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Ein Blick in die Zukunft

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Wenn man darin stand, wirkte Hollys Laden klein, denn jeder verfügbare Platz wurde genutzt. Der Geruch von Räucherstäbchen hing in der Luft, und eine Art fernöstlicher Musik wurde gespielt. Große Kristalle, scharfkantig und schimmernd, lagen auf antiken Tischen mitten im Verkaufsraum, und an den Seitenwänden standen hohe Bücherregale aus Eichenholz. Ich wandte meinen Blick den Büchern zu, die direkt neben mir standen, und stellte fest, daß die Regale mit Titeln aufgefüllt waren, in denen es um Meditationstechniken und Astrologie ging, um das Gesundbeten, das Leben nach dem Tod und parapsychologische Wundertaten, was auch immer das sein mochte.

Über die Rückwand zog sich eine breite Glasvitrine voller Glückssteine, auch blauer Topas und Zitrin, Amethyste, Granaten und andere Mineralien, die in Ohrringe eingefaßt waren. Auf den Regalen hinter der Glasvitrine standen Schächtelchen mit Räucherstäbchen, Teekistchen, Tarotkartensets und Heilkräutersortimente. Die Decke war mit Himmelskarten von den Sternbildern bedeckt, und dazwischen waren Poster angebracht, auf denen die Kräfte verschiedener Steine erklärt wurden. Über der Registrierkasse hing, von Blumen umrahmt, die Fotografie eines Mannes, von dem Holly sagte, es sei der buddhistische Guru, der sie in die Meditation eingeführt habe. Ein Vorhang aus bunten Perlenschnüren hing in der Tür, die zu den Hinterzimmern des Ladens führte.

Wir hatten den Verkaufsraum gerade erst betreten, als sich der Vorhang teilte und ein junger Mann in einem Rollstuhl im Laden erschien. Ich wußte, daß es sich bei ihm um Billy Maxwell handeln mußte. Er hatte seidiges ebenholzschwarzes Haar, das ihm auf die Schultern fiel und sein Gesicht umrahmte, ein Gesicht, dem der klare, nahezu alabasterne Teint einen engelhaften Glanz verlieh. Sowie er uns sah, leuchteten seine hellgrünen Augen auf, und ein liebevolles Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Selbst in dem weiten hellblauen Hemd war ihm deutlich anzusehen, wie kräftig und muskulös sein Oberkörper war. Aufgrund seiner Behinderung war er mehr als andere Menschen auf seine Arme und Schultern angewiesen. Er trug eine dunkle Jeans, weiße Socken und Turnschuhe. An einem Goldkettchen um seinen Hals baumelte ein großer, runder Edelstein in einer goldenen Fassung, und im durchstochenen rechten Ohrläppchen trug er einen Türkisohrring.

»Hi, Billy«, sagte Holly, als er in seinem Rollstuhl näher kam und den Blick starr auf mich richtete.

»Hi. Ich hatte dich noch nicht so früh zurückerwartet. Wie ist es gelaufen?« fragte er sie, konzentrierte sich dabei jedoch weiterhin auf mich.

»Gut. Das ist Melody.«

»Es freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Billy und reichte mir die Hand. Er hatte lange, zarte Finger, und seine Handfläche fühlte sich warm an.

»Hi«, sagte ich. Sein Gesicht schien eine solche Friedfertigkeit auszustrahlen, eine Ruhe, die dazu beitrug, daß ich mich gleich wie zu Hause fühlte.

»Dann hast du also eine große Reise angetreten«, sagte er und lehnte sich bei diesen Worten zurück.

»Ja«, antwortete ich und konnte meine Nervosität nicht verbergen.

»Die Chinesen sagen, eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt, und diesen einen Schritt hast du getan. Das ist gewöhnlich der schwierigste Teil«, fügte er hinzu. »Jetzt bist du in Schwung gekommen, und diese Triebkraft wird sich verselbständigen und dich dahin tragen, wohin du gehen mußt.«

Ich nickte und warf dann Holly einen Blick zu, weil ich nicht sicher war, was ich jetzt sagen oder tun sollte. Sie lachte.

»Hier wirst du gute Ratschläge bekommen, Melody. Billy ist der beste Reiseführer in unserer Galaxis.«

Billy lächelte, ließ mich aber nicht aus den Augen. Es war befremdlich, daß er mich so intensiv anstarrte, aber ich fühlte mich nicht eingeschüchtert oder gehemmt. Ich konnte deutlich seine Aufrichtigkeit und seine Anteilnahme wahrnehmen, und es kam mir vor, als seien wir schon seit Jahren miteinander bekannt und nicht erst seit wenigen Minuten.

»Was hat sich hier inzwischen getan?« fragte Holly.

»Mrs. Hadrons Tochter hatte heute in den ersten Morgenstunden eine Frühgeburt, aber dem Baby geht es gut. Sie hat vorbeigeschaut, um sich bei uns für den Rauchquarz zu bedanken – er hat ihrer Tochter wirklich sehr dabei geholfen, die Krise zu überstehen. Und Mr. Brul ist heute morgen hier gewesen, um dir mitzuteilen, der Variszit sei ihm eine große Hilfe gewesen, sich an ein früheres Leben zu erinnern. Er hatte aufregende Einzelheiten zu berichten.«

»Ein früheres Leben?« fragte ich.

»Ja. Er glaubte, in England, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, gelebt zu haben. Er hat gesagt, er sei Buchhalter gewesen, und das fand er einleuchtend. Heute ist er Wirtschaftsprüfer.«

»Soll das etwa heißen, du glaubst tatsächlich, daß wir alle frühere Leben haben?« fragte ich und ließ meinen Blick von ihm zu Holly schweifen, ehe ich wieder ihn ansah.

»Ja«, sagte Billy lächelnd. »Daran besteht für mich kein Zweifel.«

»Tja, aber für den Moment werden wir uns mit Melodys derzeitigem Leben befassen müssen«, sagte Holly. »Hier entlang, Schätzchen.«

»Es tut mir leid, daß ich euch mit dem Gepäck nicht helfen kann«, entschuldigte sich Billy.

»Wir schaffen das schon«, erwiderte Holly. »In ein paar Minuten sind wir zurück.«

»Laß mich dich hier willkommen heißen, Melody, und mach dir keine Sorgen. Du bist von positiven Energien umgeben.« Seine Augen wurden klein. »Für dich wird sich alles zum Guten wenden«, sagte er voller Zuversicht. Es war, als könnte er tatsächlich in die Zukunft sehen.

