Читать книгу Das Haus im Nebel - V.C. Andrews - Страница 16
ОглавлениеKAPITEL SIEBEN
Auch wenn Daddy Recht hat, dass Mommy besessen ist von ihrem Aussehen, kann man nicht leugnen, dass sie eine sehr schöne Frau ist. Manchmal denke ich, wenn meine Mutter so viel Ärger mit Männern und dem Aussehen hat, was kann ich dann erwarten? Werde ich es immer mit Männern wie Charles Allen zu tun haben, Männer, die meine Schwächen so leicht erkennen und mich ausnutzen?
Genau das tat Daddy nämlich meiner Meinung nach mit seiner neuen Freundin Ariel. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, dass eine junge hübsche Freundin ihm ein besseres Gefühl gab, sowohl was ihn selbst als auch sein Versagen in der Ehe anbelangte.
Dr. Marlowe hat mir zu dieser Analyse ein Kompliment gemacht, nicht wahr, Dr. Marlowe?«
»Ihr seid alle intelligente junge Frauen«, sagte sie und schaute dabei besonders Cat an. »Keine von euch hat einen Grund dazu, sich zu schämen oder sich unzulänglich zu fühlen wegen dem, was euren Eltern passiert ist.«
»Aber klar, wir sind alle Glückspilze«, sagte Star und wandte den Blick ab.
»Daddy holte mich diesmal ab, aber Ariel war nicht bei ihm im Auto. Sie wartete in der Wohnung auf uns und war angeblich damit beschäftigt, das Essen für uns vorzubereiten. Es stellte sich heraus, dass es ein bestelltes Essen vom Chinesen war, vermutlich ihr Lieblingsrezept.
Ich merkte, dass Daddy sehr nervös war, weil ich Ariel kennen lernen sollte. Als Erstes versuchte er, mir den Druck aufzuhalsen.
›Ariel ist sehr nervös wegen eures Kennenlernens‹, sagte er. ›Sie weiß, dass niemand deine Mutter ersetzen kann oder sollte. Was ich damit meine, ist, du solltest sie nicht miteinander vergleichen. Es sind zwei verschiedene Menschen.‹
›Ich besuche nicht Ariel‹, sagte ich. ›Ich besuche dich, Daddy‹, sagte ich ihm.
›Ich weiß, ich weiß‹, erwiderte er, ›aber Ariel ist im Moment meine Partnerin, und ich will nur, dass alle miteinander klarkommen. ‹«
›Partnerin?‹ Ich musste beinahe lachen. ›Nennt man das jetzt so?‹
›Sei nicht unverschämt, Misty‹, fauchte er mich an.
Vor der Scheidung meiner Eltern hätte ich nie daran gedacht, die Autorität meines Vater in Zweifel zu ziehen, wenn er mich anschrie oder mir einen Befehl erteilte oder barsch klang. Als ich ihn jetzt anschaute, lässig gekleidet, mit einer viel jüngeren Frau in einer Wohnung zusammenlebend, bereitete es mir Schwierigkeiten, genauso von ihm zu denken. Ich respektierte ihn wohl nicht mehr so sehr. Ganz bestimmt hatte ich keine Angst mehr vor ihm. Es war so leicht zu erkennen, wie verzweifelt er bemüht war, mich auf seine Seite zu ziehen. Was er am meisten fürchtete, war, dass ich ihn bitten würde, mich nach Hause zu bringen.
›Ariel hat ganz neues Bettzeug für dich gekauft. Sie hat schwer daran gearbeitet, das Gästezimmer so einzurichten, dass du es dort behaglich hast. Sie hat auch dafür gesorgt, dass ein Fernseher dort aufgestellt wird, denn sie meint, Teenager haben gerne einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer. Und dann kaufte sie all dieses Zeug für das Badezimmer: Vergrößerungsgläser, Föhn, Lockenwickler, Shampoos und Spülungen, all diesen Frauenkram, an den ich nie gedacht hätte.
Sie hat das alles ganz alleine gemacht. Ich schwöre es‹, sagte er und hielt tatsächlich die Hand hoch.
