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Zerschlagene Hoffnungen

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Durch Los Angeles zu fahren war etwas ganz anderes, als durch New York zu fahren. Hier schien alles soviel weiter voneinander entfernt zu sein, und es gab nicht annähernd so viele hohe Gebäude, obgleich es viel mehr Straßen zu geben schien. Dennoch kannte sich Spike offensichtlich hier aus, denn als wir uns auf dem Freeway einem Stau näherten, nahm er sofort die nächste Ausfahrt und begann, sich mit der Limousine einen Weg durch die Straßen der Stadt zu bahnen. Dorothy sagte, es sei nicht gerade die netteste Gegend von Los Angeles, aber mir schienen sogar die ärmeren Viertel in einen strahlenden Glanz getaucht zu sein. Die Bürgersteige funkelten, und auf riesigen Reklametafeln wurde für neue Filme geworben. Mir fiel jedoch auf, daß nicht so viele Leute auf den Gehwegen herumliefen wie in New York. Hier schien sich alles nur in Autos voranzubewegen. Wenig später deutete Dorothy eifrig auf ein Schild, dessen Aufschrift CITY OF BEVERLY HILLS lautete.

»Hier sind wir zu Hause«, verkündete sie mit einem tiefen, dankbaren Seufzer. So, wie sie darüber sprach, schien es mir, als sei Beverly Hills eine Insel, auf der sie sich sicher und geborgen und vor dem Rest der Welt beschützt fühlte.

Spike fuhr vor dem »Vine« vor, einem Restaurant, zu dem ein Weg mit einem jagdgrünen Geländer führte, von leuchtend roten und rosa Bougainvilleen umrankt. Es gab eine Terrasse vor dem Haus, auf der nahezu alle Plätze besetzt zu sein schienen. Oberkellner und Hilfskellner in gestärkten weißen Hemden und schwarzen Hosen mit schwarzen Hosenträgern huschten grazil umher und bewegten sich wie unsichtbare Gestalten zwischen der offensichtlich begüterten Kundschaft, die ausnahmslos in Gespräche vertieft zu sein schien. Sowie Spike ausgestiegen und um den Wagen herumgelaufen war, um uns die Tür aufzuhalten, kam ein Restaurantdiener herangeeilt und half uns beim Aussteigen.

»Merci«, sagte Dorothy und wedelte mit ihrem Handschuh.

Als Spike wieder in den Wagen stieg, fragte ich mich, wo er wohl zu Mittag essen würde, doch ich fand keine Zeit, mich danach zu erkundigen. Dorothy eilte mir über den gepflasterten Pfad voran, der zu dem kleinen Tor der Terrasse führte, und dort erwartete uns eine sehr attraktive junge Frau, deren Aufgabe darin bestand, den Gästen Tische zuzuweisen.

»Mrs. Livingston«, sagte sie mit einem Lächeln, das einer Zahnpastawerbung zu entstammen schien, »wie geht es Ihnen heute?«

»Ich bin am Verhungern, Lana. Ich möchte Ihnen Melody vorstellen, die junge Freundin meiner Schwester. Sie ist gerade eben aus New York gekommen. Sie war noch nie in Los Angeles, und ich dachte mir, als erstes mache ich sie mit dem ›Vine‹ vertraut. Besorgen Sie uns also bitte einen besonders schönen Tisch«, forderte Dorothy.

Lana drehte sich um und musterte die Terrasse gründlich.

»Ich habe Nummer zwölf zu vergeben«, kündigte sie dann an, als sei das eine ganz erstaunliche Leistung.

Warum war es so wichtig, wo wir saßen? fragte ich mich. Sämtliche Stühle sahen gleich aus, und die Terrasse mit ihrem Brunnen und den bunten Blumen sah bestimmt von allen Tischen gleichermaßen schön aus.

»Bellissimo«, sagte Dorothy zustimmend. Lana setzte sich in Bewegung, und wir folgten ihr, bis sie an einem Tisch stehenblieb, der fast genau in der Mitte stand. Dorothy strahlte vor Zufriedenheit, und nachdem wir uns gesetzt hatten, reichte Lana uns die Speisekarten, deren lederne Einbände in demselben Jagdgrün gehalten waren wie das Geländer.

»Wir haben heute als Spezialität Engelshaarpasta mit roten Paprikaschoten und Steinpilzen anzubieten, Mrs. Livingston.«

»Oh, das klingt gut. Merci.«

Sowie Lana gegangen war, beugte sich Dorothy zu mir vor.

»Dieser Tisch ist normalerweise für Filmstars reserviert«, sagte sie. »Hier wird man von allen gesehen.«

»Ach so.« Warum wollte sie von allen gesehen werden? fragte ich mich. Ich fühlte mich jetzt um so mehr gehemmt in bezug auf mein Haar, meine Kleidung und jede einzelne Bewegung.

Ich sah in die Speisekarte. Die Preise waren schockierend. Man konnte nur à la carte essen, und die Salate waren fast so teuer wie die Vorspeisen. Einfachste Speisen wurden so kunstvoll verbrämt, daß ich nicht sicher war, ob ich sie wiedererkannte. Was waren Sellerieherzen?

»Mach dir bloß keine Gedanken wegen der Preise«, sagte Dorothy und nahm damit meine Reaktion vorweg. »Philip, mein Mann, schreibt alles, was ich ausgebe, auf die eine oder andere Weise ab.« Sie lachte. »Er sagt, da ich so viel dazu beitrage, die amerikanische Wirtschaft anzukurbeln, ist es das mindeste, was wir von der Regierung erwarten können, daß sie mich subventioniert.«

»Was macht Ihr Mann beruflich?« fragte ich. »Ich kann mich nicht erinnern, daß Holly es mir erzählt hätte.«

»Er ist als Buchhalter und Finanzverwalter tätig und hat einige sehr eindrucksvolle Kunden«, erwiderte sie und zog die Augenbrauen hoch. Dann huschte der Ausdruck eines schwärmerischen kleinen Mädchens über ihr Gesicht. »Oh, ich glaube, dort drüben in der Ecke sitzt jemand«, sagte sie und sah nach rechts. Ich drehte mich um.

»Jemand?«

»Ein Fernsehstar, stimmt’s?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich.

