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Verlorene Unschuld

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Am nächsten Morgen rollte Billy seinen Stuhl vors Haus, um zuzusehen, wie Holly und ich in ihren Wagen stiegen. Nachdem ich mein Gepäck eingeladen hatte, ging ich auf ihn zu, um mich von ihm zu verabschieden, und er nahm meine Hand in seine und sah mir tief in die Augen.

»Oft, nein, ich sollte lieber sagen meistens, sind wir Menschen wie Schiffe, die sich in der Nacht begegnen«, sagte er. »Wir lassen uns so wenig Zeit füreinander, wertvolle Zeit, die wir wirklich nutzen, und häufig lernen wir einander kaum auch nur kennen, aber bei dir empfinde ich das nicht so, Melody. Du bist so gütig und vertrauensvoll gewesen, mir dein Herz zu öffnen. Ich danke dir dafür, daß ich daran teilhaben durfte.«

»Teilhaben? Teilhaben woran?« fragte ich lächelnd. »An meinen Problemen?«

»Deine Probleme sind nur ein Teil von dir, aber du hast mich nicht nur in deine Probleme eingeweiht. Du hast mich auch deine Aufregung spüren lassen. Ich war in der Lage, deine Energien wahrzunehmen, und das hat mir Kraft gegeben.«

Ich sah ihn voller Erstaunen an. Wie konnte ich im Moment einem anderen Menschen Kraft geben, ich, die ich zitternd auf dem Bürgersteig stand, weil mir vor meiner bevorstehenden Reise graute?

Er beugte sich vor und zog die goldene Kette mit dem außergewöhnlichen Anhänger von seinem Hals. Dann reichte er sie mir.

»Das möchte ich dir geben«, sagte er. »Es ist ein Lapislazuli.

Er hilft dabei, Anspannung und Ängste abzubauen, aber noch wichtiger ist, daß er deine Fähigkeit fördern wird, mit deinem höheren Ich zu kommunizieren. Er ist mir eine große Hilfe gewesen.«

»Wenn das so ist, dann sollte ich ihn nicht annehmen«, sagte ich.

»Doch, doch, das ist schon in Ordnung. Ich möchte, daß du ihn trägst. Bitte«, beharrte er.

Ich sah, daß er sich nicht zufriedengeben würde, solange ich sein Geschenk nicht annahm, und daher nahm ich die Kette entgegen und legte sie an. Er lächelte.

»Danke, Billy.« Ich beugte mich hinunter, um ihm einen Kuß auf die Wange zu drücken, die sich daraufhin augenblicklich tiefrot verfärbte. Dann eilte ich zum Wagen.

»Paß gut auf die Galaxis auf, bis ich wieder da bin«, rief Holly ihm zu. Er lachte und winkte uns nach, als wir losfuhren. Ich wandte mich um und winkte noch einmal, bis wir um eine Ecke bogen und er aus meiner Sicht entschwand.

»Es ist seltsam. Ich bin nicht ganz zwei Tage hier gewesen, und doch kommt es mir so vor, als sei ich mit Billy schon seit vielen Jahren vertraut«, sagte ich.

Holly nickte.

»So wirkt Billy auf alle Menschen. Es freut mich, daß du die Gelegenheit hattest, ein Weilchen bei ihm zu sein, ehe du nach Kalifornien aufbrichst«, fügte sie hinzu.

Kalifornien! Alleine schon, wie sie das sagte und was ich mir darunter vorstellte, ließ es mir wie einen anderen Planeten erscheinen. Ich saß mit zusammengepreßten Knien da und rang nervös die Hände auf dem Schoß, als wir uns den Weg aus der Stadt hinaus zum Flughafen bahnten. Denk an etwas Erfreuliches, an etwas Beruhigendes, sagte ich mir.

Auf dem Weg zum Flughafen gab mir Holly eine genauere Beschreibung ihrer Schwester, gestand jedoch auch, daß sie einander schon seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatten.

»Ich denke gar nicht daran, sie in Kalifornien zu besuchen, und selbst dann, wenn sie herkommt, habe ich das Gefühl, sie ständig in Verlegenheit zu bringen. Sie ist sieben Jahre älter als ich, und daher liegt fast eine ganze Generation zwischen uns, aber tief in ihrem Innern ist sie wirklich sehr gutherzig.«

»Es ist sehr nett von ihr, daß sie all das für mich tut, für jemanden, der ihr vollkommen fremd ist«, sagte ich und fragte mich dann doch, wie tief in ihrem Innern ihre Gutherzigkeit wohl verborgen war.

»Dorothy spielt sich liebend gern als die edelmütige Gönnerin auf. Das bestätigt sie in ihrer Rolle als Königin«, sagte Holly lachend. »Ich möchte dir etwas für sie mitgeben.« Sie griff in ihre Handtasche und zog ein kleines Schmuckkästchen heraus, das in Geschenkpapier mit der Darstellung von Widdern eingepackt war, dem Sternzeichen Dorothys. »Es ist ein Armband, in das Amethyste eingefaßt sind. Der Amethyst und der Diamant sind die Steine des Widders, aber Diamanten hat sie schon genügend. Du wirst es ja selbst sehen.«

»Ich werde ihr das Päckchen gleich bei meiner Ankunft geben«, versprach ich und verstaute das winzige Schächtelchen in meiner Handtasche.

»Danke. Nun«, sagte sie, als die Flughafengebäude in Sichtweite kamen, »wir sind fast da.«

Mein Herz schlug einen Trommelwirbel beim Anblick all der Fahrzeuge. Zahllose Limousinen und Busse standen da und Leute eilten in alle Richtungen. Hupen dröhnten, und Polizisten riefen Autofahrern Anweisungen zu und trieben mit fuchtelnden Armen Fußgänger zu größerer Eile an. Flugzeuge donnerten über unseren Köpfen. Wie sollte ich mich in diesem hektischen Labyrinth jemals zurechtfinden? Alle anderen erweckten in mir den Eindruck, als wüßten sie genau, wohin sie gingen, und dementsprechend schnell bewegten sie sich voran. Ich kam mir vor, als schwebte ich durch einen Traum und könnte ohne den geringsten Aufwand in jede beliebige Richtung getrieben werden.

