betrachteten einander immer mehr wie zwei Menschen, die ähnlich denken, und ich glaubte, wir könnten sogar Freundinnen werden.

»Ich weiß, dass eine Scheidung heutzutage keine so große Sache mehr ist. Mein Beratungslehrer in der Schule sagte genau das zu mir! Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich für die anderen anders aussah, jetzt da es auf der Tratschwelle gesendet worden war. Ich weiß, dass ich anders ging – mit gesenktem Kopf, um den Blicken der anderen auszuweichen. Was ich am meisten hasste, waren wohl diese mitleidigen Blicke. Ich fauchte meine Freundin Darlene so heftig und gemein an, als sie mir ihr Mitgefühl aussprach, dass sie praktisch davonrannte.

Ich fühlte mich wirklich elend. Meine Noten, die ziemlich schlecht geworden waren, erreichten einen neuen Tiefststand. Deshalb rief mein Beratungslehrer meine Mutter an, die daraufhin beschloss, etwas zu tun.

Die meisten ernsten Gespräche über Schulangelegenheiten hatte mein Vater mit mir geführt. Daddy rief mich dann in sein Büro und forderte mich auf, mich hinzusetzen. Dann stand er auf, kam um seinen Schreibtisch herum und fing etwa so an: ›Ich war auch einmal jung und weiß Gott kein Aushängeschild für besonders gutes Benehmen, aber irgendwann wurde mir klar, dass ich mich bessern musste, sonst würde ich noch in Nirgendwohausen enden.‹

Das war einer seiner Lieblingsausdrücke«, erklärte ich, »Nirgendwohausen. Lange Zeit glaubte ich sogar, es gäbe so einen Ort, und suchte ihn auf der Landkarte.«

Jades Lächeln wurde sanfter. Star schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück, während Cathy plötzlich die Hände faltete und sie fest in ihren Schoß legte. Sie sah aus, als würde sie sich festhalten, aus Angst, ihr Körper könnte sonst davontreiben. Ich konnte ihre Geschichte kaum erwarten.

»Auf jeden Fall versuchte meine Mutter, die ernste Gespräche hasste, an diesem Nachmittag die Rolle meines Vaters zu spielen. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder Mitleid mit ihr haben sollte. Sie versuchte ganz klar, mein Mitleid zu erwecken. ›Ich weiß, was du tust‹, sagte sie. Tatsächlich saß sie anfänglich hinter Daddys Schreibtisch und stand dann auf, wie er es immer getan hatte. Zumindest kannte sie die Regieanweisungen.

›Du versuchst mir Schuldgefühle einzujagen. Du bestrafst mich‹, schrie sie.

Meine Mutter weint nicht richtig. Sie schneidet ein wenig Grimassen, aber nicht zu sehr, weil ihr Schönheitsguru ihr eingeimpft hat, dass man von finsteren Mienen und vom Grimassenschneiden Falten bekommt. Es schwächt die Gesichtsmuskulatur so sehr, dass sich Furchen bilden, sagt sie. Sie sagte mir das, damit ich nicht so häufig Grimassen schneide oder finster dreinschaue.

›Wie bestrafe ich dich denn?‹, fragte ich sie.

›Indem du mich in Verlegenheit bringst!‹, jammerte sie. ›Du bist miserabel in der Schule, nur damit die Lehrer über dich reden und mich anrufen. Und dann geben sie meinen Problemen mit deinem Vater die Schuld. Ich weiß, wie diese Sachen laufen. Ich habe das in einem Artikel in Good Housekeeping gelesen. Tatsächlich handelte der Artikel von Stress und seinen Auswirkungen auf die Haut, aber es ging auch um eine Situation wie diese. Geschiedene Frauen altern schneller, wenn sie nicht vorsichtig sind!‹, betonte sie. ›Das ist eine bewiesene kosmetische Tatsache.‹

Während meine Mutter über meine Noten tobte, über die Anrufe von der Schule, ihren Stress und die ganze Peinlichkeit der Situation, wurde mir plötzlich klar, wie egoistisch sie war und wie egoistisch Daddy war. Keiner von ihnen machte sich auch nur annähernd so viele Sorgen um mein Glück wie um sein eigenes. Ich beging den Fehler, meiner Mutter das zu sagen, da flog ihr beinahe eine falsche Wimper davon. Sie leierte eine Litanei von ihrerseits erbrachten Opfern herunter, eine Litanei, die sich von einer Seite des Hauses bis zur anderen erstreckte.