»Doch, ganz gewiß. So, dann wollen wir mal sehen«, sagte sie und wandte sich der Speisekarte wieder zu. »Warum nehmen wir nicht die Engelshaarpasta und vorher den Salat mit Schafskäse, einverstanden? Magst du Eistee? Er wird hier mit etwas Minze serviert.«

»Ja, Ma’am.«

»Sprich mich doch bitte nicht mit Ma'am an, Melody.« Sie blickte sich nervös um, weil sie sehen wollte, ob jemand in unserer unmittelbaren Nähe es gehört hatte. »Das klingt, als sei ich uralt. Nenn mich Dorothy.«

»Ja, Ma’ ... Dorothy«, sagte ich, und sie lächelte und hielt ihre Hutkrempe fest, als sie beifällig nickte. Ein Kellner kam an unseren Tisch. Er sprach mit einem ausgeprägten spanischen Akzent. Ich hatte Schwierigkeiten zu verstehen, was er sagte, aber Dorothy bereitete es keine Probleme. Sie gab unsere Bestellung auf und fügte »por favor« hinzu. Mir war bereits aufgefallen, wie gern sie spanische, französische und italienische Ausdrücke in die Unterhaltung einfließen ließ, und wenn sie das tat, schnippte sie unweigerlich mit dem Handgelenk.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß du im Flugzeug besonders gut gegessen hast, nicht wahr, du armes Ding?«

»Ich war zu nervös«, gestand ich.

»Das macht doch nichts. Ich bin auf Reisen immer nervös und kann nichts essen. Philip läßt sich von nichts so sehr aus der Ruhe bringen, daß ihm der Appetit verlorengeht. Und jetzt laß uns direkt auf dein Problem zu sprechen kommen«, sagte sie und unterbrach ihren Redefluß nur, als ein Hilfskellner unseren Eistee servierte. »Soweit ich verstanden habe, willst du herausfinden, oh diese Frau deine Mutter ist – eine Frau, die hergekommen ist, um hier Filmstar zu werden. Man hat dir gesagt, sie sei bei einem Unfall in einem brennenden Wagen ums Leben gekommen, und ihre Leiche ist sogar nach Provincetown transportiert worden?«

»Ja.«

»Das klingt alles sehr, sehr kompliziert. Ich habe Philip davon erzählt, und er meint, wir sollten einen Privatdetektiv engagieren. Weshalb sollte ein junges Mädchen einer solchen Geschichte persönlich auf den Grund gehen?«

»Oh nein«, stöhnte ich. »Das ist etwas, was ich ganz allein erledigen muß. Vielen Dank für das Angebot, aber ich muß mich wirklich persönlich darum kümmern«, beharrte ich.

»Wirklich?« Sie starrte mich einen Moment lang an und verdrehte dann die Augen. »Nun, ich vermute, die ersten Schritte kannst du selbst unternehmen. Ich werde Spike sagen, daß er dich herumfahren soll. Er stellt sich sehr geschickt an, wenn es um schwierige Dinge geht, wie du selbst schon gesehen hast, aber du mußt auf ihn hören«, ermahnte sie mich. »Ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt, solange du bei mir zu Gast bist«, sagte sie. Dann dachte sie über die Worte nach, die sie gerade ausgesprochen hatte, und fügte hinzu: »Ich möchte unter gar keinen Umständen, daß dir jetzt oder irgendwann später in deinem Leben etwas zustößt.«

»Danke, Dorothy. Ich weiß Ihre Sorge um mich zu schätzen, und ich weiß auch zu würdigen, was Sie für mich tun«, sagte ich.

»Aber, aber, darüber wollen wir uns gar keine Gedanken machen. Sonst werde ich taub«, drohte sie mir wieder. Ich fing an zu lachen. »So«, sagte sie, ohne zwischendurch Atem zu holen, »und jetzt erzähl mir mehr über mein liebes kleines Schwesterchen. Lebt dieser verkrüppelte Mann immer noch mit ihr hinter diesem Mauseloch von einem Laden?«

»Ich sehe Billy nicht als Krüppel an«, begann ich und schilderte ihr meine Reise nach New York und meine gemeinsamen Unternehmungen mit Billy innerhalb dieser kurzen Zeit. Sie hörte mit einem gepreßten matten Lächeln zu. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich eindringlich musterte und den Dingen, die ich sagte, weitaus weniger Aufmerksamkeit schenkte als meinem Aussehen.

»Es ist so wunderbar, wenn man noch jung und leicht zu beeindrucken ist«, erklärte sie seufzend. »Es ist beinah ein Jammer, dich mit der rauhen Wirklichkeit des wahren Lebens vertraut zu machen. Holly hat sich schon immer geweigert, der Realität ins Auge zu sehen. Aber du hast ja selbst gesehen, wie meine Schwester lebt, wie ein Hippiemädchen ... wie eine Zigeunerin. Und dabei kann sie so hübsch und gescheit sein, wenn sie bloß will. Ich könnte im Handumdrehen einen angemessenen Ehemann für sie finden, wenn sie mich nur ließe, aber que sera, sera.«

Ich wollte gerade Einwände erheben und ihr erklären, meiner Meinung nach sei Holly so, wie die Dinge lagen, glücklich und zufrieden und führte ein angenehmes Leben, doch unsere Salate wurden gerade serviert. Sie sahen einfach köstlich aus. Allerdings nahm ich die Portionen mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln zur Kenntnis. Gerade mal ein paar Bissen, um den Teller leerzuputzen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil Dorothy für diesen Spaß bezahlen würde.

»Das ist ziemlich teuer für eine so kleine Portion, Dorothy.«

»Unsinn. Die Portionen sind mehr als reichlich. Du mußt an deine Linie denken, vor allem hier, meine Liebe. Du brauchst dich doch nur umzuschauen und dir diese Frauen anzusehen. Jetzt sieh dich schon um«, ordnete sie an, und mir wurde klar, daß sie es diesmal ernst meinte.

Ich sah mich so unauffällig wie möglich in dem Restaurant um. Dort saßen viele attraktive Frauen, alle mit wunderbaren Frisuren und Kleidern, die kostbar wirkten. Offensichtlich traf sich hier alles, was reich und schön war.

»Alle achten auf ihre Figur. Rivalität, Rivalität, Rivalität, meine Liebe. Hier liegt jede einzelne Frau im Konkurrenzkampf mit allen anderen Frauen und will sie ausstechen.«

»Aber wozu?« fragte ich.

Dorothy lachte.