»Mach dir jetzt bloß keine Sorgen«, sagte Holly, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »Sowie wir vorfahren, wird einer der Beamten von der Flughafenabfertigung sich um alles Weitere kümmern. Er wird dir dein Gepäck abnehmen und dir einen Gepäckschein dafür aushändigen. Dann wird er dir sagen, von welchem Flugsteig du abfliegst. Im Flughafengebäude ist alles bestens ausgeschildert«, versicherte sie mir. »Und falls du doch irgendwelche Fragen haben solltest, wird immer jemand von einer der Fluggesellschaften in deiner Nähe sein.«

Ich holte tief Atem. Jetzt war ich hier; ich würde mich tatsächlich in ein Flugzeug setzen. Holly fuhr an den Randstein, und wir stiegen aus. Der Mann von der Flugabfertigung lud meine Taschen auf und heftete die Empfangsbestätigung an mein Flugticket.

»Flugsteig einundvierzig«, murmelte er. »Flugsteig einundvierzig?«

Ich wollte ihn bitten, dies noch einmal zu wiederholen, doch er fertigte bereits andere Passagiere ab. Ich drehte mich zu Holly um.

»Ich kann hier nicht länger parken. Man darf gerade nur so lange stehenbleiben, um jemanden abzusetzen. Im Flughafengebäude wirst du einen Monitor mit deiner Flugnummer und dem Flugsteig sehen, und darauf findest du auch die genaue Abflugzeit.«

»Danke für alles, was du für mich getan hast, Holly.«

»Ruf an, und ich melde mich auch bei dir«, sagte sie. Sie hielt meine Hände fest und sah mich lange an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Deine Mutter muß reichlich blind gewesen sein, wenn sie eine Tochter wie dich im Stich gelassen hat«, sagte sie. Sie umarmte mich, und ich klammerte mich an sie, umschlang sie wie eine Boje, die mich in diesem tosenden und brodelnden Meer von Menschen vor dem Untergehen bewahrte.

Sie ließ mich los, wandte sich ab, stieg wieder in ihren Wagen und lächelte mir ein allerletztes Mal zu. Ich beobachtete, wie sie losfuhr, und ich winkte und sah hinter ihr her, bis sie verschwunden war. Jetzt war ich wirklich ganz allein und auf mich selbst gestellt, ohne einen einzigen Freund auf Erden. Zwei ältere Menschen drängten sich unsanft an mir vorbei, und keinem von beiden fiel auf, daß sie mich mit ihren Koffern beinah zu Boden geworfen hatten. Ich stand im Weg, an einem ungeeigneten Ort, und daher preßte ich meine Handtasche an mich und eilte in das Gebäude, ehe mich weitere Personen niedertrampeln konnten.

Drinnen konnte ich keinen großen Unterschied zu draußen feststellen. Leute eilten von da nach dort, zogen Gepäckstücke auf Rädern hinter sich her und riefen einander allerlei zu. Am Schalter stritt sich ein Mann heftig mit dem Beamten, während die Leute in der Schlange hinter ihm ausnahmslos verärgert und frustriert wirkten. Wie gut hätten sie doch alle Billy Maxwells beruhigende Worte und seine Meditationstechniken gebrauchen können, sagte ich mir kopfschüttelnd.

»Was soll daran so komisch sein?« fragte ein junger Mann in einem dunkelgrauen Anzug. Er hatte blondgelocktes Haar, verschmitzt wirkende grüne Augen mit braunen Sprenkeln und in der rechten Wange ein Grübchen, das sich deutlich zeigte, als er die Mundwinkel hochzog. Er trug eine schwarze Aktentasche und einen Regenschirm bei sich.

»Was? Ach so. Ich habe nur gerade diese Leute beobachtet und gesehen, wie ihnen schier der Dampf aus den Ohren kommt.«

»Dampf?« Er drehte sich um und sah die Schlange an. »Ach so.« Er lächelte freundlich. »Du bist wohl eine erfahrene Vielreisende, was?«

»Wer? Ich? Oh nein, Sir, ich habe noch nie in einem Flugzeug gesessen!« rief ich aus.

»Tatsächlich? So wirkst du aber gar nicht auf mich. Wohin fliegst du? Doch nicht etwa zufällig nach Los Angeles?«

»Oh doch«, erwiderte ich. »Ich muß zu Flugsteig einundvierzig.«

»Nichts leichter als das. Da muß ich auch hin.« Er wies mit einer Kopfbewegung nach links. Nach ein paar Metern blieb er stehen, als ich ihm nicht folgte. »Ich beiße nicht«, scherzte er.

»Das habe ich auch nicht geglaubt«, sagte ich nervös und ging los.

»Ich heiße Jerome Fonsworth«, sagte er. »Leider bin ich gezwungen, viel zu reisen, und daher bin ich im Gegensatz zu dir tatsächlich ein erfahrener Reisender.« Er schnitt eine Grimasse. »Hotelzimmer, Taxis und Flughäfen, so sieht mein Leben aus. Was für ein Leben«, schloß er und verzog hämisch das Gesicht.

»Weshalb reisen Sie so viel?« Wie alle anderen legte auch er ein forsches Tempo vor. Ich konnte nur im Laufschritt an seiner Seite bleiben.

»Ich bin im Bankgeschäft tätig, und ich muß oft von Boston nach New York, Chicago oder Denver fliegen. Manchmal reise ich auch nach Atlanta, und ab und zu verschlägt es mich nach Los Angeles. Heute geht es mal wieder nach Los Angeles. Wenn wir heute Dienstag haben, muß das Belgien sein. Hast du mal was von diesem Film gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Macht nichts, aber genau so geht es mir. Ich schwirre immer und ewig in der Gegend herum. Manchmal komme ich mir vor wie eine emsige Biene«, murmelte er und schwang beim Laufen seinen Aktenkoffer. Plötzlich blieb er abrupt stehen und drehte sich zu mir um.

»Sieh mich an«, sagte er. »Sehe ich aus wie ein Mann von Ende Zwanzig oder wie ein Mann von Ende Dreißig, Anfang Vierzig? Belüg mich nicht.«

»Ich belüge niemanden«, sagte ich. »Und Fremde schon gar nicht.«

Er lachte.