Am besten war die Behauptung, dass sie immer noch eine junge und schöne Frau sei, aber meinetwegen davon Abstand nehme, sich auf irgendeine neue Romanze einzulassen, bis ich, nicht sie, mich an die neue Situation gewöhnt hatte. Nach Aussage meiner Mutter umkreiste eine Gruppe von Männern, die von ihrem neuen Ledigenstatus erfahren hatten, das Haus wie Indianer auf dem Kriegspfad und wartete nur darauf, ihre Liebespfeile durch das Fenster in ihr weiches Herz zu schießen. Kurz gesagt, all diese einsamen Tage und Nächte waren meine Schuld. Na los, Misty, trichterte ich mir selbst ein, akzeptiere und genieße ihre Scheidung endlich, damit die herzallerliebste Mommy sich wieder verabreden kann.«

Jade lachte am lautesten. Stars Lächeln war viel freundlicher, und Cathy sah plötzlich aus, als würde sie das Ganze genießen. Ich warf Dr. Marlowe einen Blick zu. Ihre Augen waren dunkler, konzentriert, ihre ständig wechselnden Gedanken verknäulten sich bei der intensiven Betrachtung von uns vieren wie ein Ball aus Gummibändern.

Ich lehnte mich zurück, trank etwas Limonade und fuhr fort. »Natürlich hatte Mommy das Gefühl, sie müsse etwas Ernsthaftes unternehmen. Ich dachte, sie könnte so weit gehen, mir den Lippenstift wegzunehmen, den sie für mich ausgesucht hatte und den ich gar nicht häufig benutzte, aber sie überraschte mich mit der Drohung, mir mein Telefon wegzunehmen. Ich wusste, dass dies eine leere Drohung war, denn meine Mutter hasste nichts mehr, als wenn eine meiner Freundinnen mich auf ihrem Apparat anrief. Sie war diejenige, die meinen Vater dazu brachte, mir ein eigenes Telefon installieren zu lassen, als ich erst acht war.

›Sie kann sich doch kaum auf ein Dreißig-Sekunden-Gespräch konzentrieren!‹, brüllte er. »Wozu braucht sie ein eigenes Telefon?‹

Mommy stritt sich nicht lange mit Daddy herum. Sie sagte, was sie wollte, und schmollte dann so lange, bis er nachgab, was er fast immer tat.

Es war lustig, als ich das Telefon bekam, saß ich davor, starrte es an und fragte mich, wen ich anrufen sollte. Wenn ich dann jemanden anrief, fragte ich sie, wie es ihr ging und was sie gerade machte, worauf das andere Mädchen einsilbig mit ›Gut, nichts‹ antwortete, und dann hängte ich ein. Wenn mein Telefon je klingelte, fuhr ich vor Schrecken fast aus der Haut.

›Wenn deine Noten beim nächsten Mal nicht besser sind, verschwindet das Telefon aus deinem Zimmer‹, verkündete meine Mutter und hatte das Gefühl, damit ihrer Verantwortung voll und ganz gerecht geworden zu sein. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie sie ihren Freundinnen beim Lunch in einem schicken Restaurant stolz erzählte, wie streng sie war und dass sie neue Saiten aufgezogen habe.«

Selbst Dr. Marlowe riskierte ein kleines Lächeln. Sie kannte meine Mutter gut und wusste, dass ich nicht sehr übertrieb.

»Ich war an einem Punkt angelangt, wo mir das sowieso egal war. Viele meiner Freundinnen riefen mich gar nicht mehr an. Ich wusste, dass das meine Schuld war. In der Schule und am Telefon war ich nicht besonders nett zu ihnen. Mommy hatte mit ihrer Anschuldigung halb Recht. Ich bestrafte sie und Daddy, aber ich bestrafte auch jeden anderen, den ich kannte. Dr. Marlowe half mir, das einzusehen. Stimmt’s, Frau Doktor?«

»Du hast eigenständig Entdeckungen über dich gemacht, Misty. Ich habe dir nur den Weg gezeigt«, erwiderte sie leise.

»Ein Reiseleiter nach Nirgendwohausen«, entgegnete ich. Überraschenderweise lachte keine von den drei anderen.

»Glaubst du, dass ich das wirklich bin?«, fragte Dr. Marlowe.

»Nein«, gab ich zu, »aber es hörte sich witzig an.«

Ich schaute die anderen an, weil ich hoffte, sie würden mich noch besser verstehen als unsere erfahrene Psychiaterin.

»Du kommst an einen Punkt, an dem du dich nicht ausstehen kannst, weil es so verdammt deprimierend ist, mit dir zusammen zu sein«, sagte ich. Jetzt schauten sie mich alle an, als wüssten sie, was das bedeutet. »Ich glaube, deshalb griff ich so schnell nach dem ersten rettenden Engel, der mir in die Quere kam.