»Wozu? Um die Blicke eines Mannes auf sich zu ziehen, was denn sonst? Viele dieser Frauen haben es auf Filmrollen oder auf einflußreiche Männer abgesehen. Aber mach dir keine Sorgen, das werde ich dir alles später noch erklären. Das wenige, was du mir über deine Herkunft erzählt hast, hat bereits genügt, um mir klarzumachen, wieviel du noch zu lernen hast, und es bereitet mir wirklich große Freude, einer jungen Frau dabei zu helfen, sich eine gewisse Lebensart zuzulegen«, erklärte sie. »Und iß bloß nicht zu schnell. Du willst doch nicht wie ein naives junges Mädchen aus dem Mittleren Westen wirken. Und außerdem ist das der beste Tisch. Wir sollten es genießen, daß uns dieser Moment im Rampenlicht vergönnt ist. Siehst du, die Leute fragen sich schon, wer wir sind«, sagte sie und beschrieb mit einem Nicken Gäste an anderen Tischen. Sie hatte recht – sie sahen tatsächlich in unsere Richtung. Dorothy rückte ihren Hut zurecht und lächelte jemanden an.

»Du darfst durchaus freundlich sein«, sagte sie, während sie immer noch nickte und Leute anlächelte, »aber sprich von dir aus niemanden an. Laß die Leute auf dich zukommen. Warte immer auf die anderen, und erzähle niemandem zuviel von dir selbst«, warnte sie mich. »Je geheimnisvoller du bist, desto höher steigen deine Aktien. So würde Philip es ausdrücken.« Sie nickte jemandem zu unserer Rechten zu. »Mach dir keine Sorgen, du wirst es schon noch lernen. Nach einer Weile«, versicherte sie mir.

»Deshalb bin ich wirklich nicht hergekommen, Dorothy«, sagte ich behutsam. »Ich bin lediglich hier, um nach meiner Mutter zu sehen.«

»Ja, selbstverständlich, aber es wird dir so wie allen anderen ergehen, die herkommen, und du wirst dich schon bald verlieben.«

»Verlieben? In wen oder was?« fragte ich.

»In dich selbst natürlich, meine Liebe. In wen denn sonst?« sagte sie lachend. »Ich bin ganz sicher«, fügte sie hinzu, als ich sie einfach nur wortlos anstarrte, »daß das genau auch das ist, was deiner Mutter zugestoßen ist.«

Nach einem Mittagessen, das sich als eines der längsten in meinem ganzen Leben erweisen sollte, mit kleinen Tassen Cappuccino und Obstkuchen zum Nachtisch, der soviel kostete wie die vorangegangene Mahlzeit, brachen wir endlich auf. Spike erwartete uns in der Limousine direkt vor dem Haus. Er hielt uns die Türen auf, und ich kam mir tatsächlich wie etwas ganz Besonderes vor, denn die Fußgänger blieben stehen und sahen uns an, und schon vorher hatte die gesamte Belegschaft des Restaurants, angefangen mit der Dame, die uns einen Tisch zugewiesen hatte, um Dorothy herumscharwenzelt und sie hofiert. Sie war wie ein Schwamm, der das künstliche Lächeln der Kellner in sich aufsog und sich aufblähte, fetter daran wurde als an den knickrigen Portionen, die man uns vorgesetzt hatte. Es war mir gelungen, einen flüchtigen Blick auf die Rechnung zu werfen, und Holly hatte mit ihren Preisvorstellungen wirklich nicht weit danebengelegen. Dorothy hatte für unser Mittagessen mehr als fünfundsiebzig Dollar bezahlt!

Wir fuhren an anderen Restaurants vorbei, die einen teuren Eindruck machten, und dann ging es den Santa Monica Boulevard hinauf zum Rodeo Drive, von dem mir Dorothy erzählte, er sei weltberühmt.

»Dort führe ich dich morgen hin, meine Liebe, damit wir etwas Passendes zum Anziehen für dich finden.«

Spike bog nach rechts ab und fuhr uns an großzügig angelegten Privathäusern mit griechischen Säulen und hohen Hecken vorbei, und eine Villa schien prachtvoller als die andere zu sein. Während der Fahrt rasselte Dorothy die Namen von Filmstars, Sängern und Tänzern herunter, die ich auf der Leinwand gesehen hatte. Sie kannte auch die Namen der Filmregisseure und Produzenten, die in einigen dieser Häuser lebten, da etliche von ihnen zu Philips Kunden zählten. Schließlich fuhren wir langsamer und hielten vor einem zweistöckigen Haus im Tudorstil an, größer als jedes andere Haus, das ich je zuvor gesehen hatte. Es hatte ein spitz zulaufendes Giebeldach und hohe schmale Sprossenfenster. Am linken Ende des Dachs erhob sich ein gewaltiger Schornstein, den drei dekorative Kappenaufsätze zierten. Es war ein Ziegelbau, der zum Teil mit Holz verschalt war, ein Haus von der Sorte, wie ich sie bisher nur auf Einbänden von Liebesromanen gesehen hatte.

»Was für ein schönes Gefühl es doch ist, wieder zu Hause zu sein«, ließ sich Dorothy vernehmen, als Spike in die rosa geflieste Einfahrt bog, die von Tiffanylampen gesäumt wurde. Der Rasen wirkte wie ein Smaragdteppich, und jeder einzelne Grashalm war auf die perfekte Länge gestutzt. Zu unserer Linken stand eine gewaltige Trauerweide, deren Äste nahezu den Boden berührten, und rechts erhob sich eine stämmige Eiche und wirkte stolz und majestätisch, wie sie so dastand und über die Blumenbeete, den Steingarten und die gelben, weißen und lila Bougainvilleen aufragte, die sich an dem hohen hölzernen Zaun in ihrem Schatten emporrankten.

»Das Haus ist ja riesig!« rief ich aus. »Ich habe nicht gewußt, daß Häuser in einer Stadt so groß sein können. Diese Villa ist das reinste Herrenhaus!«

»Ich nehme an, man könnte durchaus von einem Herrenhaus sprechen. Wir haben zwanzig Zimmer«, sagte sie, »wenn man die Zimmer der Haushilfe hinzurechnet, ebenso wie Philips Büro, Philips Gymnastikraum ...«

»Ein Gymnastikraum! Zwanzig Zimmer!«

Dorothy lachte.