›Sie ist jung, das gebe ich zu, aber sie ist unkompliziert, und sie gibt mir ein gutes Gefühl. Ich brauche das jetzt, Misty. Das ist nicht leicht für mich, ganz gleich, was du auch denken magst. Ich hatte nicht erwartet, dass all dies passieren würde.‹
Vielleicht hatte er das nicht, aber es passierte nun einmal, und für mich war es auch nicht leicht. Trotzdem sagte ich den Rest des Weges kein Wort über Ariel.
Daddy hatte eine sehr schöne Wohnung, größer als ich erwartet hatte und hoch genug gelegen, um einen tollen Blick auf den Ozean zu gewähren. Vor dem Wohnzimmer war ein Patio, der groß genug war für zwei Liegestühle, einen kleinen Tisch und Stühle.
›Wir sind da!‹, rief er, als wir eintraten, und Ariel kam aus der Küche.
Mein erster Gedanke war, dass Daddy einen Witz machte. Sie sah nicht viel älter als ich aus. Ich kann nicht leugnen, dass sie hübsch ist. Sie hat honigblondes Haar, das ihr fast bis auf die Schulterblätter reicht, und einen zarten, leicht gebräunten Teint, der so perfekt wirkt, als käme sie gerade von einem Fototermin. Ich hasste ihr Lächeln, ein Lächeln von so entwaffnender Freundlichkeit, dass du alles tun würdest, um dieses Lächeln wie der lang ersehnte Sonnenschein nach einem Regenschauer auf ihr Gesicht zu zaubern. Das machte es schwieriger für mich, mein Herz gegen sie zu verhärten.
Sie trug einen schlichten schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt zu einem sexy türkis Spitzenrock. Einen BH brauchte sie nicht, ihr Busen war fest und ihre Taille so schmal wie meine. Auf ihrer Brust sah man winzige Sommersprossen direkt oberhalb des tiefen Brustansatzes.
›Hi‹, trällerte sie und streckte mir die Hand entgegen. ›Ich bin Ariel. Es ist schön, dich endlich kennen zu lernen.‹
Endlich, dachte ich. In dem Augenblick kam mir der Gedanke, dass sie schon viel länger zusammen waren, als ich mir vorgestellt hatte. Panische Schmetterlinge waren wieder im Anflug, bombardierten mein Gehirn mit Zweifeln, versetzten meinem Herzen Schläge. Sollte ich zurücklächeln? Sollte ich kalt und unfreundlich sein?
Ihre sanften blauen Augen waren mit mehr Besorgnis und Furcht erfüllt als meine, und mir kam der Gedanke, dass sie möglicherweise ein genauso unschuldiges Opfer war wie ich.
Ich wollte nicht so denken. Ich wollte sie mir als Goldgräberin vorstellen, die Daddy in seinen schwächsten Momenten ausnutzte, den Schmerz und den Verlust eines anderen ausbeutete, schreckliche Dinge über meine Mutter in sein Ohr flüsterte, ihn mit Komplimenten verführte. So wie sie ihn anschaute und mit ihm sprach war offensichtlich, dass sie ihn auf ein Podest erhoben hatte.
›Hi‹, erwiderte ich ohne große Wärme. Es war neutral, als hätte ich die Fähigkeit verloren, in die eine oder andere Richtung zu empfinden.
›Also‹, sagte Daddy, ›sie ist da. Wollen wir ihr ihr Zimmer zeigen.‹
›Oh, ja‹, unterstützte Ariel ihn und trat zurück, als Daddy meinen kleinen Koffer durch das Wohnzimmer trug. Es gab zwei Schlafzimmer Seite an Seite. Meines war das zweite. Das Badezimmer, das ich benutzen sollte, befand sich im Flur.
Ich war überrascht, welche Mühe Ariel sich gemacht hatte, das Zimmer fast genauso wie mein Zimmer zu Hause einzurichten. Ähnliche weiße Baumwollvorhänge, eine Bettdecke in genau dem gleichen Rosaton und Poster meiner Lieblingsrockbands.