So haben Sie ihn einmal genannt, Dr. Marlowe, erinnern Sie sich? Als ich in einem Strom aus Traurigkeit zu ertrinken drohte, packte ich nach dem ersten Baumstamm, der vorbeitrieb.«

»Ich glaube, dieser Ausdruck stammte von dir«, meinte sie. Ich wandte den Blick ab.

»Okay, okay. Unsere Therapeutin sollte uns keine Dinge in den Kopf setzen, die nicht schon drin sind«, murmelte ich.

Jade schaute zu Dr. Marlowe, Cathy ebenso. Star nickte nur.

»Er heißt Charles Allen Fitch. Immer wenn er sich vorstellt, nennt er auch den Mittelnamen. Er hat es sogar lieber, wenn man ihn Charles Allen nennt statt nur Charles. Er glaubt wohl, der zusätzliche Name lässt ihn reicher oder wichtiger oder so klingen. Und du kannst ihn nicht Charlie oder Charlie Allen nennen. Darauf reagiert er nicht. Dann tut er so, als hätte er dich nicht gehört. Selbst wenn einer seiner Lehrer das tut, behält er diesen blasierten, gleichgültigen Gesichtsausdruck bei, bis der Lehrer merkt, was los ist, und ihn beim korrekten Namen nennt. Dann wendet er sich ihm zu und antwortet mit strahlendem Gesicht. Guter alter Charles Allen Fitch.

Er sieht nicht schlecht aus. Tatsächlich sieht er sogar ziemlich gut aus, einen Meter fünfundachtzig groß mit mahagonibraunem Haar, das immer perfekt sitzt. Zweimal im Monat geht er zum Friseur. Ich liebe seine Augen. Haselnussbraune Flecken treiben in dem Grün, und seine Lippen haben etwas, das sehr sexy ist.

Er geht in meine Klasse, aber bevor die Scheidung meiner Eltern zur Neuigkeit des Tages wurde, hatten er und ich wenig mehr als ein halbes Dutzend Worte miteinander gewechselt. Ich nahm ebenso wie meine Freundinnen an, er sei zu hochnäsig. Er stammt aus einer sehr reichen Familie. Er erzählte mir, das Haus, in dem seine Mutter und er leben, gehörte einst dem Manager von Clark Gable.

Es ist ein riesiges Haus, so groß, dass mein Schloss klein dagegen wirkt. Sie haben dort einen Raum, den sie tatsächlich Ballsaal nennen. Seine Mutter hat eine kleine Armee von Dienstboten, die sich um ihre und seine Bedürfnisse kümmern. Charles Allens Butler fungiert auch als sein Kammerdiener. Wisst ihr alle, was das ist?«, fragte ich.

Star schüttelte den Kopf.

»Der Butler legt jeden Tag seine Kleidung heraus und sorgt dafür, dass alles sauber und gebügelt ist und dass seine Schuhe geputzt sind«, erklärte ich. »Charles Allen sucht nicht einmal selbst aus, was er in der Schule trägt. Groden, so heißt der Butler, erledigt das für ihn.«

»Du machst Witze«, sagte Star.

Ich hob meine rechte Hand.

»Ich schwöre es. Ich habe selbst gesehen, wie seine Kleidung für ihn bereitgelegt wurde, sogar die Unterwäsche.

Auf jeden Fall, eines Nachmittags, gerade als die Mittagspause zu Ende war und es schon geklingelt hatte, kam Charles Allen auf mich zu und sagte: ›Ich weiß, was du gerade durchmachst. Meine Eltern sind auch gerade mitten in ihrer Scheidung.‹

Das war alles. Ich blieb stehen und sah, wie er davonschlenderte. Seine Haltung strahlt etwas aus, das die Leute dazu bringt zu glauben, er sei viel älter, als er ist. Wenn wir zusammen irgendwo hingingen, fiel mir das immer auf. Er hat dieses Selbstbewusstsein, diese Arroganz. Selbst der stellvertretende Schulleiter, Mr Proctor, spricht anders mit ihm, behandelt ihn, als sei er erwachsen. Mr Proctor scheint sich aber auch seiner eigenen Stellung bewusst zu sein, wenn er Charles Allen gegenübertritt. Das trifft auf die meisten Leute zu, denn Charles Allen wirkt so korrekt, dass du dir deiner selbst sehr bewusst wirst. Ich glaube, sogar meine Haltung beim Gehen und Stehen war besser. Ich weiß genau, dass ich mich in der Klasse nicht mehr auf meinen Stuhl plumpsen ließ.

Ihr schaut mich an, als wäre ich verrückt, ich weiß, aber er hat diesen sehr kritischen Blick. Darin spiegeln sich deine Fehler wider. Du sprichst sogar besser.«

Auch als ich jetzt über ihn redete, wurde ich mir meiner Haltung bewusst. Ich straffte meine Schultern und setzte mich aufrecht.