»Philip klagt ständig darüber, daß das Haus nicht groß genug ist, vor allem dann, wenn ich meinen Frauenclub zu Gast habe.«

Neben dem Haus stand eine Garage, die Platz für drei Wagen bot, aber da man das Haus von der Seite betrat, erschien es, dadurch nur noch größer. Auch über der Garage sah ich Fenster.

Spike parkte vor der bogenförmigen Eingangstür und stieg eilig aus, um Dorothy die Wagentür aufzuhalten. Sowie sie ausgestiegen war, lief er um die Limousine herum, um meine Tür zu öffnen und mir mit einer Hand unter dem Ellbogen beim Aussteigen behilflich zu sein. Ich kam mir albern dabei vor, daß man mir die simpelsten Handgriffe abnahm, aber andererseits fürchtete ich auch jeden gesellschaftlichen Fauxpas.

»Seien Sie doch so gut und bringen Sie ihre Taschen ins rosa Zimmer, Spike«, ordnete Dorothy an. »Wir haben zwar zahlreiche Gästezimmer, aber ich glaube, dieses wird dir am besten gefallen. Junge Leute fühlen sich wohl darin«, sagte sie. Spike sah mich mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen an und öffnete dann den Kofferraum.

»Ich möchte dir erst das Haus zeigen, ehe du dir die Ruhe gönnst, die du gewiß dringend nötig hast«, sagte Dorothy zu mir. Ich folgte ihr zur Haustür, die sich wie durch Zauberhand zu öffnen schien, als wir näher kamen.

Ein kleingewachsener, untersetzter, kahlköpfiger Mann mit buschigen Augenbrauen und einer Stupsnase begrüßte uns. Er trug einen dunkelblauen Anzug und eine Krawatte, und er hatte einen hellen Teint mit rostfarbenen Flecken auf den Wangenknochen und der Stirn. Seine Glatze war mit Punkten übersät, die wie Sommersprossen aussahen und sich in einer willkürlichen Anordnung von der Schädeldecke bis zu den Schläfen zogen. Seine dicken Lippen wiesen nahezu dieselbe orangefarbene Tönung auf.

»Hallo, Alec. Das ist Melody. Sie wird eine Zeitlang bei uns wohnen.«

Er nickte.

»Selbstverständlich, Madam«, sagte er mit der kaum wahrnehmbaren Andeutung einer Verbeugung. Sein Tonfall war gestochen scharf und kultiviert. Seine hellgrauen Augen glitten über mich und gaben mir das Gefühl, ich müßte mich erst seiner gründlichen Prüfung unterziehen, ehe ich in das Haus eingelassen wurde. Im nächsten Moment wich der Mann zur Seite, und wir betraten das Haus.

Die Eingangshalle war mit dunkelbraunen Steinplatten gefliest, die kostbar wirkten und eine passende Ergänzung zu den Wänden darstellten, die mit dunklem Zedernholz getäfelt waren. Über unseren Köpfen funkelte ein Lüster aus tropfenförmigem Kristallglas. Die geschwungene Treppe mit dem Mahagonigeländer und den reich verzierten Pfosten war auf Hochglanz gebracht. Spike stieg mit meinem Gepäck die Stufen hinauf, gefolgt von Alec, doch ich ließ mich von Dorothy tiefer in das Haus hineinführen.

Rechts neben uns befand sich ein sehr großes Wohnzimmer mit einer Standuhr in einem Gehäuse aus dunklem Kiefernholz, die gerade dröhnend drei Uhr schlug. Sämtliche Möbelstücke waren überdimensional, um den gewaltigen Raum auszufüllen. Vor den Fenstern waren hellblaue Satinvorhänge drapiert, und auf dem Marmorfußboden lagen große ovale Perserteppiche in einem passenden Blauton. Hier gab es so viel zu sehen, daß ich nur noch den Kopf schütteln konnte: riesige Ölgemälde, die Straßenszenen in Paris und London darstellten, aber auch grandiose Gärten, alle in kunstvoll verzierten goldenen Rahmen; gläserne Skulpturen, die so aussahen, als kosteten sie Hunderte von Dollar; Porzellanfigürchen, die so zierlich und vollendet wirkten, daß sie sicherlich handbemalt sein mußten; silberne und goldene Kerzenhalter, antike Schwerter ... wie konnte jemand bloß so reich sein?

»Gemütlich, findest du nicht auch?« fragte Dorothy voller Stolz.

Gemütlich? Es war kein Zimmer, um sich darin zu entspannen und sich wohl zu fühlen, sondern vielmehr ein Raum, in dem man Führungen veranstalten konnte, doch ich nickte nur.

Sie zeigte mir das Fernsehzimmer mit seinen behaglichen prallgefüllten Sofas und Sesseln, die mit feinstem Leder bezogen waren, Philips Büro, das Eßzimmer mit seinem Tisch, an dem zwanzig Personen gleichzeitig Platz gefunden hätten, und die Küche, die eher wie eine Restaurantküche aussah. Besonders stolz war sie auf ihre Öfen, obwohl sie schnell mit der Erklärung zur Hand war, sie selbst würde nie auch nur Teewasser aufsetzen.

»Das ist Selenas Aufgabe«, meinte sie und stellte mich ihrer Köchin vor, einer sehr kleinen und äußerst rundlichen Peruanerin mit Augen, die so dunkel wie Torfmoos waren. »Selena wohnt hinten im Haus«, erklärte Dorothy. »Spike hat ein Apartment über der Garage, und Christina, mein Hausmädchen, lebt im Westen von L. A. Sie kommt jeden Morgen um sieben und macht sich nach dem Abendessen auf den Heimweg, gewöhnlich etwa um acht Uhr. Philip bezahlt sie alle unter der Hand«, fügte sie flüsternd hinzu.

»Unter der Hand?«

»So machen das die Buchhalter nun mal, um dem gierigen Staat ein Schnippchen zu schlagen. Und jetzt zeige ich dir dein Zimmer, damit du dich dort häuslich einrichten kannst. Du willst doch nach der langen Reise sicher duschen und dich frisch machen.«

»Ja, liebend gern. Und dann möchte ich die Adresse aufsuchen.«

»Die Adresse?«

»Unter der sich meine Mutter aufhalten könnte«, sagte ich.

»Jetzt gleich?« Sie verzog das Gesicht. »Das kann doch gewiß bis morgen warten.«

»Ich brächte es lieber so bald wie möglich hinter mich. Schließlich ist das der Grund für mein Kommen«, hob ich hervor.

Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Ich vergesse immer wieder, wieviel Energie junge Menschen haben«, sagte sie. »Also gut, wenn du darauf bestehst. Spike wird in einer Stunde für dich bereitstehen.«

»Danke, Dorothy, und auch vielen Dank dafür, daß Sie mir Ihr Haus gezeigt haben. Es ist wirklich wunderbar.«

Sie strahlte.

»Ich habe die Inneneinrichtung weitgehend selbst übernommen. Natürlich mit professioneller Hilfe. Holly ist nur ein einziges Mal hier gewesen. Kannst du dir das vorstellen? Ich glaube, sie fürchtet sich davor, noch einmal herzukommen. Sie hat Angst davor, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, daß es ihr hier gefallen könnte«, fügte sie mit einem Zwinkern hinzu.

Das bezweifle ich, dachte ich. Holly läßt sich von spirituellen Dingen beeindrucken, nicht von materiellen Werten, hätte ich gern zu Dorothy gesagt, doch meine Lippen blieben versiegelt.

Wir stiegen die Treppe hinauf. Alec hatte meine Sachen bereits ausgepackt und alles in dem Schrank aufgehängt, was aufzuhängen war. Meine übrigen Kleidungsstücke hatte er in den Schubladen der Kommode verstaut. Es war mir peinlich, als ich begriff, daß er all das für mich getan hatte, und insbesondere störte mich die Vorstellung, daß er meine Unterwäsche verstaut hatte.

Das Schlafzimmer schockierte mich allerdings dermaßen, daß mir selbst für Verlegenheit keine Zeit mehr blieb. Es war kein Zimmer, sondern ein Gemach, das sich für eine Prinzessin geziemt hätte. Diese Pracht, diese Eleganz und dieser Luxus – es war einfach unfaßbar! Die Wände waren mit Seidendamast tapeziert, in einem herrlichen Erdbeerrot, viel kräftiger als das Zartviolett des Teppichs, dessen Flor meines Erachtens mindestens fünf Zentimeter hoch sein mußte. Darauf stand ein gewaltiges Himmelbett aus heller Kiefer. Irgendwie mußte das Holz behandelt worden sein, denn es wies eine durchgängige blaßrosa Maserung auf. Auf dem Bett lag eine flauschige Felldecke. Sogar das Ankleidezimmer war keineswegs ein begehbarer Kleiderschrank, sondern größer als jedes Zimmer, in dem ich je zuvor geschlafen hatte. Dort gab es auch Schuhregale und am hinteren Ende einen Spiegel über einer kleinen Kommode. Das Zimmer selbst war jedoch ebenfalls mit einem Schminktisch und dazu passenden Kommoden eingerichtet.

Sämtliche Armaturen im Badezimmer waren aus Messing, und der weiße Steinboden wirkte kostbar. Außer der Whirlpoolwanne gab es auch noch eine gläserne Duschkabine, die so aussah, als könnte sie eine ganze Familie gleichzeitig aufnehmen, und einen Waschtisch mit zwei Becken. Überall hingen Spiegel, die den Ausdruck meines Staunens wiedergaben. Das war das Gästezimmer! Wie mußte dann erst Dorothys und Philips Schlafzimmer aussehen?

»Ich kann einfach nicht glauben, was für ein wunderbares Haus Sie haben, Dorothy«, sagte ich noch einmal.

»Es freut mich, daß du dich hier wohl fühlen wirst«, erwiderte sie.

»Wohl fühlen? Es ist der reinste Palast. Wie könnte sich jemand hier nicht wohl fühlen?«

Sie lachte.

»Bist du immer noch sicher, daß du dich heute schon nach West Hollywood schleppen willst? Warum verwöhnst du dich nicht ein wenig, meine Liebe? Nimm ein Whirlpoolbad, ruh dich aus, sieh dir im Fernsehen etwas Nettes an. Wir werden ein paar kleine Horsd’œuvres zu uns nehmen, bevor Philip nach Hause kommt, und dann gibt es ein gutes Abendessen ...«

»Das klingt ganz wunderbar, Dorothy, aber mein Gewissen plagt mich. Ich bin nicht hergekommen, um hier meinen Spaß zu haben. Ich bin hier, um meine Mutter zu finden«, rief ich ihr noch einmal ins Gedächtnis zurück.

Sie seufzte und zuckte dann die Achseln.

»Heutzutage haben es alle so eilig. Nun gut, ich werde Spike sagen, daß er sich bereithält.«

»Danke. Für alles«, sagte ich.

Sie lächelte mich strahlend an und ließ mich dann allein, damit ich duschen und mich umziehen konnte. Ich war sehr müde und am Rande der Erschöpfung, doch meine Aufregung darüber, daß ich hier war und so dicht davorstand, Mommy zu finden, war noch stärker. Ich stellte mich unter die Dusche und ließ das warme Wasser über mich rinnen, bis meine Haut prickelte, und dann stellte ich die Dusche ab, zog eine Jeans und meine beste Bluse an, bürstete mir gründlich das Haar, holte mehrfach hintereinander tief Atem, schloß die Augen und dachte an Billy Maxwell und Holly, die neben mir gesessen und mir Ratschläge erteilt hatten, wie ich gegen meine Nervosität angehen und neue Energien schöpfen konnte, Energien, die ich jetzt mehr denn je gebrauchen konnte.

Dann erhob ich mich und brach zu der Suche nach meiner Mutter auf.

Als ich an die lange Zeit dachte, die vergangen war, seit Mommy mich bei den Verwandten meines Stiefvaters in Provincetown zurückgelassen hatte, quälte mich plötzlich eine neue, wenngleich auch alberne Befürchtung. Hatten die Zeit und die Ereignisse mich so sehr verändert, daß sie mich möglicherweise nicht erkennen würde, insbesondere dann, wenn sie unter leichtem Gedächtnisverlust litt? Soviel Zeit war nun auch wieder nicht vergangen, aber ich fühlte mich so anders. Wo sollte ich beginnen, wenn ich ihr gegenüberstand? Es erschien mir lächerlich, auf jemanden zuzugehen und zu sagen: »Hallo, erinnerst du dich noch am mich? Ich bin deine Tochter. Du bist meine Mutter.« Falls andere Menschen bei dieser Begegnung anwesend sein sollten, dann würden sie mich bestimmt für verrückt halten.