»Das gefällt mir.« Er legte den Kopf nachdenklich zur Seite. »Ich muß schon sagen, das leuchtet mir ein. Man muß jemanden erst einmal kennenlernen, ehe man sich genug aus ihm macht, um ihn zu belügen. Ich lüge Fremden gegenüber auch nicht oft.« Er dachte nach und nickte. »Also, was ist?«

»Sie wirken nicht wie ein Mann in seinen Vierzigern«, sagte ich.

»Aber ich sehe aus wie ein Mann in seinen Dreißigern?« Er wartete, und seine Augen wurden schmaler.

»Anfang oder Mitte Dreißig«, gab ich zu.

»Das liegt nur daran, daß mein Haar über der Stirn schon etwas schütter ist, und das kommt vom Streß. Ich bin wirklich erst achtundzwanzig.«

Er wollte sich gerade wieder abwenden, drehte sich dann aber doch noch einmal zu mir um. »Was sagtest du doch schnell noch mal? Wie war dein Name?«

»Ich habe Ihnen meinen Namen bisher noch nicht genannt aber ich heiße Melody. Melody Logan.«

»Melody? Jetzt erzähl mir bloß nicht, daß du singst und auf dem Weg nach Los Angeles bist, um dort ein Star zu werden«, sagte er geringschätzig und lief weiter.

»Nein, ich fliege nicht hin, weil ich ein Star werden will«, entgegnete ich, doch ich glaubte nicht, daß er meine Erwiderung wirklich gehört hatte.

»Hier geht’s rauf«, sagte er und deutete auf einen Aufzug. »Sie werden den Inhalt deiner Handtasche überprüfen. Falls du also eine Waffe bei dir trägst, solltest du sie besser jetzt rausholen.«

»Eine Waffe!«

»Das war nur ein Witz«, sagte er.

Als wir den Zugang zu den Flugsteigen erreicht hatten, beobachtete ich, wie er seine Aktentasche auf den Tisch legte, und mir wurde klar, daß die Beamten auf einen Röntgenschirm sahen. Ich stellte meine Handtasche auf das Fließband und lief durch den Metalldetektor. Ein Schrillen ertönte, und eine Angestellte kam auf mich zu.

»Hast du Kleingeld oder Schlüssel in den Taschen?«

»Nein, Ma’am«, sagte ich.

»Wahrscheinlich ist es diese Halskette. Leg sie dort in den Korb«, ordnete sie an.

Jerome Fonsworth stand da, behielt mich im Auge und lächelte mich an. Langsam zog ich die Kette über den Kopf, die Billy mir geschenkt hatte, und legte sie in den Korb. Dann ging ich wieder durch den Metalldetektor, und diesmal blieb das Schrillen aus.

»In Ordnung«, sagte die Beamtin und reichte mir das Körbchen, damit ich meine Kette herausnehmen konnte. Ich tat es eilig und hing sie mir gleich wieder um. Dann schnappte ich meine Handtasche und schloß mich Jerome an.

»Ich hätte dich vorwarnen sollen. Ich muß diese Uhr jedes Mal abstreifen.« Er warf einen Blick auf seine funkelnde goldene Armbanduhr, als er sie wieder an sein Handgelenk gleiten ließ. »Du fliegst auch mit American, Flug Eins-Null-Zwo?«

»Ja.«

»Uns bleibt noch fast eine Stunde. Möchtest du eine Tasse Kaffee oder irgendwas anderes?« fragte er und steuerte die Cafeteria an.

»Vielleicht sollte ich eine Tasse Tee trinken.«

»Dir ist wohl schon ganz kribbelig im Magen«, scherzte er.

»Richtig, genauso ist es«, sagte ich. Ich sah nicht ein, weshalb ich mich meiner Nervosität hätte schämen sollen. Ich wette, er ist auch nervös gewesen, als er seine erste Flugreise angetreten hat, sagte ich mir. Er überhörte nicht, daß mein Tonfall abweisend war.

»Ist ja schon gut. Wenn mir nicht schummerig im Magen ist, dann liegt das nur daran, daß sich mein Magen längst in eine Konservendose verwandelt hat. Das kommt von diesem ganzen Imbißkram, den ich unterwegs zu mir nehme, und von dem Fraß, den sie einem im Flugzeug vorsetzen. Komm schon«, sagte er und lief in die Cafeteria voraus. Er bestellte einen Kaffee und einen Doughnut und eine Tasse Tee für mich.

»Danke«, sagte ich, als er darauf bestand, mir meinen Tee zu bezahlen.

»Nicht der Rede wert. Ich bin leitender Angestellter in der Bank meines Vaters. Geld wächst an den Bäumen«, sagte er und suchte einen Tisch in der vorderen Reihe aus. Wir setzten uns, und er reichte mir den Tee.

»Hassen Sie Ihren Job wirklich so sehr, wie Sie es behaupten?« fragte ich.

»Meinen Job hassen? Nein, mit mir ist es so weit gekommen, daß ich in der Hinsicht überhaupt nichts mehr empfinde. Es ist eine reine Routineangelegenheit. Ich erledige, was getan werden muß, und dann mache ich mich auf den Heimweg«, sagte er. Er sah mich beim Reden nicht an. Seine Blicke schweiften unablässig durch die Gegend. Wie alle anderen um mich herum schien auch er ein Bündel unbändiger Energie zu sein. Ich dachte mir, er könnte jeden Moment verpuffen und in einem kleinen Wölkchen zur Decke aufsteigen.

»Wo sind Sie zu Hause?«

»In Boston. Das habe ich dir doch schon erzählt«, sagte er. »Du hast mir nicht zugehört, Melody Logan.« Er drohte mir mit seinem langen rechten Zeigefinger. »Siehst du, ich habe mir deinen Vor- und Zunamen gemerkt. Achte auf alles und jeden, wenn du auf Reisen bist«, riet er mir. Er biß in seinen Doughnut und bot ihn mir dann an.