»Danke«, sagte ich.

Die Türglocke läutete, und zwei ältere Damen betraten das Geschäft. Während Billy sie bediente, führte Holly mich durch den Perlenvorhang zu den Wohnräumen hinter dem Laden.

»Die hinteren Zimmer sind unsere«, erklärte sie. Ich folgte ihr durch die Tür in einen kleinen Flur. Gleich rechts neben uns lag ein Wohnzimmer mit einem breiten Dreiersofa, einem kleineren Zweiersofa, zwei Sesseln, einem Glastisch und zwei Stehlampen.

»Das hier ist Billys Schlafzimmer«, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf das erste Zimmer links. »Es ist einfacher für ihn, das Zimmer gleich hinter dem Laden zu haben. Das Zimmer nebenan ist meines, und du kannst das Zimmer gegenüber haben«, sagte sie und öffnete die Tür.

Es war ein sehr kleines Zimmer, mit einem einzigen Fenster nach hinten hinaus. Zu sehen gab es nicht gerade viel: nur eine schmale Gasse, die der Müllabfuhr als Zufahrtsweg diente, und einen kleinen umzäunten Bereich für einen Hund aus der Nachbarschaft. Der Hund hielt sich im Moment in seiner Hundehütte auf, und nur seine großen schwarzen Pfoten waren zu sehen. Vor dem Fenster hingen hellbraune Baumwollgardinen, und auf den Fensterladen waren eine Mondsichel und ein Stern gemalt. Auf dem Nachttisch stand eine große, kugelförmige zartviolette Kerze. Auf dem Bett aus dunklem Kiefernholz lagen eine hellbraune Steppdecke und farblich darauf abgestimmte Kissen. Mit seinem ockerfarbenen Teppich, den Wänden, die dunkelrosa gestrichen waren, der Lampe, dem Schaukelstuhl, dem Tischchen und der passenden Kommode aus dunklem Kiefernholz machte das Zimmer einen sehr gemütlichen Eindruck. In der Ecke über dem Stuhl hingen Glöckchen, die sich im Moment fast gar nicht bewegten.

»Dieses Zimmer wird häufig benutzt«, erklärte Holly. »Viele Leute aus unserem Freundeskreis kommen auf dem Weg nach da oder dort durch New York und bleiben über Nacht. Ich weiß selbst, daß es nur ein kleines Zimmer ist, aber ...«

»Es ist ganz prima, Holly. Ich danke dir.«

»Warum machst du es dir nicht einfach bequem hier? Das Bad ist am Ende des Ganges. Mach dich frisch. Ich werde mich auch frisch machen und meine Schwester anrufen. Dann essen wir etwas zu Abend. Billy kocht jeden Abend.«

»Ach?«

»Und er ist auch der Feinschmecker in diesem Haushalt.«

»Du hast es mir zwar genau erzählt, aber ich habe vergessen, warum er im Rollstuhl sitzt. Sagtest du nicht, auf ihn sei geschossen worden?«

»Er ist auf der Straße überfallen worden, vor etwa fünf Jahren, gar nicht weit von hier. Er ist fortgerannt, und sein Angreifer hat auf ihn geschossen und Billys Rückenmark verletzt.«

»Wie gräßlich, aber ich bin trotzdem froh, daß du es mir gesagt hast. Ich wollte nichts Falsches sagen.«

»Mach dir darüber keine Sorgen. Billy hat weitgehend Frieden mit sich selbst und mit seinem Gebrechen geschlossen. Aufgrund seiner Spiritualität hat er häufiger Mitleid mit anderen Menschen als sie mit ihm. Ich kann mich nicht an einen einzigen Augenblick in diesen letzten fünf Jahren erinnern, in dem er deprimiert gewesen wäre. Jeder, der bei uns hereinschaut und sich auch nur im geringsten selbst bedauert, schämt sich normalerweise, wenn er wieder geht, für sein eigenes Selbstmitleid, nachdem er mit Billy geredet hat. Und außerdem ist er ein wunderbarer Dichter, dessen Lyrik in vielen Literaturzeitschriften veröffentlicht wird. Ich werde ihn überreden, dir später etwas vorzulesen.«

Holly legte mir einen Arm um die Schultern und drückte mich.

»Wie Billy vorhin schon gesagt hat, es wird sich alles zum Guten wenden, Melody.«

Ich nickte. Die Entdeckungen, die wir gemacht hatten, der schnelle Entschluß, die Reise anzutreten und zu unserer Fahrt nach New York aufzubrechen, aber auch meine ersten Eindrücke von dieser überwältigenden Stadt – all das löste plötzlich eine enorme Ermattung aus. Ich spürte, wie mein Körper in sich zusammensackte, wie meine Knie weich wurden und meine Lider bleischwer.

»Ruh dich aus«, lautete Hollys kluger Rat. Sowie sie mich allein gelassen hatte, legte ich mich hin und ließ meinen Kopf auf das Kissen sinken.

Ein leises Klirren weckte mich, ganz ähnlich dem Geräusch von Gläsern, die auf dem Einsatz einer Spülmaschine aneinanderklappern. In den ersten Sekunden wußte ich nicht, wo ich war. Die Sonne war untergegangen, und das Zimmer lag im Schatten. Während ich geschlafen hatte, war jemand hereingekommen und hatte die kleine Lampe neben dem Schaukelstuhl angeknipst. Ich setzte mich auf, um mir den Schlaf aus den Augen zu reiben. Das Fenster stand einen Spalt weit offen, und die Brise, die hineinwehte, ließ die Glöckchen, die von der Decke hingen, aneinanderschlagen, womit das Geheimnis des Geräuschs geklärt war, das mich geweckt hatte.

Ich hörte ein behutsames Klopfen an der Tür.

»Ja?«

Holly streckte den Kopf herein. Sie trug eines ihrer leuchtend gelben Kleider mit einem gelb und grün gemusterten Stirnband, und silberne Ohrringe mit Steinen baumelten ihr bis auf die Schultern.

»Du hast eine ganze Weile geschlafen. Wirst du allmählich hungrig?«

»Ja«, sagte ich.