Als ich die Stufen der geschwungenen Treppe hinunterstieg und durch die Eingangshalle auf die Haustür zuging, hatte ich das Gefühl, ich würde schrumpfen. Das war natürlich eine Illusion, ausgelöst dadurch, daß alles um mich herum so gewaltig war, aber vor allem, und das war noch entscheidender, wurde dieses Trugbild durch die gewaltige Aufgabe hervorgerufen, die ich jetzt in Angriff nehmen würde. Ich holte tief Atem und trat ins Freie.

Spike lehnte an der Limousine und las ein Exemplar von Variety. Er blickte zu mir auf und lächelte. Dann schlug er die Zeitung zu, öffnete die hintere Wagentür, trat mit einer anmutigen Bewegung einen Schritt zurück und verbeugte sich übertrieben theatralisch.

»Madam«, sagte er.

»Danke«, sagte ich, und meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Ich wollte gerade einsteigen, als mir noch etwas einfiel. »Ach ja, hier ist die Adresse«, sagte ich und reichte ihm den kleinen Zettel, der durchaus den Schlüssel zu meiner Zukunft enthalten konnte. »Ist das weit von hier?«

»In dieser Stadt ist alles zum Greifen nahe, außer einer guten Rolle«, bemerkte er.

Ich stieg ein, und er schloß die Tür, lief um den Wagen herum und nahm eilig auf dem Fahrersitz Platz.

»Möchtest du vielleicht darin ein wenig blättern?« sagte er und bot mir sein Exemplar von Variety an.

»Nein, danke«, erwiderte ich.

Er zuckte die Achseln.

»Ich dachte nur, dich interessiert vielleicht, wie eine Hollywood-Zeitung aufgemacht ist. Dort wimmelt es nur so von Neuigkeiten über Schauspieler und Schauspielerinnen. Ich wette, eine solche Zeitung hast du noch nie gelesen«, murmelte er.

»Nein. Dafür gab es bisher keinen Grund«, erklärte ich.

Er lachte und ließ den Motor an.

»Ich habe nicht vor, Schauspielerin oder dergleichen zu werden«, fügte ich hinzu, als seine Lippen höhnisch verzogen blieben.

»Alle Frauen sind von Natur aus Schauspielerinnen und wollen deshalb liebend gern zum Film«, scherzte er.

»Ich nicht. Und es ist auch nicht jede Frau eine Schauspielerin«, fauchte ich ihn an.

Er lachte wieder. Das herablassende Lächeln, das nicht von seinem Gesicht weichen wollte, regte mich auf.

»Ich möchte das College besuchen und andere Dinge tun«, fuhr ich fort und fragte mich, warum es mir so wichtig war, mich verständlich zu machen.

»Deine Mutter ist doch auch hergekommen, um Schauspielerin zu werden, oder nicht?« fragte er, als wir die lange Auffahrt hinunterfuhren. Ich zog die Schultern steif zurück.

»Wenn Sie Schauspieler werden wollen, warum sind Sie dann Chauffeur?« erwiderte ich in Form einer Gegenfrage.

Er drehte sich zu mir um, weil er sehen wollte, ob ich es ernst meinte.

»Es kostet eine Menge Zeit und intensive Studien, und man muß an zahllose Türen klopfen und Hunderte von Malen vorsprechen, ehe man den ganz großen Durchbruch schafft«, jammerte er. »Zwischenzeitlich nimmt man, wenn man nicht mit einem Silberlöffel im Mund geboren ist oder reiche Freunde hat, die bereit sind, einen zu fördern, jeden Job an, den man kriegen kann, um davon die Lebensmittel und die Miete zu bezahlen. Für mich ist das gar kein schlechter Job. Mrs. Livingston läßt mir großen Spielraum. Wenn ich einen wichtigen Termin zum Vorsprechen habe, gibt sie mir jedesmal frei, selbst wenn sie dann ein Taxi in Anspruch nehmen muß.«

»Wie lange sind Sie jetzt schon hier und versuchen Ihr Glück als Schauspieler?« fragte ich ihn.

»Drei Jahre. Seitdem betreibe ich es ernsthaft«, erwiderte er. »Haben Sie in dieser Zeit in irgendwelchen Filmen mitgespielt?«

»Ich habe ein paar kleine Nebenrollen bekommen. Ich bin offiziell als Schauspieler anerkannt worden und habe einen entsprechenden Ausweis, der das bestätigt. Das ist immerhin mehr, als viele andere von sich behaupten können. Vor sechs Monaten habe ich in einem Stück mitgespielt. Es ist fast einen Monat lang aufgeführt worden.«

»Dann müssen Sie wirklich gut sein«, sagte ich. Er drehte sich zu mir um und bedachte mich mit einem charmanten Lächeln.

»Ich bin gut. Ich muß nur alle anderen dazu bringen, daß sie es erkennen. Ich meine, die entscheidenden Personen«, sagte er. »Nach einer Weile ist das ohnehin alles nur noch reine Glückssache«, fügte er hinzu. »Es geht eben darum, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.«

»Glauben Sie an Astrologie?« fragte ich.

»He, ich glaube an alles, woran ich glauben soll, Hauptsache, ich kriege eine Rolle«, sagte er.

»So wichtig ist es Ihnen?«

»Soll das ein Witz sein?« Er drehte sich um und sah mich an, als sei ich gerade erst von einem anderen Planeten gekommen. Dann lächelte er. »Wenn du erst einmal eine Weile hier bist, wirst du es verstehen«, sagte er. »Es liegt in der Luft.«

»Ich hoffe, so lange brauche ich nicht hierzubleiben«, murmelte ich und sah zum Fenster hinaus. Spike beobachtete mich weiterhin im Rückspiegel. Ich gestattete es mir, ihm einen Moment lang im Spiegel in die Augen zu sehen, ehe ich mich abwandte und mehr oder weniger blind auf die Kulisse hinausschaute, die vor dem Fenster vorbeirauschte. Ich kam nicht gegen meine Nervosität an, denn in wenigen Minuten würde es soweit sein. Mein Magen schlug Purzelbäume. Endlich nahm Spike meine Besorgnis wahr und erbarmte sich meiner.

»Es ist schon eine ganze Weile her, seit du deine Mutter das letzte Mal gesehen hast, was?« fragte er behutsam.

»Ja.«

»Und du bist dir nicht einmal sicher, daß es deine Mutter ist?«

»Nein, ich bin mir nicht sicher«, sagte ich, »obwohl alles darauf hinweist, daß sie es ist.«

Er schüttelte den Kopf.