»Nein, danke.«

»Du wirst ruhiger werden, wenn du erst einmal in der Luft bist«, versicherte er mir. »Wenn man es genau nimmt, ist das Fliegen die beste Art zu reisen. Man setzt Kopfhörer auf, lehnt sich zurück und nickt ein. Meistens muß ich im Flugzeug arbeiten, weil ich mit meinem Papierkram hinterherhinke. Ich hasse Büroarbeiten.«

»Was genau tun Sie eigentlich?«

»Ich bearbeite Geschäftsdarlehen«, sagte er. »Nicht halb so schick wie das, was die Leute in Hollywood tun. Und warum fliegst du hin? Machst du dort Ferien?« Er sah sich weiterhin um, nachdem er mir Fragen gestellt hatte, ganz so, als interessierten ihn meine Antworten ohnehin nicht oder als hielte er nach jemandem Ausschau.

»Nein, ich werde dort meine Mutter treffen.«

»Ach.« Er wandte sich mir wieder zu. »Deine Eltern sind geschieden, und du lebst bei deinem Vater?«

»Nicht direkt«, sagte ich.

»Du brauchst mir deine Privatangelegenheiten nicht zu erzählen. Ich stelle nur neugierige Fragen, um mir die Zeit zu vertreiben. Du heißt also Melody, aber du singst nicht?« fragte er. Er sah nach rechts und kaute schnell auf seinem Doughnut herum, schlang ihn regelrecht in sich hinein.

»Ich spiele Fiedel.«

»Fiedel?« Er drehte sich wieder zu mir um und lachte. »Soll das heißen, daß du Geige spielst?«

»Nein, das ist etwas anderes. Ich bin in West Virginia aufgewachsen, und dort ist die Fiedel ein sehr beliebtes Instrument.«

»Ach. Ich dachte mir gleich, daß dein Akzent ein wenig ungewöhnlich klingt. So, so, Fiedel. Das ist doch sicher sehr hübsch.« Er verschlang den letzten Bissen von seinem Doughnut und leckte sich die Finger ab. »Ich habe größeren Hunger, als ich dachte. Ich glaube, ich hole mir noch einen Doughnut.«

»Oh nein, lassen Sie mich das machen. Sie haben meinen Tee bezahlt«, bot ich an.

Er lachte.

»Eine Frau mit eigenen finanziellen Mitteln. Das gefällt mir. Klar, nur zu. Hol mir einen ohne alles ... nein, diesmal nehme ich einen mit Schokoladenüberzug«, sagte er. Ich griff in meine Handtasche, öffnete mein Portemonnaie und zog zwei Dollarscheine heraus.

»Reicht das?«

»Ja«, sagte er kopfschüttelnd. »Das ist mehr, als dein Tee gekostet hat, und daher würde ich nicht direkt von einem fairen Handel sprechen«, warnte er mich.

»Eine ganz typische Bemerkung, wie man sie von einem Bankier erwartet«, erwiderte ich, und er lachte schallend.

»Danke.«

Ich ging ans Büfett und suchte den Doughnut aus. Als ich zurückkam, funkelten seine Augen immer noch vor Lachen.

»Ich bin es nicht gewohnt, von Frauen eingeladen zu werden. Die Mädchen, die ich kenne, gehören zur Familie der Blutsauger«, sagte er, als ich ihm den Doughnut gab. »Komm schon, den teilen wir jetzt miteinander, abgemacht?«

»In Ordnung«, sagte ich und nahm die Hälfte, die er abbrach. Wir aßen schweigend.

»Vor zwei Monaten war ich auf einer Tagung in Los Angeles«, sagte er, als er seine Hälfte aufgegessen hatte.

»Hat es Ihnen gefallen?«

»Los Angeles? Ich war im Beverly Hilton untergebracht. So sieht man sich Los Angeles am besten an ... Chauffeure, die besten Restaurants. Genaugenommen ist das überall, wohin man kommt, die beste Art sich umzusehen. Wo wohnt deine Mutter?«

Ich rasselte die Adresse herunter, da ich sie mir schon bald, nachdem Kenneth Childs sie mir in Provincetown gegeben hatte, ins Gedächtnis eingeprägt hatte.

»West Hollywood? Das könnte hübsch sein«, sagte er. »Wie kommt es, daß du bisher noch nie dort gewesen bist?«

»Sie ist noch nicht allzu lange da«, erwiderte ich. Er konnte mir deutlich im Gesicht ansehen, daß noch viel mehr hinter dieser Geschichte steckte, aber er machte nicht den Eindruck, als wollte er noch weiter nachhaken. Er nickte und sah sich dann wieder um.

»Mir ist gerade eingefallen, daß ich noch einen Anruf machen muß. Würdest du auf meine Aktentasche aufpassen? Ich bin gleich wieder da«, sagte er und sprang auf, ehe ich etwas darauf erwidern konnte. Er eilte durch das Flughafengebäude. So wie dieser junge Mann Energien verbrannte, würde er wahrscheinlich schon bald wie vierzig oder fünfzig aussehen, sagte ich mir.

Ich lehnte mich zurück und beobachtete die Menschenscharen, die vorbeiströmten, die Kinder; die sich an die Hände ihrer Eltern klammerten, die Paare, die sich ebenfalls an den Händen hielten oder nebeneinander herliefen. Wohin wollten all diese Menschen bloß? fragte ich mich. Waren auch welche unter ihnen, die, so wie ich, zum ersten Mal eine Flugreise machten?

Plötzlich tauchte Jerome wieder auf und wirkte vollständig atemlos.

»Wir haben in der Bank ein kleines Problem«, sagte er. »Hier in New York.«

»Oh, das tut mir aber leid.«

»Ich muß ganz dringend in die Stadt zurückfahren.« Er nahm seine Aktentasche und hielt dann inne. »Das Ärgerliche ist nur, daß diese Papiere heute noch in Los Angeles ankommen müssen. Hör mal, könntest du mir einen großen Gefallen tun? Ich bezahle dich auch gern dafür.«

»Worum geht es?« fragte ich.

»Wenn du ankommst, wird schon ein Mann am Ausgang des Flugsteigs warten. Er wird ein Schild hochhalten, auf dem ›Fonsworth‹ steht. Übergib ihm einfach nur diese Aktentasche. Ich rufe an und sage ihm Bescheid, daß er dich erwarten kann. In Ordnung?«

»Ich soll ihm einfach nur die Aktentasche übergeben?«

»Das ist alles«, sagte er. »Abgemacht? Hier«, fügte er hinzu und nahm einen Fünfzigdollarschein aus seiner Brieftasche.