»Prima. Ich habe mit meiner Schwester Dorothy gesprochen, und es ist alles geregelt. Sowie wir wissen, wann dein Flug ankommt, werde ich sie anrufen, und sie wird dich mit ihrem Chauffeur vom Flughafen abholen. Meine Freundin kümmert sich bereits um das Ticket und hat mir versprochen, innerhalb der nächsten Stunde zurückzurufen. Billy hat ein Festmahl zubereitet. Mach dich frisch und komm, wenn du soweit bist«, sagte sie.

»Danke, Holly.«

»Nichts zu danken, meine Süße. Ach, noch etwas«, sagte sie, ehe sie die Tür wieder schloß. »Ich habe mit Kenneth gesprochen. Er läßt dich grüßen und wünscht dir viel Glück«, fügte sie hinzu, doch mir fiel auf, daß sich ihr Tonfall verändert hatte.

»Stimmt etwas nicht?«

»Er hat ein wenig bedrückt auf mich gewirkt. Vielleicht vermißt er uns. Vor allem dich«, sagte sie entgegenkommend.

»Wahrscheinlich arbeitet er zwanzig Stunden am Tag.«

»Zwanzig? Wohl eher zweiundzwanzig«, sagte sie mit einem gepreßten Lachen. Dann schloß sie die Tür, und ich stand auf und öffnete meinen Koffer, um etwas rauszusuchen, was ich anziehen konnte. Nachdem ich mich gewaschen, mir das Haar gekämmt und mich umgezogen hatte, begab ich mich in die Küche. Das Essen duftete verführerisch. Bei meinem Eintreten war Billy über einen Tisch gebeugt, der offensichtlich niedriger als gewöhnlich war, damit er die richtige Höhe für seinen Rollstuhl hatte. Er drehte sich zu mir um. Holly war im Laden mit einer Kundin beschäftigt.

»Hi. Wie fühlst du dich?« fragte Billy.

»Nach meinem Nickerchen geht es mir gleich viel besser. Es sieht ganz so aus, als hätte ich länger geschlafen als geplant. Kann ich dir bei irgend etwas helfen?«

»Es ist alles fertig«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf den Tisch, den er bereits gedeckt hatte. »In etwa zehn Minuten wird Holly den Laden schließen, und dann essen wir zu Abend. Laß mich schnell noch die Kerzen anzünden«, sagte er. »Ich mag gern Schummerlicht beim Essen. Das Geschmacksempfinden verstärkt sich, wenn man die anderen Sinne weitgehend ausschaltet. Hast du das gewußt?«

»Nein.«

»Es ist aber wahr«, sagte er und lachte über meine Skepsis. »Ist dir noch nie aufgefallen, daß jedes Essen im Dunkeln besser schmeckt? Vorausgesetzt natürlich, daß das Essen gut ist.« Er zündete der Reihe nach die Kerzen an und kehrte dann an seinen Arbeitstisch zurück.

»Wann hast du angefangen, selbst zu kochen?«

»Als ich Vegetarier geworden bin. Man hat es viel leichter, wenn man sich selbst etwas kocht, und außerdem ist die Zubereitung von Speisen eine Kunst und äußerst befriedigend. Heutzutage halten die meisten Menschen das Kochen für eine Last, aber das liegt nur daran, daß sie nicht stolz auf das sind, was sie bewerkstelligen. Sie haben den Blick für das Wesentliche verloren, für wirklich dankbare Aufgaben, und sie halten nicht mehr Ausschau nach der Belohnung, die von innen heraus kommt. Für sie ist das Leben eine reine Qual. Sie sind nie ausgeglichen und können sich nur selten an ihren eigenen Leistungen erfreuen. Ihre Tage sind angefüllt von Streß und negativer Energie.«

Er drehte sich jetzt wieder zu mir um.

»Ich möchte dich nicht mit einem Vortrag langweilen. Holly sagt, wenn ich erst einmal anfange, dann bin ich wie ein aufgezogenes Uhrwerk, das einfach nicht ablaufen will.«

»Oh nein, mich stört das ganz und gar nicht«, sagte ich. »Warum bist du Vegetarier geworden?«

Billy unterbrach seine Essensvorbereitungen und drehte seinen Rollstuhl so weit um, daß er mich direkt ansehen konnte.

»Ich hänge zahlreichen buddhistischen Bräuchen an und erachte jedes tierische Leben für heilig, aber auch andere religiöse Gruppen praktizieren den Vegetarismus. In der römischkatholischen Kirche beispielsweise wird es im klösterlichen Leben seit 1666 von den Trappistenmönchen praktiziert, und unter den Protestanten zählen die Adventisten-des-Siebenten-Tages zu den Anhängern. Ich glaube fest daran, daß das Töten von Tieren grausam und überflüssig ist und beträchtlich zur Mißachtung des menschlichen Lebens beitragen kann. Und außerdem lebt man als Vegetarier gesünder, solange die Proteinzufuhr nicht vernachlässigt wird.« Er lächelte.

»Jetzt hältst du mich für einen ganz schönen Spinner, stimmt’s?«

»Nein«, sagte ich, »aber ich kenne eine Menge Leute in Cape Cod, die unglücklich wären, wenn die Menschen aufhören würden, Fisch zu essen.«

»Also, in dem Punkt mache ich eine Ausnahme«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Gelegentlich esse ich Fisch, der in einem Netz gefangen worden ist, vorausgesetzt, er ist garantiert frei von chemischen Zusätzen.«

»Irgendwas riecht hier sehr gut«, räumte ich ein.

»Das ist unser Abendessen«, kündigte Billy an und nahm auf seinem Stuhl eine aufrechte Haltung ein. »Beginnen werden wir mit einer eisgekühlten Okra-Joghurt-Suppe, dann gibt es einen Salat aus Orangen, Walnüssen und Lattich, gefolgt von Reis, Karotten, Pilzen und Pekannußfrikadellen auf geröstetem Siebenkornbrot. Zum Nachtisch habe ich einen Karottenkuchen mit einer Glasur aus Ricotta und Johannisbrot zubereitet. Etwas ganz Besonderes, um deine Ankunft zu feiern«, fügte er hinzu.

Mein Schweigen brachte ihn zum Lachen.

»Du weißt wohl nicht, was auf dich zukommt, was?« sagte er.

»Das klingt alles sehr ... interessant«, sagte ich, und er lachte noch lauter.

»Was ist denn hier los?« fragte Holly, als sie in die Küche kam.

»Ich habe Melody gerade die Gänge unseres Menüs aufgezählt, und sie war sprachlos. Dann hat sie gesagt, das klänge interessant. Findest du das nicht äußerst diplomatisch?«

»Oh. Mach dir keine Sorgen, Melody. Dir steht eine freudige Überraschung bevor«, versicherte mir Holly.