»Eine irre Story. Diese Adresse hier, das ist eine billige Eigentumswohnanlage. Die meisten der Besitzer vermieten an Leute unter, die ins Geschäft kommen wollen.«

»Ins Geschäft?«

»Die in Hollywood einsteigen wollen, die ganz groß rauskommen wollen«, sagte er. »Darum dreht sich hier doch alles.« Er lachte.

»Ich komme mir vor wie in einem anderen Land«, murmelte ich, aber er konnte es trotzdem hören und lachte noch lauter. »Du willst wohl wirklich nicht berühmt werden? Nicht ins Showbusiness einsteigen? Ich wette, daß du auf irgendeinem Gebiet Talent hast.«

Ich starrte weiterhin aus dem Fenster.

»Ich spiele Fiedel, und es gibt Leute, die behaupten, ich sei sehr gut.«

»Na, siehst du. Etliche Stars unter den Countrymusikern sind berühmte Filmschauspieler geworden«, sagte er.

»Ich bin bei weitem kein Star«, sagte ich kopfschüttelnd. Wie leicht manche Leute doch in diese Falle gehen konnten, überlegte ich mir. Sie begannen einfach nur, an ihre eigenen Wunschträume zu glauben. War es das, was Mommy zugestoßen war?

»Du mußt ein positives Bild von dir selbst haben. Sieh mich an. Ich muß zehn- oder auch zwanzigmal in der Woche vorsprechen, und die meiste Zeit gibt man mir hinterher nicht mal Bescheid, aber lasse ich mich davon etwa entmutigen? Nein. Ich melde mich von mir aus immer wieder. Früher oder später .. . früher oder später«, summte er hypnotisch vor sich hin.

Ich sah ihn an und fragte mich, ob nicht eher er derjenige war, den man bemitleiden sollte, anstatt meiner.

»Hier in der Straße müßte es sein«, sagte er schließlich, nachdem er nach rechts abgebogen war. Mein Herz schien stehenzubleiben, und dann hämmerte es wie Faustschläge gegen eine abgeschlossene Tür. Ich hielt den Atem an, als die Limousine langsamer fuhr.

»Da wären wir«, sagte er. »Die Ägyptischen Gärten. Ich finde es einfach toll, welche Namen sie solchen Wohnblocks geben.«

Ich sah zum Fenster hinaus. Hohe Hecken zogen sich wie eine Mauer um den rosafarbenen Betonkomplex, der L-förmig um einen Pool gebaut war. Die einzelnen Gebäude waren nur fünf Stockwerke hoch, und jede Wohnung hatte ihren eigenen kleinen Balkon. Manche Leute hatten Blumenkästen aufgestellt, und die Pflanzen rankten sich an den Gitterstäben hinunter. Auf jedem Balkon standen ein kleiner Tisch und Stühle. Trotz des grellrosafarbenen Anstrichs wirkten die Gebäude herabgewirtschaftet, stellenweise beschädigt und ein wenig verkommen. Der Rasen war scheckig, und einige der Sträucher sahen kränklich aus und trugen an den meisten Zweigen keine Blüten.

Eine große Tafel mit den Klingelschildern der Bewohner hing gleich rechts neben dem Haupteingang, über dem der Name der Wohnanlage in verschnörkelten dunkelgrauen Buchstaben stand. Spike hatte recht. Ich konnte nichts Ägyptisches oder auch nur halbwegs Arabisches an den Gebäuden wahrnehmen, und ebenso wie er fragte auch ich mich, warum die Anlage den Namen »Die Ägyptischen Gärten« trug. Das Haupttor öffnete sich, und zwei junge Männer in Shorts und Polohemden kamen lachend heraus. Sie trugen Turnschuhe ohne Socken. Beide waren schlank und sahen gut aus, und beide hatten welliges dunkles Haar. Sie sahen einander tatsächlich so ähnlich, daß der Eindruck entstand, sie könnten Zwillinge sein.

»Hübsche Jungs«, murmelte Spike. Er kam um den Wagen herum und hielt mir die Tür auf. Ich glaubte, meine Beine würden mich nicht tragen, aber ich gab mir einen Ruck und stieg aus. »Ich warte hier auf dich«, sagte Spike.

»Danke«, sagte ich, oder zumindest glaubte ich, mich bedankt zu haben. Ich war nicht sicher, ob ich tatsächlich einen Laut von mir gegeben hatte. Er neigte den Kopf zur Seite.

»Fehlt dir was?«

Ich schüttelte den Kopf und ging auf das Haupttor zu. Ich blickte zu den Klingelschildern auf und las die Namen, bis ich Gina Simon fand. Meine Finger zitterten, als ich die Hand hob, um auf den Knopf neben dem Namen zu drücken.

»Das ist völlig zwecklos«, hörte ich eine weibliche Stimme sagen, und als ich mich umdrehte, kam eine junge Frau mit blondiertem Haar auf mich zu und blieb neben mir stehen. Sie trug ein rosa Oberteil und weiße Latexshorts und hatte sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Während sie mit mir sprach, lief sie auf der Stelle. Ihr hübsches Gesicht war gerötet, und Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. »Die Klingeln funktionieren nicht. Letzte Woche hätte die Klingeltafel repariert werden sollen und in der vorletzten Woche auch schon. Aber hier klappt nichts auf Anhieb.« Sie holte mehrfach tief Atem und hob weiterhin in einem gleichmäßigen Rhythmus die Füße. »Wen suchst du?«

»Gina Simon.«

»Ach, Gina. Klar. Sie wohnt direkt gegenüber von mir. In 4-C. Komm mit«, sagte sie und lief im Dauerlauf durch das Haupttor. Als sie kurz stehenblieb, um mir das Tor aufzuhalten, rannte sie wieder auf der Stelle. »Es ist nicht abgeschlossen. Soviel zu den Sicherheitsvorkehrungen.«

Ich folgte ihr hinein, und sie joggte weiter. Ich lief selbst fast im Laufschritt, um mithalten zu können. Am Pool blieb sie stehen. Drei junge Frauen in Bikinis sonnten sich auf Liegestühlen. Ich warf einen schnellen Blick in die Runde, um zu sehen, ob Mommy sich auch am Pool aufhielt. Es erleichterte mich, daß sie nicht da war. Ich wollte ihr nicht vor den Augen all dieser fremden Menschen gegenübertreten.