»Für eine solche Kleinigkeit brauchen Sie mir doch kein Geld zu geben«, sagte ich.

»Ich bestehe darauf.«

»Wenn Sie darauf bestehen, mir Geld dafür zu gehen, tue ich es nicht. Wenn wir einander keine kleinen Gefälligkeiten erweisen könnten ...«

Er lächelte.

»Weißt du, ich hatte gleich das Gefühl, heute sei mein Glückstag, als ich dich in dieser Schlange stehen und lächeln sah. Danke. Und falls wir uns jemals wieder über den Weg laufen sollten, vergesse ich bestimmt nicht, dich zu einer Tasse Tee einzuladen.«

Er schob mir die Aktentasche zu.

»Ein Mann wird mit einem Schild dastehen ... ›Fonsworth‹. Er wird nicht schwer zu finden sein«, beteuerte er mir, ehe er ging und in den Menschenmassen verschwand, die gerade mit anderen Flugzeugen angekommen waren.

Ich trank meinen Tee aus und stand auf. Die Aktentasche war etwas schwerer, als ich erwartet hatte, aber sie war nicht zu schwer. Ich lief durch das Flughafengebäude, bis ich Flugsteig einundvierzig erreicht hatte. Dort standen schon viele andere Leute bereit. Ich fragte eine Angestellte, was ich als nächstes zu tun hätte.

»Du läßt dir am Schalter deine Bordkarte aushändigen«, belehrte sie mich, und ich stellte mich an. Zehn Minuten später stand ich am Schalter und reichte der Flugbegleiterin mein Ticket. Sie gab mir meine Bordkarte, und ich setzte mich hin und wartete gemeinsam mit allen anderen Passagieren, bis die Flugbegleiterin ankündigte, es sei jetzt Zeit zum Einsteigen.

Mein Herz begann wieder rasend zu pochen. Als meine Sitznummer aufgerufen wurde, stellte ich mich an und begab mich mit den anderen zum Einstieg. Die Stewardeß, die in der Tür stand, schickte mich mit einem herzlichen Lächeln nach rechts.

»Du hast den Sitz direkt am Gang«, sagte sie. Ich fand ihn schnell. Auf dem Fensterplatz saß bereits ein älterer Mann in einem hellbraunen Anzug. Er hatte die Augen geschlossen, schlug sie jedoch auf, als ich mich neben ihn setzte.

»Hallo, Kleines«, sagte er.

»Hallo.« Ich verstaute die Aktentasche unter dem Sitz direkt vor mir und befolgte auch die Aufforderung, mich anzuschnallen. Dann lächelte ich den älteren Herrn wieder an.

»Du machst dich wohl auf den Heimweg?«

»Nein, ich fliege zum ersten Mal nach Los Angeles«, sagte ich. »Und was ist mit Ihnen?«

»Ich fliege nach Hause. Ich habe meinen Bruder in Brooklyn besucht. Er ist zu alt, um noch zu reisen, und daher muß ich zu ihm kommen, wenn ich ihn sehen will. Früher haben wir uns abgewechselt. Es ist nicht leicht, alt zu werden, aber du weißt ja, wie man so schön sagt – es ist immer noch besser als die Alternative«, fügte er lachend hinzu, und die Brille mit den dicken Gläsern hüpfte auf seinem Nasensteg herum.

»Wie alt ist Ihr Bruder?«

»Vierundneunzig, zwei Jahre älter als ich«, erwiderte er.

»Sie sind zweiundneunzig Jahre alt?« fragte ich verblüfft.

»Zweiundneunzig Jahre jung. Wenn man sich selbst erst einmal als alt ansieht, dann ist man alt«, sagte er rundheraus. Er hatte hellgraue Augen, die bemerkenswert jung wirkten, dichteres Haar, als ich es bei einem Mann seines Alters für möglich gehalten hätte, und ein Gesicht, dessen Stirn und Schläfen zwar von tiefen Falten durchzogen waren, das aber keineswegs einen verwitterten Eindruck machte. Er war schlank, sah jedoch ganz und gar nicht gebrechlich und schwach aus.

»Ich muß Sie bitten, mich in Ihr Geheimnis einzuweihen«, sagte ich lächelnd.

»Du meinst das Geheimnis, wie man in Schwung bleibt?« Er beugte sich zu mir herüber. »Tu, was du tun mußt, aber überlaß es anderen, sich Sorgen zu machen«, erwiderte er und lachte dann wieder. »Es spielt sich alles nur hier oben ab.« Er deutete auf seine Stirn. »Der Sieg des Geistes über die Materie. Und was ist mit dir? Besuchst du das College?«

»Noch nicht«, sagte ich und erzählte ihm ein bißchen mehr über mich. Er hatte ein Hörgerät, das meiner Meinung nach sehr gut funktionieren mußte. Jedenfalls schien er alles zu hören, was ich sagte.

Ich merkte erst, wie lange ich schon mit dem alten Mann geredet hatte, als der Pilot ankündigte, unser Flugzeug erhielte als nächste Maschine die Starterlaubnis. Ich lehnte mich zurück und hielt den Atem an.

»Fliegst du zum ersten Mal?«

»Ja, Sir, zum allerersten Mal«, sagte ich.

»Denk daran, was ich dir gesagt habe«, meinte mein älterer Freund mit einem schalkhaften Funkeln in den Augen. »Überlaß es anderen, sich Sorgen zu machen.«

Er schloß die Augen, lehnte sich zurück und wirkte vollkommen entspannt. Es war mein Glück, daß ich neben ihm saß, denn er übte eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Wie hätte ich nervös sein können, wenn ein Mann in seinen Neunzigern so tapfer war?