»Hast du den Laden abgesperrt?« fragte Billy. Holly nickte.

»Dann kann das Festmahl ja beginnen«, kündigte er an und klatschte in die Hände.

Ich fragte noch einmal, ob ich etwas helfen könnte, doch Billy behauptete beharrlich, ich sei der Ehrengast. Es überraschte mich, wie flink er sich auf seinem Rollstuhl durch die Küche bewegen konnte. Holly schaltete die Lichter aus und setzte sich auf ihren Platz.

Die Suppe war köstlich und erfrischend. Der Salat schmeckte sehr gut, doch am meisten erstaunten mich die vegetarischen Nußfrikadellen, weil sie nicht nur in ihrer Konsistenz, sondern sogar geschmacklich große Ähnlichkeit mit Fleisch aufwiesen.

»Wie hast du das hingekriegt?« fragte ich mit vollem Mund.

»Er hat das richtige Gespür dafür«, sagte Holly.

Billy fragte mich über Cape Cod und das Leben aus, das ich dort geführt hatte, aber er erkundigte sich auch nach meinem früheren Leben in Sewell, West Virginia. Er war ein guter Zuhörer, der jede Einzelheit in sich aufsog. Gelegentlich tauschten er und Holly Blicke miteinander aus, die mir deutlich sagten, daß sie sich ausgiebig über mich und meine Situation unterhalten hatten.

»Du mußt dir darüber klarwerden«, sagte Billy, als ich meine Erklärung für den Antritt dieser Reise abgeschlossen hatte, »daß Orte Menschen verändern. Wir reagieren auf unsere Umgebung, auf die anderen Menschen um uns herum, auf das Klima und insbesondere auf die Kraftfelder der Energien, die dort herrschen. Selbst wenn es sich bei dieser Frau um deine Mutter handeln sollte, könnte sie dir inzwischen fremder geworden sein, als du es erwartest.«

»Das möchte ich nicht hoffen«, sagte ich kläglich.

»Trotzdem solltest du darauf vorbereitet sein«, riet mir Billy.

»Ich weiß nicht, wie man sich auf etwas Derartiges vorbereiten könnte.«

»Vielleicht kann ich dir dabei helfen«, sagte er und sah mich eindringlich an.

Das Telefon läutete, und Holly sprach mit ihrer Freundin vom Reisebüro. Nachdem sie aufgelegt hatte, teilte sie mir mit, mein Flug sei für übermorgen gebucht.

»Du wirst etwa um elf Uhr vormittags Ortszeit in Los Angeles ankommen. Ich rufe Dorothy an und gebe ihr die Flugnummer und die Ankunftszeit durch«, fügte sie hinzu und nahm den Telefonhörer wieder ab. Mein Herz begann heftig zu pochen, da meine Pläne jetzt in die Tat umgesetzt wurden. Als ich zu Billy aufschaute, sah ich, daß er mich liebevoll anlächelte, und in seinen Augen fand ich Trost. Das erleichterte es mir, wieder ruhiger zu werden.

Als Holly diesmal den Hörer auflegte, schüttelte sie den Kopf.

»Dorothy wird dich bestimmt zum Mittagessen in irgendein Restaurant in Beverly Hills ausführen, in dem man für ein Bröckchen Sellerie und eine Handvoll Nudeln hundert Dollar zahlt«, sagte sie. »Du mußt dir unter meiner Schwester jemanden vorstellen, den man bei Laune halten muß. Auf Hollywood trifft das ohnehin zu, aber in einem gewissen Sinne ist ganz Los Angeles nichts weiter als eine Art Disneyland für die Reichen und Berühmten.«

»Du solltest sie lieber ihre eigenen Schlußfolgerungen ziehen lassen, Holly«, sagte Billy nachsichtig. »Wer weiß? Möglicherweise fühlt sie sich in dieser Welt wohl.«

»Doch nicht ausgerechnet dieses Mädchen, das mit beiden Füßen auf dem Boden steht. Hör auf mich, Melody. Sieh zu, daß du es so schnell wie möglich hinter dich bringst. Finde heraus, was du herausfinden mußt, und falls es nicht das sein sollte, was du erwartet hast oder dir wünschst, dann schnappst du dir den nächsten Flieger, und wenn du Lust hast, kommst du noch einmal bei uns vorbei, ehe du nach Cape Cod zurückkehrst«, sagte Holly. »Und außerdem kann ich dir nur raten, neunzig Prozent dessen, was meine Schwester dir erzählt, zu ignorieren und die übrigen zehn Prozent mit Skepsis zu betrachten.«

Das Telefon läutete wieder. Holly redete ein Weilchen mit dem Anrufer, und nachdem sie aufgelegt hatte, teilte sie uns mit, sie müsse kurz weg.

»Ich muß jemandem die Karten legen. Das ist schon längst überfällig. Es gefällt mir gar nicht, daß ich an deinem ersten Abend nicht bei dir sein kann, aber ...«

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Billy.

»Wirst du ihr eines deiner Gedichte vorlesen?«

»Wenn sie es möchte«, erwiderte er und wandte sich zu mir um.

»Oh ja, bitte«, sagte ich. »Aber ich bestehe darauf, daß du mich beim Abspülen helfen läßt.«

»Kein Problem. Ich bin ein Gourmetkoch, und alle Gourmetköche nehmen beim Abspülen gern Hilfe von anderen an.«

Er und Holly lachten, und ich lächelte strahlend. Ich war erst seit wenigen Stunden in New York, und doch fühlte ich mich hier jetzt schon mehr zu Hause als bei meinen sogenannten Verwandten und nahen Angehörigen. Vielleicht hatte Billy recht; vielleicht gab es tatsächlich so etwas wie positive Energie, und vielleicht würde er mir so viel von dieser Form von Energie abgeben können, daß ich es schaffte, die dunklen Täler und die finsteren Tunnel zu überstehen, die sich vor mir auftaten. Die Frage war nur, ob ich am Ende des Tunnels ein Licht finden würde.

Nachdem ich die Küche aufgeräumt und das Geschirr gespült hatte, verstaute ich die Kochutensilien in den Schränken und schaute dann ins Wohnzimmer. Dort saß Billy und hielt den Blick auf einen Notizblock gerichtet, der auf seinem Schoß lag.