»Charles Allen hat natürlich sehr gute Noten. Er ist fleißig, verantwortungsbewusst, zuverlässig, vertrauenswürdig«, zählte ich auf, »alles, was unsere Lehrer von uns erwarten. Beim Sport ist er ein wenig steif, aber er ist der beste Tennisspieler der Schule. Er hat einen Aufschlag, der die Bälle in wahre Geschosse verwandelt.

Natürlich hat er zu Hause einen eigenen Tennisplatz und bekam mit zehn Jahren Unterricht von einem Profi, der an den U.S. Open teilgenommen hat.«

»Ist er ein Einzelkind?«, fragte Star.

»Nein. Er hat einen fünf Jahre älteren Bruder, Randolph Andrew Fitch, der bei seinem Vater im Immobiliengeschäft arbeitet. Sein Bruder ist nicht verheiratet, hat aber eine Eigentumswohnung in Beverly Hills. Als Charles Allen mir von der Scheidung seiner Eltern erzählte, behauptete er, dass sein Bruder Partei für seinen Vater ergreife, obwohl er mir sofort erzählte, dass seine Eltern eine zivilisierte Scheidung vollzogen, wie er es nannte. Laut Charles Allen herrschte nur wenig Feindseligkeit. Liebt ihr sein Vokabular nicht auch? Wenig Feindseligkeit«, wiederholte ich und sprach dabei ein bisschen durch die Nase.

»›Alles liegt in den Händen der Anwälte‹, behauptete er.«

»Erzähl mir das genauer«, bat Jade mit verächtlich verzogenem Mund. »Ich glaube, der Anwalt meiner Mutter ist nicht nur hinter seinem Honorar her. Er bekäme nur zu gerne auch meine Mutter in die Finger.«

Star lachte. Cathys überraschtes Lächeln ließ ihre Augen leuchten. Ich sah, wie ihr ganzer Körper sich entspannte. Zum ersten Mal heute Morgen wirkte sie glücklich.

»Ich glaubte, Charles Allen würde nicht mehr mit mir sprechen, so wie er davonlief, aber am Ende jenes Schultages wartete er in der Eingangshalle auf mich und fing an, mit mir zu reden, als wären wir immer noch mitten im Gespräch.

›Obwohl es in der Natur der Sache liegt, dass jede Scheidung anders ist‹, dozierte er im Ton eines Professors, der eine Vorlesung hält, ›bin ich sicher, dass wir viel gemeinsam haben.‹

›Wie bitte?‹, erwiderte ich. Sprachen wir eigentlich die gleiche Sprache, fragte ich mich.

›Ich wusste, dass meine Eltern sich eines Tages scheiden lassen würden. Mein Vater hat schon seit Jahren eine Geliebte, und meine Mutter wusste es, tat aber so, als wüsste sie es nicht. Natürlich bin ich recht sicher, dass auch sie ihre Affären hatte.‹

›Ihre was?‹, fragte ich.

›Affären‹, erklärte er trocken. Er hat so eine Art, den rechten Mundwinkel hochzuziehen, wenn er eine gehässige Bemerkung macht. Ich nannte das seine Elvis-Lippe. Er behauptete, er wüsste nicht, was ich damit meine, aber er wusste es ganz genau. Charles Allen ist sehr …verstohlen«, sagte ich. »Er würde es vermutlich subtil nennen. Wie ihr seht, habe ich von ihm zumindest einen besseren Wortschatz erlernt.«

»Warst du in ihn verliebt?«, fragte Cathy. Die Worte waren ihr anscheinend ungewollt entschlüpft. Sie war selbst ganz überrascht und schaute sich entsetzt um, nachdem sie sie ausgesprochen hatte.

Ich sah die anderen und dann rasch Dr. Marlowe an, die sehr erfreut darüber schien.

»Ich dachte, ich könnte mich in ihn verlieben. Warum? Bist du in jemanden verliebt?«

Rasch schüttelte sie den Kopf und schaute zu Boden.

»Wenn du möchtest, höre ich auf zu reden, und du kannst uns davon erzählen.«

»In Ordnung, Misty«, wiegelte Dr. Marlowe ab.

»Ich will niemanden abwürgen, Dr. Marlowe. Wenn Cathy es nicht abwarten kann, uns von sich zu erzählen …«

»Hör auf, boshaft zu sein«, warnte sie mich.

»Bin ich boshaft?«, fragte ich Jade. Sie lachte und nickte.