Ein großer; sehr dünner Mann mit kurzem hellbraunem Haar saß auf dem Sprungbrett und ließ die Beine baumeln.

»He, Sandy, wie war das Training?« fragte er die junge Frau, mit der ich gekommen war.

»Nicht weit vom Melrose hätte mich so ein Idiot auf einem Motorrad beinah angefahren«, sagte sie.

Eine der Frauen, die auf den Liegestühlen lagen, setzte sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Sie hatte langes rotbraunes Haar. Bis auf ihre Nase, die sehr spitz war, hatte auch sie ein hübsches Gesicht.

»Hast du die fünf Pfund schon abgenommen?« fragte sie, und dabei verdrehte sie die Augen und lächelte hämisch.

»Bald habe ich es geschafft«, sagte Sandy. Sie machte auf dem Absatz kehrt und sah mich an. »Komm schon, ehe sie dich bei lebendigem Leib auffressen«, sagte sie, und die drei jungen Frauen lachten. Ich eilte hinter ihr her. Sie führte mich um den Pool herum und über einen Gehweg zur Treppe des zweiten Gebäudes. Sowie wir im Haus standen, hörte sie auf zu joggen.

»Ich versuche gerade, für einen Fototermin abzunehmen. Du weißt ja selbst, wie die Kamera einem die Pfunde draufzaubert. Hier ist der Aufzug«, sagte sie und bog in den Korridor nach links ab. »Ich heiße Sandra Glucker, aber im Showbusiness werde ich Sandy Glee genannt.«

»Ich heiße Melody«, sagte ich.

»Einfach perfekt, dieser Name«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich finde ihn ganz toll. Bist du Schauspielerin, Tänzerin, Sängerin?«

»Nein«, sagte ich.

»Nein?« Sie blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Schreibst du?«

»Nein«, sagte ich lächelnd. »Ich bin nicht im Geschäft.«

»Ach so. Ach so«, wiederholte sie, als fiele ihr eben erst auf, daß es in Kalifornien auch noch andere Leute gab. Sie sah mich noch einmal an. »Aber hübsch genug bist du, um es zu schaffen.«

»Danke.«

»Gina Simon. Woher kennst du Gina? Ach was, schon gut. Du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich bin einfach nur klatschsüchtig, aber gegen andere Süchte, die es hier gibt, ist das harmlos.«

Wir stiegen in den Lift, und sie drückte den Knopf zum vierten Stock.

»Wir kennen uns schon von früher«, sagte ich in der Hoffnung, sie würde sich damit zufriedengeben.

»Ihr kennt euch von woanders? Gibt es denn noch andere Orte auf der Welt?« Sie lachte über ihre eigene Bemerkung. Ich lächelte, und die Aufzugtür glitt zur Seite. »Du bist aus Ohio?«

»Ohio?«

»Da kommt Gina her, aus irgendeiner Kleinstadt in der Nähe von Columbus, glaube ich. Also, was ist? Kennst du sie noch aus deiner Schulzeit oder so was?«

»Aus meiner Schulzeit? Nein.« Für wie alt hielt sie mich eigentlich? Und was noch viel wichtiger war, für wie alt hielt sie Gina Simon?

»Was ist denn los? Ist das etwa streng geheim? Da haben wir 4-C.« Sie deutete auf die Tür am Ende des Ganges, betrat jedoch keineswegs ihr eigenes Apartment, sondern blieb statt dessen stehen und beobachtete mich neugierig, als ich auf Apartment 4-C zuging.

Ich sah mich nach ihr um und lächelte nervös. Dann holte ich tief Atem und klopfte an die Tür.

»Die Türklingel funktioniert«, sagte sie. »Oder sie sollte wenigstens funktionieren.«

»Ja, sicher. Danke.« Ich drückte auf die Klingel und wartete. Sie wartete ebenfalls. Niemand kam an die Tür. Ich läutete noch einmal. Die Sekunden erschienen mir eher wie Minuten.

»Wahrscheinlich ist sie nicht da. Vielleicht ist sie zu einem Vorsprechtermin gegangen. Hast du sie vorher nicht angerufen?«

»Nein«, sagte ich betrübt.

»Das ist ein Jammer. In L. A. sollte man vorher immer anrufen, wenn man verabredet ist. Wahrscheinlich sehe ich sie später noch. Soll ich ihr ausrichten, daß du hier warst?«

»Nein«, sagte ich, und mir fiel selbst auf, daß ich zu schnell damit herausgesprudelt war. Ich lächelte. »Es sollte eine Überraschung werden.«

»Na, so was! Ich liebe Überraschungen. Gina wird sicher auch ganz begeistert sein.« Sie schnalzte mit den Fingern. »Du bist doch nicht etwa zufällig ihre Schwester? Sie hat mir erzählt, daß sie eine jüngere Schwester hat. Und genau die bist du, stimmt’s?« folgerte sie, ehe ich etwas dazu sagen konnte. »Das ist ja toll. Sie wird sich schrecklich freuen. Sie vermißt ihre Familie furchtbar.«

»Ist das wahr?«

»Natürlich. Sie mag noch so schön aussehen und sich noch so weltgewandt geben, aber tief in ihrem Innern ist Gina ein einfaches Mädchen. Gerade deshalb wird sie von allen geliebt. Möchtest du in meiner Wohnung auf sie warten?«

»Äh, nein. Ich komme lieber später noch mal. Danke«, sagte ich.

»Bist du sicher? Weil ich nämlich ...«

»Nein, danke«, sagte ich mit pochendem Herzen. Ich floh schleunigst in den Aufzug und drückte auf den Knopf zum Erdgeschoß. Als sich die Türen gerade schlossen, kam Sandy Glee auf mich zu, um mich ein letztes Mal anzusehen. Auf ihrem Gesicht drückte sich tiefe Verwirrung aus.

Sowie sich die Türen öffneten, eilte ich hinaus. Dann lief ich tatsächlich im Dauerlauf über den Gehweg um den Pool herum, an dem alle aufblickten, und zum Tor. Ich rannte schnell auf die Straße und lief sofort zum Wagen.

»Was ist passiert?« fragte Spike, während er ausstieg, um mir die Tür zu öffnen.

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie war nicht da, und ...«

»Und was?«

»Ich glaube nicht, daß sie meine Mutter ist!« platzte ich heraus.

Das Lied der Nacht

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