»Komm rein«, sagte er. »Ich habe mir gerade überlegt, was von den Dingen, die ich geschrieben habe, deiner momentanen Situation besonders angemessen ist, und diese Gedanken haben mich weit zurückgeführt, bis hin zu meiner Wiedergeburt.«

»Wiedergeburt?«

Er nickte und schnippte sich einige Haarsträhnen aus den Augen. Auf seinen Lippen spielte wieder dieses zarte, engelsgleiche Lächeln. Nie war mir jemand begegnet, der so sehr den Eindruck vermittelte, seinen inneren Frieden gefunden zu haben. Ich fühlte mich an die tiefe Ruhe vor einem Sturm erinnert, wenn die ganze Welt den Atem anzuhalten scheint. Cary bezeichnete das als Mutter Naturs arglistige Täuschung, und er behauptete, sie wolle uns heimtückisch in dem Glauben wiegen, alles sei in Ordnung, ehe sie die Furien über uns hereinbrechen ließ.

»Ja, meine Wiedergeburt, denn ich war tot für so viele Dinge, ehe ich ... ehe ich gestorben bin«, sagte er. »Ich war so wie die meisten Menschen, blind und taub, verwirrt und abgelenkt von all dem Getrappel und Geplapper. Ich habe materiellen Werten nachgejagt, auf der niedersten Ebene gelebt und niemals die Weise gehört.«

»Die Weise?«

»Die wohltuende Weise des Spirituellen, diese liebliche Melodie, die Stimme, die tief in uns allen ertönt, die Klänge, die uns miteinander verbinden, mit jedem Lebewesen und auch mit allem, was nicht lebendig ist. Sogar der Mann, der auf mich geschossen hat, ist ein Bestandteil dieser allgegenwärtigen spirituellen Essenz, und in ebendiesem Sinne sind wir für immer miteinander verbunden, und jeder von uns beiden ist ein Teil des anderen.«

»Hat man ihn je geschnappt?«

»Nein, aber das spielt keine Rolle. Als er auf mich geschossen hat, hat er auch auf sich selbst geschossen. Diese Tat kettet uns bis in alle Ewigkeit aneinander.«

»Soll das heißen, du vergibst ihm?« fragte ich verwundert.

»Ja, selbstverständlich. Da gibt es nichts zu vergeben. Die negative Energie, die er in sich getragen hat, ist genau das, was vertrieben werden muß. Er war ein Gefangener dieser negativen Energien, eingesperrt in ihnen, ebenso, wie auch ich durch die Kugel, die mein Rückenmark zerschmettert hat, eine Zeitlang zu einem Gefangenen gemacht worden bin, der eingesperrt sein Dasein gefristet hat.«

»Wie kannst du dir so sicher sein?« fragte ich voller Neugier und Erstaunen.

»Ich habe in meinem Krankenhausbett gelegen und schreckliches Selbstmitleid gehabt, mir all die Dinge aufgelistet, die ich fortan nicht mehr tun kann, und ich habe es bedauert, wie groß meine Abhängigkeit von anderen Menschen war, und in Wirklichkeit wollte ich sterben«, erklärte er, »als plötzlich Holly neben meinem Bett stehengeblieben ist. Sie war in Begleitung ihres Gurus, eines älteren Mannes aus Indien, der Augen wie Juwelen hatte. Die beiden hatten sich es unter anderem zur Aufgabe gemacht, um anderen Gutes zu tun, gebrechliche Menschen aufzusuchen und Kranken Hoffnung zu geben. Gleich vom ersten Moment an habe ich etwas an diesem Guru wahrgenommen, eine Art innere Kraft, von der er mir etwas abgeben konnte, die er mir einflößen konnte. Er hat mir das Meditieren beigebracht und die Türen zu meinem neuen Ich geöffnet. Mein erstes Gedicht habe ich ihm gewidmet. Inzwischen ist er wieder nach Indien zurückgegangen. Im Laden hängt ein Bild von ihm. Später ist Holly zu mir gekommen und hat mir einen Job in ihrem Laden angeboten, und ich habe eingewilligt. Seitdem bin ich hier«, beendete er seinen Bericht.

»Sehen wir mal«, sagte er dann und blätterte die Seiten um. »Ah ja. Damals hatte ich gerade erst angefangen, Gedichte zu schreiben, kurz nachdem ich meine Arbeit hier aufgenommen hatte. Ich hatte in diesem Blatt, das im Village erscheint, ein paar Gedichte gelesen und mir gesagt, daß ich gern versuchen würde, meine Gedanken ebenfalls niederzuschreiben. Möchtest du es hören?«

»Ja, sehr gern.«

Lange Zeit blickte er stumm die Seite an, und dann las er mit einer sehr zarten, leisen Stimme die Worte.

»Ich war am Ende des Tageslichts angelangt

und stand vor der Tür zur Dunkelheit.

Doch als ich mein Gesicht berührte,

erkannte ich, daß ich die Augen geschlossen hielt und meine Haut kalt war.

Alles, was ich zu brauchen und zu lieben glaubte, war entschwunden,

und ich war nackt und zitterte vor Elend.

Sie nahmen Maß für meinen Sarg.

Plötzlich vernahm ich den Ruf einer Stimme aus meinem Innern.

Ich verdrehte die Augen, um hinter mich zu sehen,

um hinunter in die Tiefe zu schauen,

und ich sah eine einzige Kerze.

Sie lockte mich an, bis ich die Hand ausstrecken

und meine Finger in die Flamme halten konnte.

Langsam, mit unsäglicher Bedächtigkeit, ließ ich meinen toten Körper verbrennen,

und als nichts mehr von ihm übrig war, war ich nicht mehr nackt.«

Er blickte langsam auf.

»Das ist wunderschön«, sagte ich, »aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es verstanden habe.«

»Ich mußte aus meinem alten Körper herauskriechen, der jetzt verkrüppelt ist, und ich mußte ihn verbrennen, weil er buchstäblich mein Gefängnis war. Als ich erst einmal das innere Licht erblickt hatte, die wahre Spiritualität, war ich in der Lage, die Grenzen des physischen Leibs zu überschreiten und eine höhere Ebene zu erreichen. Eines Tages wird es auch dir so ergehen. Alles, was du liebst und zu brauchen glaubst, scheint verloren zu sein. Du bist auf der Suche, weil du dich nackt fühlst, ohne Sinn, Ziel oder Hoffnung; aber du wirst sehen, daß du alles, was du brauchst, in dir selbst trägst und du keinen einzigen Schritt in irgendeine Richtung unternehmen mußtest.«

Ich sagte nichts. Wir blickten einander schweigend an, und dann lächelte er.