Als wir erst einmal in der Luft waren, erzählte er mir alles über sein Leben. Er konnte sich an den Kanonenbootkrieg nach dem kubanischen Aufstand erinnern und natürlich auch an den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Es war eine schwindelerregende Vorstellung, wie viele Veränderungen er zu seinen Lebzeiten miterlebt hatte. Er und sein Bruder hatten gemeinsam mit ihrem Vater in der Bekleidungsindustrie gearbeitet, als die beiden Söhne erst zehn und zwölf Jahre alt gewesen waren. Er hatte im Lauf seines Lebens viele verschiedene Berufe ausgeübt und war schließlich Versicherungskaufmann geworden, hatte geheiratet und war nach Kalifornien gezogen, wo er, wie er sagte, mit Immobilien sein Geld verdient hatte. Seine Frau war vor fast vierzehn Jahren gestorben. Ich hörte mir Geschichten über seine Kinder und über seine Enkel an. Er redete so viel, daß ich gar nicht merkte, wie schnell die Zeit verging. Wir bekamen das Mittagessen vorgesetzt, und dann machte er ein Nickerchen, und ich las eine Zeitschrift. Ich schlief selbst auch für ein Weilchen ein, und als ich wach wurde, hörte ich den Piloten sagen, wir näherten uns bereits Los Angeles.

»Denk daran«, sagte mein älterer Freund und legte seine Hand auf meine, »Streß und Sorgen, das ist es, was einen altern läßt. Die Zeit dagegen, die Zeit gemahnt uns nur daran, daß wir nicht ewig hier sein werden.«

»Ich danke Ihnen«, sagte ich.

Anschließend geschah alles so schnell – die Landung des Flugzeugs, das Zusammensuchen meiner Sachen, der Abschied von meinem neuen Freund und dann das Aussteigen. Mein Herz schlug rasend und hämmerte so heftig in meiner Brust, daß ich fürchtete, ohnmächtig zu werden, ehe ich Hollys Schwester fand. Sie stand direkt am Ausgang des Flugsteigs und war absolut unverwechselbar, eine elegante Schönheit mit einem breitkrempigen weißen Hut und einem Spitzenmantel über ihrem blütenweißen Seidenkleid. Sie trug passende Seidenhandschuhe und große Diamantohrringe. Ihr kurzgeschnittenes Haar lag dicht am Kopf an, wie ein kleiner Helm aus matt schimmerndem Gold, und es war aus dem Gesicht zurückgekämmt, um ein gemeißeltes Profil und ein faltenloses Gesicht herauszustreichen.

Holly hatte mich gewarnt, ihre Schwester Dorothy sei die Haupteinnahmequelle mehrerer Schönheitschirurgen in Beverly Hills. Holly sprach von Dorothys Faltenpanik. Wenn sich auch nur das kleinste Fältchen zeigte, geriete sie sofort außer sich, sagte sie, und riefe ihren Schönheitschirurgen an. Ihre Nase war begradigt und gekürzt, und ihre Augenlider und ihre Haut waren schon so oft gestrafft worden, daß ihr Gesicht einer Maske glich, doch sie besaß von Natur aus diese jungen, grüngesprenkelten Augen, die mir schon an Holly aufgefallen waren. Ihre Lippen dagegen waren voller als die von Holly. Später erfuhr ich, daß auch das auf einen Eingriff zurückging, den ihr plastischer Chirurg durchgeführt hatte.

Neben ihr stand ihr livrierter Chauffeur, ein gutaussehender junger Mann mit meergrünen Augen, die schon fast türkis schimmerten. Sein Haar hatte die Farbe von frischem Stroh und war an den Seiten kurz geschnitten, fiel jedoch in einem kühnen Schwung über seinen Hinterkopf. Er hatte ein gespaltenes Kinn, markante Kieferknochen, die sehr kräftig wirkten, und hochangesetzte Wangenknochen. Seine Lippen waren straff, und im Moment war der rechte Mundwinkel ein wenig hochgezogen. In seinen Augen stand ein Lachen, als er mich beobachtete, wie ich mit weitaufgerissenen Augen und voller Entsetzen die Ankunftshalle betrat.

Dorothy war groß, mindestens zehn Zentimeter größer als Holly, wenn nicht mehr. Ich hatte den Eindruck, daß ihr Chauffeur gut einen Meter neunzig maß. Er wirkte so schneidig und geschniegelt wie ein Filmstar, und er war auch so braungebrannt. Sein Teint wies diese makellose Bräune auf, die so typisch für Hollywood war und die ich von den Starfotos in den Fanzeitschriften kannte. Der Karamelton seiner Haut ließ seine blaugrünen Augen noch kräftiger leuchten.

Dorothy winkte. Neben den beiden standen zwei uniformierte Polizisten, die sorgsam jeden einzelnen Passagier musterten, der mit diesem Flug eingetroffen war. Ich winkte zurück und lief eilig los.

»Melody?«

»Ja«, sagte ich.

»Ich habe gleich gewußt, daß du es bist. Nicht wahr, Spike?« sagte sie, als ich näher kam.

»Die Beschreibung war treffend«, sagte er und lächelte noch strahlender.

»Meine Güte, sieh dich nur an. Du bist einfach entzückend«, sagte sie. »Haben Sie jemals ein so frisches junges Ding gesehen, Spike?«

»Nein, Ma'am«, sagte er und gaffte mich an. Auf seinen Lippen stand ein stummes Lachen.

»Willkommen in Los Angeles«, erklärte Dorothy feierlich. »Meine Schwester hat mir schon alles über dich erzählt, aber natürlich möchte ich dich selbst auch besser kennenlernen. Ich bin ganz sicher, daß die Dinge, die sie mir berichtet hat, mindestens zur Hälfte Übertreibungen oder Ausgeburten ihrer zügellosen Phantasie sind. Spike, nehmen Sie ihr die Aktentasche ab. Die Aktentasche?« wiederholte sie dann fragend und zog die Augenbrauen hoch, sowie sie diese Worte an sich selbst gerichtet hatte. »Weshalb solltest du einen ... einen so unansehnlichen Gegenstand mit dir herumtragen? Hätte meine Schwester dich nicht mit einer angemessenen Tasche ausstatten können? Du weißt schon, etwas Feminineres?«

»Das ist nicht meine Tasche. Ich wollte jemandem einen Gefallen tun«, sagte ich und sah mich hinter den beiden nach dem Mann mit dem Schild um.

»Einen Gefallen?« Dorothy sah Spike an. Er zuckte die Achseln.