»Was meinst du, Star?«

»Wenn du vorhast, deine Geschichte zu erzählen, dann erzähl sie, und wir entscheiden hinterher, ob du boshaft bist oder nicht. Aber wenn ich jetzt schon mein Urteil abgeben müsste«, fügte sie rasch hinzu, »würde ich sagen, du hast den Teufel im Leib.«

Wir alle lachten, selbst Cathy, aber ihr Lachen war kurz, unsicher, vorsichtig. Wer hatte das Lachen aus ihrem Gesicht verbannt, fragte ich mich.

»Ich glaubte nicht, dass Charles Allen und ich etwas miteinander anfangen würden, nur weil wir beide Eltern hatten, die sich gerade scheiden ließen. Den Gerüchten zufolge hatte Charles Allen eine ältere Freundin, die gerade begonnen hatte, an der University of Southern California zu studieren. Später fand ich heraus, dass er eine Cousine im ersten Studienjahr an der University of Southern California hatte, aber an ihrer Beziehung war überhaupt nichts Romantisches.

Er hat ein eigenes Auto, ein BMW-Cabrio. Später erfuhr ich, dass sein Großvater väterlicherseits ihm ein Treuhandvermögen hinterlassen hat. Ich weiß nicht, wie viel genau das war, offensichtlich aber eine ganze Menge Geld. Er bot mir an, mich nach Hause zu bringen. Ich dachte, warum nicht, und es ging los.

Auf dem Weg nach Hause sprachen wir über unsere Eltern. Man konnte leicht erkennen, dass er weder seinem Vater noch seiner Mutter besonders nahe stand. Seine Mutter ist eine elegante Dame, groß und schlank, aber ein wenig breit in den Hüften. Meine Mutter würde dafür die Kinder verantwortlich machen und sagen: ›Siehst du, darum wollte ich kein zweites Kind.‹

Obwohl Charles Allens Mutter sich nicht so viel Sorgen um ihr Aussehen machte wie meine Mutter, sieht sie aus, als könnte man sie nie überraschen.«

»Überraschen?«, fragte Star.

»Ich meine, ganz gleich zu welcher Tageszeit jemand sie besucht, seine Mutter ist stets elegant gekleidet. Charles Allen erzählte, sie sei häufig an Wohltätigkeitsveranstaltungen beteiligt und im Vorstand einer Reihe von Wohlfahrtsorganisationen tätig. Er hielt es für eine Ironie des Schicksals, dass sie den Kranken und Unterdrückten so viel Zeit widmete und ihm so wenig.

Genau wie ich hatte er eine Nanny, als er klein war. Danach kümmerten sich hauptsächlich Hausmädchen, Butler und Chauffeure um ihn. Er sagte, sogar zum Spielen hätten sie Leute engagiert. Eines Tages hatte er den Eindruck gewonnen, seine Eltern täten alles, um ein Zusammensein mit ihm zu vermeiden. ›Ihr Motto lautete, mich beschäftigen und von ihnen fern halten‹, murmelte er.«

»Mögen sie denn ihren eigenen Sohn nicht?«, fragte Star.

Ich zuckte die Achseln. »Ich glaube, sie mögen einfach keine Kinder, die eigenen eingeschlossen.«

»Reiche Leute machen mich krank«, platzte es aus ihr heraus. »Arme Leute können sich genauso erbärmlich verhalten«, erinnerte Jade sie.

Sie sahen aus, als könnten sie in einen richtigen Streit geraten, deshalb machte ich schnell mit meiner Geschichte weiter. »Als wir das zweite Mal gemeinsam die Schule verließen, ging ich mit ihm nach Hause und bekam eine offizielle Führung. Seine Mutter war gerade auf dem Weg zu einer Versammlung. Charles Allen sorgte jedoch für eine anständige Vorstellung.

Vorstellung war sein Wort dafür. Er erzählte mir, dass er das Gefühl hatte, die meisten Dinge, die er für oder mit seinen Eltern tat, seien wie kleine Kunststücke.

›Mutter‹, sagte er, ›ich möchte dir Misty Foster vorstellen. Misty, meine Mutter, Elizabeth Howe Fitch.‹«

»Wow. Das hört sich so an, als seien seine Eltern sehr förmlich«, meinte Jade.

»Das ist noch eine Untertreibung. Der Name seines Vaters lautet Benjamin Harrison Jackson Fitch.«

»Bestimmt braucht er ewig, wenn er Formulare ausfüllen muss«, scherzte Star.

»Vermutlich füllt er gar nichts aus«, erwiderte Jade. »Bestimmt hat er einen Anwalt, der alles für ihn ausfüllt.«

»Kann ich weitermachen?«, fragte ich sie. Sie beide machten eine Reißverschlussbewegung, dass sie den Mund halten wollten.