»Jetzt hast du wieder diesen Ausdruck in den Augen. Du hältst mich jetzt wieder für einen Spinner.«

»Nein«, sagte ich lachend. »Ich hoffe sogar ganz im Gegenteil, daß das, was du sagst, wahr ist.«

»Es ist wahr, aber solche Entdeckungen muß jeder für sich selbst machen. Ich kann dir nur den Weg zeigen, dich in eine Richtung weisen.«

»Hat Holly dich deshalb als den besten Reiseführer in der Galaxis bezeichnet?«

»Ja«, sagte er lachend. »Für heute abend ist es genug von den Belehrungen. Hast du Lust, einen Spaziergang zu machen?«

»Einen Spaziergang?«

Er lachte über mein Erstaunen.

»Tja, das heißt, du wirst laufen und mich schieben«, sagte er.

»Ach so. Ja, klar«, sagte ich und hoffte nur, ihn mit meiner Verblüffung nicht verletzt zu haben.

»Draußen ist es ziemlich warm. Du brauchst keine Jacke.« Er zögerte gar nicht erst lange, sondern drehte seinen Stuhl um und rollte aus dem Wohnzimmer durch die Küche und aus dem Laden hinaus. Ich mußte nahezu rennen, um ihn einzuholen. Wir hielten vor der Ladentür an, damit er sie abschließen konnte, und dann bat er mich, ihn die Straße hinauf zu schieben. Wir überquerten die nächste Kreuzung und bogen in eine Querstraße ein, die an Geschäften, einigen Restaurants und einem kleinen Theater vorbeiführte. Auf den Bürgersteigen drängten sich gutgekleidete Leute, und es bereitete mir Freude, das geschäftige Treiben dieser feinen Leute zu beobachten.

Als wir das Universitätsgelände erreichten, ließ Billy mich auf dem Campus anhalten, um den Rednern zu lauschen. Einige von ihnen hielten politische Reden, andere droschen Phrasen über den bevorstehenden Weltuntergang. An einer Ecke stand ein Mann, der Gitarre spielte und einem kleinen Grüppchen, das sich versammelt hatte, Folksongs vortrug. Er hatte seinen Hut vor sich auf dem Boden liegen, und die Leute warfen Kleingeld und Dollarscheine hinein.

An der nächsten Ecke gab eine Gruppe von jungen Männern spirituelle Lieder ohne instrumentale Begleitung zum besten. Sie machten ihre Sache wirklich sehr gut, und auch sie hatten einen geflochtenen Korb für Spenden aufgestellt.

»Was hältst du davon?« fragte mich Billy, als wir unseren Weg auf den Gehsteigen fortsetzten, vorbei an Obdachlosen, die um Almosen bettelten, an einem Mann, der sich lautstark mit einem Baum stritt, und an einem jungen Schwarzen, der auf seinen Bongos trommelte und ganz so aussah, als könnte er nicht älter als zwölf Jahre sein.

»Jetzt verstehe ich, warum Holly New York als Rummelplatz des Lebens bezeichnet.«

Billy lachte und bat mich, ihn zu einer Bank zu schieben, auf der niemand saß und in deren Umgebung kein Lärm herrschte. Ich setzte mich, und wir beobachteten die Vorübergehenden, Touristengruppen und Einheimische, auf dem Weg von hier nach dort.

»An dieser Kreuzung war es«, sagte Billy plötzlich.

»Was war an dieser Kreuzung?«

»Hier ist es passiert. In diese Richtung dort bin ich gelaufen.« Er wies mit einer Kopfbewegung nach links. »Es war zwei Uhr morgens. Ich habe damals hier studiert, verstehst du.«

»Ach. Macht es dir nichts aus, wieder hierherzukommen?«

»Nein. Es fasziniert mich. Diesen Rat kann ich dir geben, Melody Logan«, sagte er mit einer tieferen Stimme, die so dunkel klang, daß mein Rückenmark prickelte. »Ergreife den Moment beim Schopf, sieh dem, was dir Angst einjagt, ins Auge, und suche, bis du einen Ausweg findest. Was auch passiert, laß nicht zu, daß du dich in dir selbst verschließt. Wohin du auch gehst und was du auch siehst, denk dann an diese Kreuzung und an diese Schatten, wenn du dich am meisten fürchtest, und denk an mich, wie ich hier sitze und mich selbst durch die Zeit zurückverfolge, wie ich mich selbst anstarre und den Schützen, wie ich den Knall der Pistole höre und mich auf diesem Gehweg zusammenbrechen sehe, und wie ich mich dann plötzlich über mich selbst erhebe und über mein früheres Ich hinauswachse.«

Er streckte einen Arm aus und nahm meine Hand, und es kam mir vor, als griffen sein Mut und seine spirituelle Kraft auf mich über und strömten in mich hinein. Ich lächelte.

»Danke, Billy.«

»Danke dir selbst, halte dich selbst in Ehren, und laß dich von niemandem kleinkriegen.«

Er lehnte sich zurück und wirkte plötzlich so erschöpft, als hätte er seine gesamten Energien auf mich verwendet und sich verausgabt.

»Vielleicht sollten wir jetzt besser umkehren«, schlug ich vor. Er nickte.

Als wir nach Hause kamen, war Holly noch nicht zurück.

»Kann ich dir bei irgend etwas behilflich sein?« fragte ich.

»Ich komme bestens zurecht«, sagte er lächelnd. »Danke.«

Billy rollte in den Korridor, erst zum Bad und dann in sein Zimmer. Ich machte mich ebenfalls bereit zum Schlafengehen. Als er auf dem Rückweg an meinem Zimmer vorbeikam, hielt Billy vor meiner Tür an.

»Gute Nacht, Melody.«

»Gute Nacht, Billy«, rief ich. Er rollte in sein Zimmer, und ich staunte über seine Heiterkeit und auch darüber, wie er die Schatten der Einsamkeit von seiner Tür verscheucht hatte.

Ich hatte mich noch keine fünf Minuten in mein Zimmer zurückgezogen, als mich eben diese Schatten zu belagern begannen. Hier war ich jetzt also, an einem fremden Ort, fern von all denen, die ich liebte oder die mich liebten, und ich fühlte mich wie ein Wanderer, der jegliches Orientierungsvermögen verloren hat und den Heimweg nicht mehr findet.