»Ich habe in New York auf dem Flughafen einen Bankier kennengelernt. Er war auf dem Weg hierher, als ihm unerwartet etwas Brenzliges dazwischengekommen ist und er in die Stadt zurückfahren mußte. Er hat mich gebeten, diese Aktentasche nach Los Angeles mitzunehmen und sie einem Mann zu übergeben, der ein Schild mit seinem Namen hochhält, dem Namen Fonsworth«, sagte ich und sah mich dabei immer noch um. »Aber ich kann ihn nirgends sehen.«

»Eine solche Unverfrorenheit«, sagte Dorothy. »Ausgerechnet einem jungen Mädchen, das zum ersten Mal hierherkommt, so etwas aufzubürden.« Als sie Spike wieder ansah, hatte sich sein Lächeln verflüchtigt und war von einer finsteren Miene und Falten in der Stirn abgelöst worden. Sein Blick richtete sich auf die Polizisten hinter mir, und dann griff er schnell nach der Aktentasche und riß sie mir praktisch aus den Händen. Ich fand sein Benehmen grob und wollte protestieren. Schließlich war ich verantwortlich für diese Tasche. Er entfernte sich eilig.

»Hattest du einen angenehmen Flug, meine Liebe? Manchmal rumpelt es ganz schön, und sie bringen es immer wieder fertig, einem das Essen genau dann zu servieren, wenn der Flug gerade besonders unruhig ist. Ich fliege nur noch, wenn ich erster Klasse fliegen kann. Nicht etwa, daß es dann weniger holpern würde, aber man weiß wenigstens, daß man es etwas bequemer hat. Aber du mußt mir wirklich alles über dich selbst und dein Abenteuer erzählen und natürlich auch alles über meine Schwester. Ich hoffe, du glaubst ihr nicht die Hälfte dessen, was sie nach ihren eigenen Behauptungen bewerkstelligen kann. Wir werden zusammen zu Mittag essen«, fügte sie hinzu, ehe ich auch nur eine Silbe herausbringen konnte, »nachdem Spike dein Gepäck geholt hat.«

Sie holte tief Atem. Spike lief immer noch mehrere Schritte vor uns her.

»Ich möchte wirklich diese Aktentasche dem Mann aushändigen, der schon drauf wartet«, sagte ich. »Ich habe es versprochen, und jetzt fühle ich mich dafür verantwortlich.«

»Ja, selbstverständlich, Liebes. Spike?«

Er drehte sich um, als wir in den langen Korridor einbogen. »Der Mann, den sie sucht, wartet doch gewiß an der Gepäckausgabe, meinen Sie nicht auch?« sagte Dorothy.

Spike blieb stehen, sah sich um und wollte dann die Aktentasche öffnen, doch sie war abgesperrt.

»Ich finde, es gehört sich nicht, die Tasche aufzumachen«, protestierte ich.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er zu Dorothy und lief auf die Herrentoilette zu.

»Warum überläßt er mir diese Aktentasche nicht einfach?« fragte ich.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Er ist natürlich Schauspieler, und wie alle Schauspieler ist er launisch und unberechenbar. Heutzutage gibt es in L. A. niemanden mehr, der nicht bestrebt ist, entweder in der Unterhaltungsindustrie Fuß zu fassen oder Immobilien zu verkaufen. Aber jetzt haben wir uns lange genug über Spike unterhalten. Erzähl mir doch bitte mehr über dich. Wo hast du meine Schwester kennengelernt?«

Ich berichtete ihr von Provincetown und Kenneth, von Hollys Auftauchen am Strand und auch davon, wie wir uns miteinander angefreundet hatten.

»Sie fährt also immer noch dieses alberne Zirkusgefährt, das sie Auto nennt?«

»Ja«, sagte ich lachend und dachte an die grellen psychedelischen Farben.

»Sie war erst acht Jahre alt, als sie sich Löcher in die Ohren hat stechen lassen, verstehst du. Sie hat es sich von einer Freundin machen lassen, und sie mußte schleunigst zum Arzt gebracht werden, bevor sich die durchstochenen Ohrläppchen entzündeten. Mein Vater war wütend.«

Bevor Dorothy weiterreden konnte, kam Spike zurück, aber ohne die Aktentasche.

»Wo ist Mr. Fonsworths Aktentasche?« erkundigte ich mich augenblicklich schroff.

»Im Abfalleimer. Und jetzt sollten wir zusehen, daß wir von hier verschwinden«, sagte er zu Dorothy.

»Was? Warum haben Sie das getan?« schrie ich.

»Sei still«, sagte er mürrisch.

»Einen Moment mal«, setzte ich an, da ich entschlossen war, eine Erklärung von ihm zu verlangen. Zu meinem Erstaunen packte er meinen Arm am Ellbogen und zog mich weiter. Ehe ich dagegen protestieren konnte, wandte er sich an Dorothy. »Rauschgift«, sagte er.

»Ach du meine Güte.«

»Was?«

»In dieser Aktentasche war Kokain. Schon mal was davon gehört?« sagte er sarkastisch. »Wahrscheinlich war das der Grund dafür, daß die Polizei schon am Ausgang gewartet hat. Sie haben einen Wink bekommen. Er hat es rausgekriegt und ihr die Tasche angedreht«, sagte er zu Dorothy und sah dann mich an. »Wenn diese Polizisten dich angehalten hätten, dann hättest du großen Ärger bekommen Vielleicht hätten wir sogar alle gewaltige Scherereien bekommen«, fügte er hinzu.

»Aber ...« Ich sah Dorothy an, die fast so große Augen machte wie ich. »Es ist ein netter junger Mann gewesen, ein Bankier Hier liegt doch gewiß ein Irrtum vor«, rief ich aus.

Spike schüttelte den Kopf.

»Er muß die Kleine eine Meile weit gerochen haben«, sagte er zu Dorothy.

Ich riß meinen Arm aus seiner Umklammerung los und schluckte schwer, denn ich hatte einen dicken, schmerzenden Kloß im Hals.

»Das ist nicht wahr. Ein unerwartetes Problem ist aufgetaucht, und woher hätte er überhaupt wissen sollen, daß ich ihm diesen Gefallen tue?« fragte ich.