Ich fuhr fort.

»Seine Mutter reichte mir ihre langen, dünnen, juwelengeschmückten Finger. In dem Augenblick, als ich sie berührte, zog sie sie zurück, als hätte ich eine Seuche. Charles Allen bat mich hinterher, nicht beleidigt darüber zu sein. Seine Mutter hatte ein Problem mit Körperkontakten. Sie hasste es absolut, umarmt zu werden, und war eine Expertin für falsche Küsse.«

»Was ist das denn?«, fragte Cathy. Star und Jade drehten sich zu ihr um, als erinnerten sie sich gerade daran, dass sie auch noch da war.

»Sie küsst in die Luft und nicht auf deine Wange. Charles Allen sagte, sie küsse sogar seinen Vater so. Er sagte, er hätte nie erlebt, wie seine Eltern einander auf die Lippen geküsst haben.«

»Kein Wunder, dass er eine andere Frau hat«, meinte Star. Ich nickte.

»Wie küsst Charles Allen denn?«, fragte Jade mit pfiffigem Lächeln und spitzbübischem Blick.

»Zuerst nicht sehr gut. Wie ich bereits sagte, führte er mich an jenem Tag durch das Haus, und wir spielten Pingpong. Dort gibt es außerdem einen Pool-Billard-Tisch und ein Hockeyspiel. Er zeigte mir den Garten, den Pool und den Tennisplatz, und dann nahm er mich mit in sein Zimmer. Es war so groß wie das Schlafzimmer meiner Eltern, nur hatte er einen eingebauten Fernseher, einen CD-Player und alles. Ihr solltet seinen Kleiderschrank sehen. So wohl geordnet, nach Farben sortiert. Und die Schubladen voller Socken, Unterwäsche, alles sieht brandneu aus. Manche Sachen sind sogar in Schutzhüllen verpackt!

Wir saßen da und redeten über unser Familienleben. Er behauptete, er hätte seinen Vater vor der Scheidung auch nicht besonders oft gesehen, aber jetzt wären das organisierte Treffen nach Terminplan. Einmal in der Woche musste er seinen Vater im Büro aufsuchen und ihm Bericht erstatten über seine Schulleistungen.

Was mich an seiner Welt störte, war, wie förmlich alles war. Alle Dienstboten nannten ihn Charles Allen. Seine Mutter nannte ihn Charles Allen, und ich vermute, sein Vater tat das auch, obwohl ich ihn nie kennen gelernt habe. Alles war so korrekt. Das bereitete mir Unbehagen.

Jedenfalls, gegen Ende unserer kleinen Unterhaltung, die er Tête-à-Tête nannte … habt ihr das je gehört?«

Jade nickte, aber Cathy und Star schüttelten die Köpfe.

»… saßen wir auf diesem kleinen Sofa in seinem Zimmer. Er saß an einem Ende und ich am anderen. Zwischen uns war genug Platz für eine weitere Person, und gegen Ende dieser kleinen Unterhaltung hielt er, wie gesagt, inne, schaute mich mit diesem herzerweichenden Blick an und sagte: ›Ich wollte schon immer mit dir reden, aber mir fiel nie etwas ein, das ich hätte sagen können, bis ich hörte, dass deine Eltern sich scheiden lassen.‹

›Zumindest ein Gutes hat die Sache dann ja‹, sagte ich, und er lachte.

Charles Allen hat zwei ganz verschiedene Arten von Lachen. Eines hört sich an wie ein Roboter, jeder Laut im gleichen Abstand von anderen und immer gleich laut, so wie ha, ha, ha. Es ist schwer zu erklären, aber sein anderen Lachen, ich nenne es sein echtes Lachen, ist leise. Es bringt seine Augen zum Strahlen, und mit seinen Mundwinkeln passiert etwas Niedliches. Ihr schaut mich an, als wäre ich verrückt, aber ihr müsstet es hören und sehen, um mich zu verstehen.

Ich wusste natürlich, was er meinte. Er war schon lange in mich verknallt. Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich darauf erwidern sollte. Dann sagte ich: ›Ich habe schon immer gehofft, dass du mich ansprechen würdest.‹ Natürlich war das eine glatte Lüge, aber er war offensichtlich erfreut.

›Die meisten Mädchen in unserer Schule sind so seicht‹, sagte er.

›Ich weiß genau, was du meinst‹, sagte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte. Es schien jedoch genau das Richtige zu sein, um ihm wieder eine Freude zu machen.

›Das habe ich mir gedacht‹, sagte er. ›Ich wette, es gibt niemanden, dem du deine Gefühle über die Scheidung deiner Eltern anvertrauen willst‹, fügte er hinzu.