Ich schaute Daddy fragend an. Er lachte.
›Ich habe Ariel ein Foto deines Zimmers gegeben. Ich fuhr hinüber zum Haus und machte eine Aufnahme, während du in der Schule warst und Gloria bei ihrem personal trainer.‹
›Gloria?‹, murmelte ich. Daddy fiel es schwer, in Ariels Gegenwart von Mommy zu sprechen.
›Wir wollten nur, dass du dich zu Hause fühlst‹, fügte er hinzu.
›Es war tatsächlich Ariels Idee.‹
Sie lächelte nervös. Ich glaubte nicht, dass das stimmte.
›Es ist schön‹, sagte ich. Ariel führte mir dann lächerlicherweise das Zimmer vor, zeigte mir tatsächlich Kleiderbügel und Kommodenschubladen und führte mich dann ins Badezimmer, um all die Dinge aufzulisten, die sie mit Daddys Geld für mich gekauft hatte.
›Sag mir Bescheid, wenn dir irgendetwas fehlt‹, meinte sie abschließend.
Ich wollte ihr Bescheid sagen. Ihr sagen, ja, es gibt eine Kleinigkeit, die mir fehlt … ein normales Leben. Du weißt, was das ist, Ariel? Wenn beide Eltern zu Hause sind, für dich da sind, Dinge mit dir planen, dir gemeinsam Ratschläge erteilen, zusammen mit dir essen, gemeinsam mit dir lachen, über Verwandte reden, Partys, Geburtstagsfeiern und Ferien planen, bei dir sind, wenn du aufs College gehst, dich vielleicht sogar dorthin begleiten, dir auf Wiedersehen sagen, einander an den Händen halten und dich voller Stolz anschauen, bevor sie gemeinsam weggehen, der Arm meines Vaters um meine Mutter gelegt, während die beiden das Gefühl haben, etwas im Leben erreicht zu haben, und von meiner Hochzeit und meinen Kindern träumen. Mir fehlen Alben, Ariel, gefüllt mit Familienbildern, gemeinsam in Ferien, bei Abschlussfeiern.
Hast du irgendetwas davon in der Hinterhand, Ariel?
Das hätte ich am liebsten gesagt, aber meine Lippen blieben versiegelt, ich schüttelte bloß den Kopf und schluckte Ärger und Enttäuschung herunter.
›Ich hoffe, du magst, was wir fürs Essen bestellt haben‹, fuhr sie fort. ›Ich habe dafür gesorgt, dass wir von allem etwas bekommen, für alle Fälle. Es gibt ein Shrimpsgericht und ein Hühnergericht und ein vegetarisches Gericht und ein Rindfleischgericht. ‹
Daddy hinter uns lachte. Er wachte wie ein ängstlicher Schiedsrichter über uns, bereit, beim leisesten Anschein, dass etwas Unerfreuliches passierte, zwischen uns zu springen.
›Sie versucht an alles zu denken‹, lobte er sie.
Ariel lächelte ihn an. Ich hasste diese Verehrung in ihrem Blick. Es lag nicht daran, dass ich nicht wollte, dass jemand Daddy so sehr mochte. Ich wollte einfach nicht Zeuge werden, wie jemand ihn mehr liebte als meine Mutter oder ich.
Dem haben Sie doch mehr oder weniger zugestimmt, Dr. Marlowe, nicht wahr?«
»Gewissermaßen«, sagte sie mit ihrem undurchdringlichen Lächeln.
»Das Essen verlief nicht besonders gut. Ich hatte keinen besonderen Appetit, obwohl das Essen lecker duftete. Ich hatte das Gefühl, meine Magenwände klebten aneinander wie diese blöden Plastiktüten im Supermarkt. Ich brachte kaum ein paar Bissen herunter. Ariel schien das nicht aufzufallen. Sie aß für zwei. Mommy hätte sie dafür verflucht, dass sie so viel essen und trotzdem ihre Figur halten konnte. Es war seltsam, dass mir ständig Mommys Ansichten in den Sinn kamen.