Aus welchem Quell des Glaubens schöpfte Billy Maxwell soviel Kraft?

Ich lag im Dunkeln und dachte an Cary, hörte sein Gelächter und erinnerte mich an das seltene Aufblitzen seines Lächelns, an seine betörenden Augen und sogar an sein hämisch verzogenes Gesicht. Bei dem Gedanken an ihn wurde mir gleich wohler zumute. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich auf die Erinnerung an die Geräusche des Ozeans, und ich rief mir den Anblick der Flut vor Augen, wenn sie einläuft und den Strand überspült.

Und schon bald wichen die Schatten der Einsamkeit zurück. Schlaf spülte wie die Flut über mich hinweg.

Ich trieb mit ihr hinaus.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es mir peinlich, wie lange ich geschlafen hatte. Ich sprang mit einem Satz aus dem Bett, wusch mich und zog mich an. Holly und Billy hatten den Laden bereits geöffnet und bedienten Kunden.

»Es tut mir leid, daß ich so lange geschlafen habe«, entschuldigte ich mich, als die Kunden gegangen waren.

»Das macht doch nichts, Schätzchen«, sagte Holly. »Du mußt erschöpft gewesen sein. Billy hat mir erzählt, daß ihr beide einen Spaziergang unternommen habt«, fügte sie hinzu.

»Vermutlich hat mich all die Aufregung darüber, in New York zu sein, restlos ermattet.«

»Ich mache ihr das Frühstück«, rief Billy, während er sich auf den Weg zur Küche machte.

»Es ist mir ein Greuel, daß ich euch derart zur Last falle.«

»Du fällst uns nicht zur Last. Wenn du gefrühstückt hast, holen wir dein Flugticket«, sagte Holly. »Dann würde ich dir gern etwas von New York zeigen. Was möchtest du sehen?«

»Ich weiß es nicht.« Mir schwirrte der Kopf, wenn ich an die Möglichkeiten dachte, an die zahllosen Orte, über die ich bisher nur gelesen hatte, an die Dinge, über die Alice und ich uns früher in Sewell unterhalten hatten, als wir beide Zukunftspläne für eine gemeinsame Reise geschmiedet hatten. Was einst nichts weiter als eine kindliche Phantasie gewesen war, war jetzt für mich wahr geworden.

»Ich glaube, ich würde mir gern das Empire State Building ansehen und den Broadway, die Freiheitsstatue, das Museum für Naturgeschichte und ...«

»Wir haben nur einen Tag Zeit«, sagte Holly lachend.

»Das meiste davon werde ich ihr zeigen«, rief Billy aus der Küche. »Ich habe Obst, eine Schale Vollkornflocken, Saft und Kaffee für dich, Melody.«

»Du wirst mich herumführen?« fragte ich und konnte mein Erstaunen nicht besonders gut verbergen. Er und Holly sahen einander an und lachten dann beide.

»Billy kommt ebensoviel in der Gegend herum wie andere Leute auch«, sagte Holly. »Er hat einen Lieferwagen mit einer Hebebühne und einem speziell angefertigten Lenkrad.«

»Ein Geschenk von meinen Eltern«, sagte er, und mir erschien es seltsam, daß er sie bisher noch nicht erwähnt hatte. »Ich kann dich doch nicht einfach von eurem Laden fernhalten. Ich ...«

»Was soll das heißen? Ich habe mir ohnehin einen freien Tag verdient, stimmt’s, Holly?«

»Mehr als nur einen«, erwiderte Holly darauf. »Und jetzt solltest du am besten gleich frühstücken, damit ihr aufbrechen könnt«, sagte sie. »Geh schon«, drängte sie mich. »Hör auf, dir ständig unnötige Sorgen zu machen.«

Ich lachte und ging in die Küche, um zu frühstücken. Hinterher fuhren Holly und ich zu dem Reisebüro, in dem ihre Freundin arbeitete, und ich nahm mein Flugticket in Empfang. Als ich es in der Hand hielt und die Flugzeiten schwarz auf weiß vor mir hatte, bekam ich es plötzlich mit der Angst zu tun. Würde ich morgen tatsächlich in dieses Flugzeug steigen und ans andere Ende des Kontinents reisen, um dort bei Leuten unterzukommen, die ich nicht kannte, und eine der größten Städte des Landes nach meiner Mutter abzusuchen, die mich möglicherweise gar nicht sehen wollte?

Bei unserer Rückkehr hatte Billy seinen Wagen schon vor dem Laden geparkt. Er zeigte mir, wie die Hebebühne funktionierte, und dann nahm er am Steuer Platz. Holly winkte uns zum Abschied nach, als wir zu meiner Führung durch New York aufbrachen, und Billy schien ebenso sehr darauf gespannt zu sein wie ich.

»Es macht immer wieder Spaß, vertraute Dinge mit jungfräulichen Augen zu sehen«, erklärte er. »Es hilft einem dabei, die Dinge mehr zu würdigen, die man als selbstverständlich hinnimmt.«

Das Empire State Building aus der Ferne zu sehen, war zwar beeindruckend, aber es war doch ganz etwas anderes, direkt drauf zuzufahren und zu ihm aufzublicken.

»Möchtest du rauffahren?« fragte Billy.

»Geht das?«

»Ja, natürlich. Ich fahre in dieses Parkhaus dort, und wir nehmen den Lift. Wir haben einen schönen Tag dafür erwischt. Wahrscheinlich können wir bis Kanada schauen.«

»Im Ernst?«

»Nein«, sagte er lachend.

»Du hältst mich bestimmt für eine Landpomeranze«, sagte ich und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Absolut nicht, und selbst wenn du eine wärest, was wäre schon dabei? Es wäre ehrlich und erfrischend«, erwiderte er. Billy konnte alles Negative in etwas Positives verwandeln, sagte ich mir. Wie konnte jemand bloß derart vollkommen sein?

Billy bewegte sich durch die Stadt, als sei es eine Kleinstadt, nicht größer als Sewell. Die Horden von Menschen, ein Meer aus Leibern und Gesichtern, das sich über die Bürgersteige wälzte, die Unmengen von Fahrzeugen, der Lärm und der ganze Trubel schienen nicht zu existieren. Er nahm kaum etwas von alledem wahr, während er sich auf seinem Rollstuhl voranbewegte, wogegen meine Blicke hin und her und auf und ab glitten und das Geschehen und die Anblicke, die sich mir boten, bis in alle Einzelheiten aufsogen.