Dann lehnte er sich zurück und beschrieb, wie das für ihn war … dass er sich seine Familie als großen, starken Zug vorstellte, der effizient und perfekt die Schienen entlangsauste, als plötzlich der Zugführer und sein Assistent einen Streit bekamen und der Zug mit quietschenden Rädern durch die Kurven zu schleudern begann, bis er aus den Schienen sprang und knirschend zum Stehen kam. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es hörte sich clever und dennoch irgendwie verrückt an, bis er hinzufügte: ›Manchmal würde ich am liebsten abspringen. Geht dir das auch so?‹

Ja, dachte ich. Ich möchte auch davonlaufen. Vielleicht war das eine gute Idee. Ich erzählte es ihm, und er und ich stürzten uns in eine große Diskussion, wie wir alleine leben würden. Ich begann schon zu glauben, dass es möglich sei. Er wusste, wie er an einen Teil seines Geldes kommen konnte. Es hörte sich so … romantisch an.

Plötzlich beugte er sich zu mir herüber und küsste mich auf die Lippen. Es war so unbeholfen. Er fiel mir praktisch auf das Gesicht.

›Ich hoffe, es macht dir nichts aus‹, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. Es hörte sich an, als hätte er mir gerade geholfen, meine Bücher zu tragen, oder so etwas. Dann tat er es noch einmal, nur diesmal länger und besser.

›Du bist das erste Mädchen, das ich mit in mein Zimmer genommen habe‹, gestand er mir leise.

Ich weiß nicht …« Ich sah Dr. Marlowe an. Sie nickte so unmerklich, um mich zu ermutigen, dass nur ich es merkte. »Ich glaube, ich wollte so sehr, dass jemand etwas Nettes zu mir sagte, ich hätte sogar die Lippen von Jack the Ripper willkommen geheißen. Mein Herz klopfte wild. Unsere Gesichter blieben ganz nah beieinander, unsere Nasenspitzen berührten sich fast. Ich schloss die Augen, und er küsste mich wieder.«

Cathy begann sich auf ihrem Stuhl zu winden. Sie sah aus, als säße sie auf einem Ameisenhügel. Dr. Marlowes Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. Star starrte mich mit einem beinahe wütend verzogenen Mund an, aber Jade stierte mit einem Blick vor sich hin, der Langeweile signalisierte. Hielt sie mich für einen kleinen Teenager, der tief unter ihrer Welt romantischer Erfahrungen angesiedelt war? Dir werde ich’s zeigen, dachte ich.

»Diesmal berührten sich unsere Zungen«, schilderte ich sehr nachdrücklich diese Begebenheit. Jade zog die Augenbrauen ein wenig hoch. »Manche Jungen haben eine sehr verstohlene Art, wie sie die Hände auf dich legen, aber Charles Allen ging geradewegs aufs Ziel los, fuhr mit den Händen an meinem Brustkorb entlang und presste die Handflächen auf meine Brüste.«

Cathy senkte den Kopf und starrte zu Boden.

»Wow«, sagte Star. »Mr Anständig verliert die Beherrschung.« Mit hochgezogener Augenbraue schaute sie mich an. »Ich lasse mich nicht einfach von irgendjemandem anfassen«, entgegnete ich scharf, »deshalb stieß ich seine Hände beiseite.«

»Was machte er dann?«, fragte Jade ungeduldig.

»Er ignorierte das einfach und küsste mich auf den Hals. Noch nie hatte mich jemand so auf den Hals geküsst. Das Gefühl ängstigte mich. Es schoss mir durch den Körper, und ich zog mich auf meine Seite des Sofas zurück.

Er war so höflich, er entschuldigte sich bei mir, aber das wollte ich nicht hören. Ich war verwirrt. Mein Herz fühlte sich an wie ein Kaleidoskop der Emotionen. Ich hatte Angst, aber dennoch wollte ich nicht, dass er aufhörte. Ich wollte geküsst und festgehalten und gebraucht werden.

›Hör auf, so verdammt höflich zu sein‹, befahl ich ihm. Daraufhin schaute er verwirrt drein.

›Ich bin nicht verdammt höflich‹, sagte er. ›Ich nutze einfach Leute nicht aus, besonders wenn sie verletzlich sind.‹

›Was soll das heißen?‹, fragte ich.

›Du hast einen wunden Punkt, wegen dem, was mit deinen Eltern passiert‹, sagte er und machte mich nur noch wütender. Er war viel cleverer, als ich gedacht hätte. Er manipulierte mich.

›Habe ich nicht‹, fauchte ich ihn an. ›Es ist mir völlig gleichgültig, was sie einander antun.‹

Er lächelte arrogant. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen.