Ich fand heraus, dass Ariel Sekretärin in einer der Firmen war, die Daddy aufgekauft hatte. Sie stammte aus Santa Barbara, war auf die Handelsschule gegangen und danach von einer Zeitarbeitsfirma in einen Job vermittelt worden, der sich als langfristige Stelle entpuppte. Sie redete immer weiter wie jemand, den auch nur ein kleiner Augenblick der Stille am Tisch in Panik versetzt. Ich erfuhr, dass sie einen älteren Bruder hatte, der versuchte, Pilot bei einer Fluglinie zu werden. Ihr Vater arbeitete als Mechaniker bei Delta Airlines, und ihre Mutter war eine Zahnhygienikerin.
›Deshalb hat Ariel auch so perfekte Zähne‹, betonte Daddy. Tatsächlich hatte sie Zähne wie aus der Zahnpastawerbung, vollkommen gerade und blütenweiß.
Sie kicherte und gab ihm die Hand. Daddys Blick fuhr schuldbewusst zu mir, dann wieder zu ihr, und sie zog ihre Hand zurück. Ich stellte mir vor, dass er ihr gesagt hatte, es ruhig angehen zu lassen, während ich da war. Ich merkte, dass ihr Blick dadurch noch nervöser wurde, und sie stürzte sich auf ein neues Thema, redete über ihr Lieblingsessen, ihre Lieblingsfarben, ihre Lieblingskleidung, verzweifelt auf der Suche nach etwas, das uns gemeinsam war.
Ich saß da wie ein Klotz.
›Also, was soll ich heute Abend mit meinen beiden besten Mädels anstellen?‹, fragte Daddy.
›Vielleicht sollten wir ins Kino gehen‹, schlug Ariel vor.
›Ich bin müde, Daddy. Ihr beide geht. Ich rolle mich einfach in meinem Bett zusammen, lese ein bisschen und sehe etwas fern.‹
›Wirklich?‹ Es klang, als könnte er seinem Glück nicht trauen.
›Ja‹, bestätigte ich. Halb hätte ich erwartet, dass sie mich zu überreden versuchten, aber sie akzeptierten meinen Plan.
Ariel wollte meine Hilfe beim Aufräumen nicht.
›Du verbringst jetzt etwas Zeit mit deinem Vater‹, sagte sie. ›Schließlich bist du deshalb hier.‹
Daddy und ich saßen im Wohnzimmer. Er sprach über die Wohnung, einige Änderungen, die er an der Innendekoration vornehmen wollte, und er schrieb alle guten Ideen Ariel zu. Ich wusste, dass er log, aber mittlerweile waren Lügen für mich wie Fliegen. Ich scheuchte sie einfach weg oder ignorierte sie. Unser Gespräch kehrte zurück zu meinen Schulleistungen. Er fragte mich, was ich tun wollte, was ich werden wollte, und ich hatte das Gefühl, im Büro meines Beratungslehrers zu sitzen.
›Ich weiß es nicht‹, sagte ich, als Ariel sich mit einem Gesichtsausdruck erzwungenen Interesses wieder zu uns gesellte, als sei es für sie jetzt die wichtigste Sache im Leben zu erfahren, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. ›Vielleicht gehe ich auf die Handelsschule, bekomme einen Job durch eine Zeitarbeitsfirma und lerne einen netten Mann wie dich kennen, Daddy‹, sagte ich.
Er saß dort mit einem erstorbenen Lächeln auf dem Gesicht, als hätte ich ihn gerade mit einem Stein an der Schläfe getroffen. Ariels Hände flatterten wie zwei kleine erschreckte Vögel, die sich schließlich aufeinander niederließen und sich gegen ihre wunderschön geformten Brüste pressten.
›Also‹, meinte Daddy, ›du bist wohl ein bisschen müde. Es nimmt einen mit, ich weiß. Morgen machen wir etwas Schönes, gehen vielleicht zum Yachtclub, machen eine Bootsfahrt und essen dann schön zu Mittag. Wie hört sich das an? Das haben wir schon eine ganze Weile nicht mehr gemacht, nicht?‹ ›Nein‹, bestätigte ich und überlegte einen Moment. ›Etwa zwei Jahre lang nicht, glaube ich.‹
Er zwang sich zu lächeln.