»Wenn du dich geweigert hättest, dann hätte er sich eben nach jemand anderem umgesehen oder es für heute aufgegeben. Du hast eine beträchtliche Menge Kokain von einem Ende des Landes ans andere transportiert, und fast hättest du es sogar in Mrs. Livingstons Haus eingeschleppt«, fügte er streng hinzu.

Ich spürte, wie mir mulmig wurde, und die Tränen brannten in meinen Augen, als ich Dorothy ansah. Sie sah Spike kopfschüttelnd an und bedachte ihn mit einem kühlen, tadelnden Blick.

»Sie dürfen sie nicht so hart rannehmen, Spike. Sie hat doch nichts davon gewußt.« Dorothy tätschelte meine Schulter. »Mach dir nichts daraus, meine Liebe. Solche Dinge passieren nun einmal in der heutigen Welt, aber darüber wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Wir wollen nur noch schnell ihr Gepäck holen und dann sehen, daß wir von hier verschwinden, Spike. Ich bin restlos ausgehungert. Wir fahren von hier aus direkt zum ›Vine‹ am Beverly Drive. Warte nur, bis du dort den Salat mit gebackenem Ziegenkäse probiert hast, Melody, und die Sandwiches mit gegrillten Auberginen.«

Als ich an die Scherereien dachte, die ich mir gerade jetzt, zu Beginn dieser Reise, hätte einhandeln können, schnürte sich meine Kehle zusammen Ich holte tief Atem, seufzte erleichtert auf und warf einen schnellen Seitenblick auf Spike. Jetzt schämte ich mich dafür, daß ich so wütend auf ihn gewesen war, während er doch nur getan hatte, was ihm notwendig schien, um uns alle zu schützen. Auf dem Weg zur Gepäckausgabe sagte er kein Wort, und als wir dort ankamen, entdeckte ich einen Mann in einem hellblauen Jackett und einer blauen Hose aus derbem Stoff. Er hielt ein kleines Schild in der Hand, auf dem nur das Wort »Fonsworth« stand.

»Sieh ihn nicht an«, zischte Spike mir zu.

Wir eilten an dem Mann vorbei zum Gepäckband. Ich konnte es allerdings nicht lassen, mich ab und zu nach ihm umzusehen. Als sich die Menge lichtete, machte er kehrt und verließ eilig die Ankunftshalle.

»Es tut mir leid«, sagte ich zu Dorothy. »Ich habe nicht geahnt, was ich für diesen Mann befördert habe.«

»Es ist schon gut, Liebes. Bitte, mir graust vor unerfreulichen Dingen. Wenn etwas Scheußliches passiert, dann kaufe ich mir einfach etwas Neues zum Anziehen, denn wenn ich mir etwas Gutes tue, geht es mir gleich wieder viel besser.« Sie sog mich mit ihren Blicken von Kopf bis Fuß in sich auf. »Und genau das werden wir später mit dir tun. Wir werden dir etwas Hübsches zum Anziehen kaufen. Ich bin sicher, daß du nicht das Richtige hast. Du brauchst etwas Schickeres, um durch Beverly Hills zu schlendern.‹«

»Oh, etwas Derartiges kann ich unmöglich von Ihnen verlangen.«

»Nein, natürlich nicht, aber ich kann dir doch trotzdem etwas Hübsches kaufen«, sagte sie lachend.

Ich entdeckte eine meiner Taschen, und Spike nahm sie vom Band.

»Fast hätte ich es vergessen«, sagte ich und wühlte in meiner Handtasche herum. »Das hat mir Holly für Sie mitgegeben.« Ich reichte ihr das kleine Päckchen mit den Widdern auf dem Geschenkpapier. Dorothy verdrehte die Augen.

»Oh nein, nicht schon wieder ein solcher Talisman, dem sie irgendwelche Zauberkräfte zuschreibt. Was ist es denn diesmal?«

Sie ließ das Schächtelchen in ihre Handtasche fallen, ohne es vorher auch nur auszupacken. Ich malte mir Hollys Enttäuschung aus, doch ehe ich etwas sagen konnte, tauchte meine zweite Tasche auf, und ich machte Spike darauf aufmerksam. Wir zeigten dem Beamten an der Tür meine Gepäckabschnitte, und Spike trug meine Taschen zu der bereitstehenden Limousine. Es war ein langer, schnittiger schwarzer Mercedes mit feudalen weichen Ledersitzen, einer eingebauten Bar und einem kleinen Fernsehgerät vor dem Rücksitz. Spike hielt uns die Tür auf, und wir stiegen ein. Das Leder roch brandneu.

»Das, was vorhin passiert ist, tut mir wirklich leid«, sagte ich noch einmal. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr schämte ich mich dafür, Menschen in Gefahr gebracht zu haben, die so freundlich zu mir waren.

»Ich kann dich nicht hören«, zwitscherte Dorothy. »Unerfreuliche Dinge höre ich nicht. Ich habe mich dazu erzogen, mich vollkommen taub zu stellen, wenn es sein muß, und daher kannst du ebensogut gleich das Thema wechseln. Laß uns lieber wieder über dich reden. Erzähl mir etwas von diesem Städtchen ... in diesem Kohlebaugebiet, und wie es dich nach Provincetown verschlagen hat«, sagte sie. »Cape Cod gefällt mir wirklich gut, aber wir sind dort immer nur in Hyannis. Da leben die Kennedys, verstehst du. Spike, nehmen Sie doch bitte die schnellere Strecke zum ›Vine‹«, forderte sie ihn auf, als er sich hinter das Steuer setzte. »Ich bin nämlich wirklich am Verhungern.«

»Ja, Ma’am«, sagte er und zwinkerte mir zu, als er vom Parkplatz fuhr und auf die Straße einbog.

Nach allem, was passiert war, hatte ich noch nicht einmal zu dem prachtvollen blauen Himmel aufgeblickt. Wir reihten uns in den Verkehr ein und befanden uns schon bald auf einem der berühmten kalifornischen Freeways. Ich war tatsächlich hier angekommen, und es konnte gut sein, daß sich irgendwo, gar nicht weit von hier, auch meine Mutter aufhielt. Falls ich sie jemals wirklich gebraucht habe, sagte ich mir, dann jetzt.

Das Lied der Nacht

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