Die Fahrt im Aufzug zur Aussichtsplattform des Empire State Building zählte zu den aufregendsten Dingen, die ich je erlebt hatte, und als wir aus dem Lift kamen und uns ans Geländer begaben, glaubte ich, wir seien buchstäblich auf dem Dach der Welt angelangt. Ich stieß vor Erstaunen einen schrillen Schrei aus. Billy lachte und gab mir Kleingeld für das Fernrohr, durch das ich den Hudson River und New Jersey deutlich sehen konnte.

Hinterher fuhren wir zum Broadway, an all den Theatermarkisen und den großen Neonschildern vorbei, und kamen dann über den Times Square, einen Platz, den ich nur aus dem Fernsehen und aus Büchern kannte. Mein Herz pochte vor Aufregung. Ich konnte es kaum erwarten, Alice zu schreiben. Billy meinte, wir sollten im weltberühmten Chinatown zu Mittag essen, denn dort gab es sein Lieblingsgericht – Gemüse lo mein. Auf dem Rückweg zum Wagen kaufte er mir einen wunderschönen handbemalten Fächer.

Nach dem Mittagessen fuhren wir zur Freiheitsstatue.

Der Himmel war immer noch fast wolkenlos, und vom Hafen von New York wehte eine warme Brise herüber. Als wir ans Ufer zurückkehrten, fiel mir auf, daß Billy erschöpft war, es aber nicht zeigen wollte, und daher sagte ich zu ihm, es sei jetzt an der Zeit, daß wir uns auf den Rückweg zum Laden machten. Ich schützte vor, selbst müde zu sein, aber ich war alles andere als müde. New York hatte eine Art an sich, mir die Energie einzuflößen, die nur dieser Stadt zu eigen ist. Die Vielseitigkeit der Menschen und Dinge, die es hier zu sehen gab, und erst die Vorstellung, was man hier alles unternehmen konnte, zogen mich in ihren Bann und halfen mir dabei, all meine Sorgen und Befürchtungen zu vergessen.

Als wir wieder im Laden waren, setzten wir uns zu dritt hin und tranken Tee, und ich ließ mich unermüdlich über die Dinge aus, die wir gesehen und unternommen hatten. Hinterher zog sich Billy in sein Zimmer zurück, um zu meditieren, und Holly und ich nahmen uns der Kunden an. Es faszinierte mich, wie viele Leute sich für diese Steine und Mineralien begeisterten und wie sehr sie an deren Kräfte glauben wollten. Alle Arten von Menschen kamen herein, um etwas zu kaufen und sich nach Dingen in der Auslage zu erkundigen: alte und junge Leute, Männer und Frauen gleichermaßen. Es waren einige Stammkunden darunter, und viele bestätigten die Behauptungen, die Holly zu der Wirkung ihrer Steine anstellte.

Als Billy wieder aus seinem Zimmer kam, wirkte er erfrischt und gestärkt. Wieder bot ich ihm meine Hilfe beim Zubereiten des Abendessens an, und auch dieses Mal sagte er, ich sei der Gast und er habe seinen Spaß am Kochen. Nachdem sie den Laden geschlossen hatte, setzten Holly und ich uns ins Wohnzimmer und ruhten uns aus, während Billy das Abendessen vorbereitete. Ich erzählte ihr von dem Gedicht, das Billy mir vorgelesen hatte, und ich berichtete ihr auch, was er zu mir gesagt hatte.

»Er ist ein wunderbarer Mensch. Ich bin sehr froh darüber, ihn als Partner zu haben.«

»Er hat gesagt, seine Eltern hätten ihm den Wagen geschenkt, aber ansonsten hat er seine Familie mir gegenüber nicht erwähnt. Wo leben seine Eltern?«

Holly schnitt eine Grimasse.

»Sie leben im Norden des Staates, und sie sind froh darüber, ihn nicht in ihrer Nähe zu haben. Sie akzeptieren seine heutige Lebensweise nicht. Sein Vater bezeichnet ihn als einen Hippie.«

»Was für ein Jammer.«

»Billy findet das gar nicht gut, aber er hat sich damit abgefunden und akzeptiert die Tatsachen.«

»Hat er Geschwister?«

»Einen älteren Bruder, der als Anwalt arbeitet. Er besucht ihn jedesmal, wenn er nach New York kommt; oder vielleicht sollte ich besser sagen, ab und zu, wenn er nach New York kommt. Ich glaube nicht, daß er sich jedesmal meldet. Er wollte, daß Billy nach Hause kommt und wieder bei seinen Eltern wohnt, aber Billy läßt sich nicht wie einen Behinderten behandeln, wie dir wahrscheinlich auch schon aufgefallen ist.«

»Er ist ein erstaunlicher Mensch«, sagte ich. »Und so inspiriert.«

Holly nickte. Dann wurde sie etwas ernster.

»Ich habe mich mit deinem Horoskop befaßt, Melody«, sagte sie. »Da ich inzwischen mehr über dich und die bevorstehenden Ereignisse weiß und die Dinge genauer bestimmen kann, war es mir möglich, mir ein klareres Bild zu machen.«

»Und was ist dabei herausgekommen?«

»Ich glaube nicht, daß du das vorfinden wirst, was du dir erhoffst«, sagte sie behutsam. »Vielleicht solltest du besser umkehren und dein bisheriges Leben wieder aufnehmen, zu den Menschen zurückgehen, von denen du weißt, daß Verlaß auf sie ist.«

Es war wie ein Donnerschlag über meinem Kopf. Ich holte scharf Luft und lächelte.

»Du weißt, daß das nicht geht«, sagte ich leise, und sie nickte. »Aber nachdem ich Billy begegnet bin und etwas von ihm gelernt habe, fürchte ich mich weniger als vorher.«

»Das ist gut so.«

»Ich bin dir sehr dankbar für das, was du für mich getan hast. Ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte, diese Reise anzutreten, wenn du nicht gewesen wärest, Holly. Ich danke dir.«

Sie lächelte nicht.

»Ich kann nur hoffen, daß ich das Richtige getan habe«, sagte sie.

Ich fragte mich, was sie wohl in den Sternen gesehen hatte und ihr Anlaß zum Zweifeln gab.

Es ist besser, sagte ich mir, wenn ich sie nicht danach frage.

Das Lied der Nacht

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