›Dann wird es Zeit, das mal wieder zu machen‹, beschloss er und stand auf.
Ariel sprang förmlich auf.
›Bist du sicher, dass du nicht mit uns ins Kino gehen willst?‹, fragte sie.
›Nein, danke‹, erwiderte ich. Mein Lächeln war wie eine kleine mechanische Bewegung, die von dünnen Drähten an den Mundwinkeln hervorgerufen wurde.
›Wir kommen früh zurück‹, versprach Daddy. Er holte sein leichtes Jackett, und Ariel ging ins Badezimmer, um Make-up und Frisur zu korrigieren. Sie wirkten wie zwei Teenager, die ein Rendezvous hatten. Ich hasste sie deswegen, sagte aber nichts, und sie gingen.
Ich erinnere mich daran, dass es so still in der Wohnung war, dass ich meinen Herzschlag hören konnte. Meine Neugierde trieb mich zu einer Erkundungstour durch die Wohnung; ich ging in ihr Schlafzimmer und schaute mir Ariels Kleidung an. Ich öffnete sogar die Schubladen und betrachtete ihre Wäsche.
Vermutlich suchte ich nach einer Spur von Mommy oder mir in Daddys gegenwärtigem Leben. Er besaß nicht einmal ein Bild von mir.
Schließlich ging ich ins Bett, sah ein wenig fern und schlief ein. Ich hörte nicht, wie sie nach Hause kamen, aber Daddy schaute bei mir herein und drehte den Fernseher ab. Das weckte mich auf, aber er wartete nicht. Ich hörte, wie sich die Tür leise schloss, und dann hörte ich ihre Stimmen durch die Wand, Ariels helles Kichern und seine tiefe, leise Stimme.
Sie versuchten sich so leise wie möglich zu lieben, und ich versuchte es zu ignorieren, aber ich wusste, was geschah. Hinterher lag ich da, starrte an die dunkle Decke und fragte mich, was Mommy heute Abend tat.
Ich sah sie vor mir, alleine in ihrem Bett, verwirrt. Es war wohl nur natürlich, dass sie mir in diesem Augenblick stärker Leid tat. Daddy schien sein Leben umzustrukturieren, so wie er es haben wollte. Er hatte eine neue romantische Beziehung. Ich fragte mich, ob er Ariel Dinge erzählte, die er meiner Mutter gesagt hatte, als sie noch jung und verliebt waren. Benutzte er die gleichen Gedichte, gab er die gleichen Versprechen, leistete er die gleichen Schwüre? Vielleicht besuchte er mit ihr sogar die gleichen Orte.
Am schlimmsten bei der Scheidung meiner Eltern ist für mich das Gefühl, dass nichts, was Daddy sagt, irgendetwas bedeutet. Offenbar ist sein ganzes Leben eine einzige große Lüge. Vielleicht war das unfair in Anbetracht der Probleme meiner Mutter, aber ich konnte es nicht ändern. Es sollte doch für gute und schlechte Zeiten gelten, oder? Warum sollte er irgendeines seiner Versprechen halten?
Ich behielt das alles für mich. Ariel war am folgenden Tag weiterhin unwahrscheinlich nett. Es war kein übler Tag. Ich genoss die Bootsfahrt. Daddy ließ mich steuern, während er und Ariel hinter mir saßen und aufschrien, wenn bei meinen abrupten Wendungen das Wasser auf sie spritzte. Ich dachte, vielleicht sollte ich mich einfach amüsieren und alles vergessen, aufhören damit, einen Sinn darin sehen zu wollen.
Mittags schmeckte es mir besser, und an jenem Abend aßen wir in einem kleinen italienischen Restaurant in Santa Monicas Third Street Promenade. Ariel und ich kauften in einigen der Geschäfte ein, dann gingen wir in einen Musikladen und Daddy spendierte mir drei neue CDs. Außerdem schenkte er mir noch ein albernes T-Shirt und einen Ring mit meinem Geburtsstein.