›Du hast doch nur aufgehört, weil du Angst hast‹, sagte ich ihm.

›Was soll das denn heißen? Du hast mich doch beiseite gestoßen‹, widersprach er.

›Du hattest es nur zu eilig. Mädchen reagieren so, wenn Jungen es zu eilig haben.‹

Ein Lächeln breitete sich auf seinem hübschen Jungengesicht aus.

›Was ist daran so lustig?‹, wollte ich wissen.

›Ich hatte es wohl kaum besonders eilig. Du hast bloß Angst, was ganz normal ist für ein Mädchen, das noch Jungfrau ist‹, meinte er.

Natürlich hatte ich Angst, aber dank Dr. Marlowe weiß ich jetzt, dass ich Angst hatte, weil ich fürchtete, wie meine Mutter zu sein, die nach dem, was mein Vater sagte, Sex schmerzhaft und unerfreulich fand. Ich dachte, ich würde so enden wie sie und jemanden vertreiben, der mich einmal geliebt hatte«, zitierte ich. Dr. Marlowe nickte erfreut.

»Was machtest du denn dann?«, fragte Star.

»›Woher willst du denn wissen, dass ich noch Jungfrau bin?‹, schoss ich zurück.

Er lachte dieses arrogante Lächeln und sagte: ›Du bist bestimmt eine Jungfrau. Rein wie frisch gefallener Schnee.‹

›Das denkst du‹, sagte ich. Er lachte wieder, und ich sagte:

›Willst du mich berühren?‹«

»Sagt sie die Wahrheit?«, fragte Star plötzlich Dr. Marlowe.

»Du musst sie fragen und selbst entscheiden, Star. Das müsst ihr untereinander regeln.«

Star verzog die Lippen zu einem Schmollmund und kniff die Augen zusammen.

»Was geschah dann?«, fragte sie mich wie in einem Kreuzverhör, um mir einen Meineid nachzuweisen.

»Er saß einfach da, ein wenig schockiert, glaube ich. Mir war einfach danach zumute, ihn zu schockieren. Daher begann ich meine Bluse aufzuknöpfen. Er wirkte wie erstarrt, aber ich fühlte mich so mächtig bei dem, was ich tat, dass ich fortfuhr.« Cathy hob den Kopf und sah mich mit neu erwachtem Interesse in den Augen an.

»Mein Herz klopfte, aber ich griff nach hinten und öffnete meinen BH. Ich saß einfach da mit lose herunterhängendem BH. Er wurde rot im Gesicht.

›Wie ist es?‹, fragte ich ihn. ›Willst du mich sehen und berühren oder nicht?‹«

»Du hast also mit ihm gespielt«, kommentierte Star. »Als ob man mit einem Jojo oder sonst was spielt«, fügte sie hinzu und nickte dabei Jade zu, die ihr Kinn auf die Hand gestützt hatte, mich anstarrte und dabei kaum Luft holte.

»Ich fühlte mich wie eine Schauspielerin in einem Stück, die eine Rolle spielt. Er nickte, und ich zog den BH aus.«

Es war so leise in dem Raum, dass ich hören konnte, wie das Wasser auf der anderen Seite des Hauses durch die Rohre floss.

»Was tat er, nachdem du den BH ausgezogen hattest?«, fragte Star atemlos.

»Was meinst du denn?«, fauchte ich sie an.

»Du hast es beim ersten Mal, als du in seinem Zimmer warst, getan!«

»Nein, nicht bei dem Mal. Ein anderes Mal«, sagte ich, »aber nur einmal.«

»Nur einmal? Warum?«, fragte Star.

Einen Augenblick lang brachte ich kein Wort heraus. Es war, wie ein Stück Kaugummi verschluckt zu haben und darauf zu warten, dass es herunterrutschte. Sie starrten mich an. Schließlich hatte ich genug Luft in der Lunge, um zu sprechen.

»Weil ich herausfand, dass er ein noch viel größerer Lügner war als alle unsere Eltern zusammen«, gestand ich ihnen.

Ich merkte nicht, dass ich weinte, bis mir die Tränen vom Kinn tropften.

Dr. Marlowe bestand darauf, dass ich an dieser Stelle ein paar Minuten Pause machte.

»Ob ihr nun wollt oder nicht, ich muss selbst einmal zur Toilette.« Sie stand auf.

Die anderen starrten mich alle an, Cathy genauso unverblümt wie Jade und Star.

Ich erhob mich und folgte Dr. Marlowe aus dem Behandlungszimmer. Die drei saßen still da und beobachteten, wie wir hinausgingen. Dabei wagte keine von ihnen, tief Luft zu holen. Das galt auch für mich.

Das Haus im Nebel

Подняться наверх