Meinen Vater zu besuchen war wie Weihnachten und Geburtstag auf einen Tag. Ich hätte den Mond von ihm verlangen können.
Erst am Abend wurde mir klar, dass ich von der Bootstour braun geworden war. Es war das Erste, was Mommy auffiel, als Daddy mich am Sonntag zurückbrachte.
›Schau dich an‹, rief sie. ›Du hast ja einen Sonnenbrand. Hast du keinen Sonnenschutz benutzt?‹
›Ich habe keinen Sonnenbrand, Mommy, nur ein bisschen Farbe.‹
›Ein bisschen. Du solltest es doch besser wissen, Misty, und er auch. Seine Freundin hat wohl keine Ahnung davon. Nach allem, was ich höre, ist sie nicht viel älter als du.‹
Mommy wartete natürlich darauf, dass ich ihr Bericht erstattete, aber das tat ich nicht, und sie war enttäuscht. Als sie all die Dinge sah, die Daddy mir gekauft hatte, war das wie Salz auf ihren Wunden. Sofort legte sie wieder los, beklagte sich über die finanzielle Regelung.
So wird das immer weitergehen, dachte ich. Keiner von ihnen wird zulassen, dass ich mich amüsiere, wenn ich beim anderen bin. Ich war besser dran, wenn ich mit keinem von ihnen zusammen war. Mehr und mehr setzte sich dieser Gedanke in mir fest, und deshalb geriet ich in Schwierigkeiten«, sagte ich. Ich schaute Dr. Marlowe an und fügte hinzu: »Zumindest war das einer der Gründe.« Sie war glücklicher. Ich gab meinen Eltern nicht die ganze Schuld. Eine gewisse Verantwortung übernahm ich auch selbst.
»Mein nächster Besuch bei Daddy fand nicht am verabredeten Wochenende, sondern später statt, und das blieb nicht die Ausnahme, sondern wurde zu einer Art Regel. Wieder einmal berief er sich auf geschäftliche Schwierigkeiten. Immer wenn er versuchte, Termine zu ändern, ließ Mommy ihn leiden. Sie ließ ihren Anwalt seinen Anwalt anrufen und sich darüber beklagen, wie sehr das ihr Leben zerrüttete.
Sie wollte, dass ich für sie Partei ergriff, deshalb redete sie beim Abendessen oder wann immer ich zur Verfügung stand ununterbrochen darüber. Sie platzte in mein Zimmer, um mir mitzuteilen, dass mein Vater angerufen und gesagt hatte, er könne am nächsten Wochenende nicht kommen. Er musste nach Chicago oder Boston oder sonst wo hin.
›Auch ich habe ein Leben, das ich wieder in Gang bringen muss‹, beklagte Mommy sich. ›Ich habe nicht vor, meine Pläne zu ändern, weil sein Leben ein einziges Chaos ist.‹
›Mir ist das egal‹, sagte ich ihr.
›Natürlich ist dir das egal. Wer kann dir schon einen Vorwurf daraus machen, dass es dir gleichgültig ist? Sieh doch nur, wie egoistisch er ist. Der Richter hat die Regeln festgelegt, und er wird lernen müssen, danach zu leben, ob er will oder nicht‹, schwor sie.
Nicht einmal kam ihr in den Sinn, dass ich diejenige war, die unter all dem litt. Wann würde das aufhören? Wann zogen Blitz und Donner weiter? Jedes Mal, wenn beim Essen ihr Telefon klingelte, befürchtete ich Ärger. Anscheinend telefonierte sie jeden Tag mit ihrem Anwalt. Ganz gleich, wie viel sie verdienen, Scheidungsanwälte können doch unmöglich ihre Arbeit genießen, besonders wenn sie Klienten wie meine Eltern haben.«
»Du hast ja keine Ahnung, solange du noch nichts über meine Eltern gehört hast«, legte Jade los. Bis dahin hatte sie mit übereinander geschlagenen Beinen aufmerksam dagesessen und ausgesehen, als genieße sie meine Geschichte beinahe. »Ihr armen reichen Mädchen«, spottete Star. Jade warf ihr einen Blick zu, der eine Kuh umgehauen hätte.
»Ich bin nicht reich«, widersprach ich.
»Du bist viel reicher als ich«, entgegnete sie. »Und du«, sagte sie an Jade gerichtet, »bist vermutlich noch reicher als Dr. Marlowe.«
»Ich weigere mich, mir einen Vorwurf daraus machen zu lassen, dass ich Geld habe«, rief Jade.
»Hast du noch nie gehört, dass man für Geld weder Glück noch Liebe kaufen kann?«, fragte ich Star.
Sie verzog die Mundwinkel.
»Nein, aber gib mir die Chance, enttäuscht zu sein«, sagte sie. Dr. Marlowe lachte diesmal lauthals. Wir alle wandten uns ihr zu. Cathy wirkte am überraschtesten.
»Ist schon in Ordnung, Mädchen«, sagte Dr. Marlowe. »Ich bin froh, dass ihr nicht gleich seid und nicht alle gleich denkt. Auf diese Weise könnt ihr einander mehr bieten«, erklärte sie. Jade schaute skeptisch drein, aber nicht annähernd so skeptisch wie Star.
»Habt doch die Geduld, einander eine Chance zu geben«, bat Dr. Marlowe.
Alle entspannten sich wieder und richteten ihre Blicke auf mich.
»Ich kam in der Schule kaum noch mit, aber je schlechter ich wurde, desto mehr gaben sie einander die Schuld daran und desto mehr Streit gab es«, sagte ich. »Ich begann auch in anderer Hinsicht nachlässig zu werden, Kleidung, Haare, Essen. Ich hasste es, wie ich aussah. Ich hasste alles an mir.
Die dünnen Fäden, die mich noch an meine alten Freundinnen banden, rissen damals endgültig. Sie wollten immer weniger mit mir zu tun haben, deshalb hing ich mit einer anderen Clique herum. Schließlich fing ich etwas an mit einem Jungen namens Lloyd Kimble, der so anders war als Charles Allen, wie man sich nur vorstellen kann.
Lloyds Eltern lebten tatsächlich getrennt. Er wohnte bei seiner Mutter, aber die war so viel außer Haus, dass er tatsächlich allein war. Mit seinem Vater hatte er nichts mehr zu tun. Er hasste ihn sogar. Mir erzählte er, dass er sich tatsächlich mit ihm geprügelt hatte, als sein Vater bei ihrem letzten Zusammensein versucht hatte, ihn zu bestrafen. Er sah nicht schlecht aus, obwohl seine Nase bei einem Kampf einmal gebrochen worden war. Er sagte, der andere Junge hätte ihn mit einem Baseballschläger erwischt. Er hatte dunkle, grüblerische Augen und ein schmales Gesicht mit einem beinahe eckigen Kinn. Er wirkte hart und auf alles vorbereitet. Ständig schien er wütend zu sein und hasste wirklich alle, mit denen ich früher befreundet gewesen war. Er war von der Schule suspendiert worden, hatte vor dem Jugendgericht gestanden und eine Bewährungsstrafe erhalten. Wenn meine Mutter gewusst hätte, dass ich auch nur mit ihm redete, hätte sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Vielleicht tat ich es deshalb.
Dr. Marlowe und ich ergründen das noch, nicht wahr?«
»Unter anderem«, bestätigte Dr. Marlowe leicht nickend.
»Für die Schwierigkeiten, unter denen ihr alle leidet, gibt es keine einzelne Ursache.«
»Vielleicht tatest du deshalb was?«, fragte Star mit ungeduldigem Gesichtsausdruck.
Ich schaute erst Dr. Marlowe und dann sie an.
»Mit ihm weglaufen«, erwiderte ich.
Star lächelte.
»Weglaufen? Du bist doch hier, oder?«
»Eben deshalb«, sagte ich.