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Eine andere Welt
Оглавление»Soll ich dich gleich wieder nach Hause bringen?« fragte Spike.
»Das ist mir ganz egal«, sagte ich wehleidig und kauerte mich auf dem äußersten Ende des Rücksitzes zusammen. Ich habe diesen weiten Weg umsonst gemacht, sagte ich mir. Es war nichts weiter als ein Traum, ein kindlicher Traum. Ich hätte auf Dorothys Vorschlag eingehen und einen Privatdetektiv mit der Lauferei beauftragen sollen. Aber selbst das war eine alberne Idee. Woher hätte ich das Geld nehmen sollen, um ihn zu bezahlen? Großmama Olivia hätte mir für dieses Vorhaben keinen Penny gegeben. Ihr war vollkommen egal, ob meine Mutter tatsächlich noch am Leben war oder nicht, solange das für sie nicht hieß, daß sie mich los war und ich aus Provincetown verschwinden würde, um so weit wie möglich von ihrer heiß und innig geliebten Familie entfernt zu leben.
»Es tut mir leid, daß du eine Enttäuschung einstecken mußtest«, fuhr Spike fort, »aber in L. A. muß man lernen, mit Enttäuschungen zu leben.«
»Ich will nicht in L. A. sein!« rief ich aus.
»Das ist doch gar nicht wahr. Du weißt nur noch nicht, wie schön es hier ist«, erwiderte er. »Sieh dir diese Häuser dort oben an. Das hier sind die Hollywood Hills. Die Aussicht ist umwerfend. Siehst du, daß manche direkt über den Hang gebaut sind? Ich wette, den Bewohnern läuft ein Schauer über den Rücken, wenn die Erde bebt, was meinst du?«
Gegen meinen Willen lugte ich durch meine Finger, um mir die Häuser anzusehen.
»Und man ist hier so nah am Meer. Wenn man sich ein Weilchen entspannen oder ein bißchen Sonne tanken will, dann braucht man nur ein paar Meilen rauszufahren. Ich zeige es dir«, sagte er. An der nächsten Kreuzung bog er ab, beschleunigte und fuhr nach Westen. »Verstehst du, du kommst zum Beispiel von der Arbeit und hast einen schlechten Tag hinter dir, und was tust du, ehe du nach Hause zu deiner Alten fährst? Du machst einen kleinen Umweg«, faselte er. »Im Hinterland hältst du vor einer schmuddeligen Kneipe an und brütest verdrossen über deinem Gesöff. Aber hier ... he, sieh dir das an. Diese Gebäude dort drüben. Die Fassade haben sie in Vom Winde verweht als Vorderansicht benutzt. Das ist Tara!« Ich sah zum Fenster hinaus.
»Und dort ist ein Filmstudio«, fuhr er fort. Ich setzte mich auf und betrachtete die weitläufigen weißen Gebäude. Wenig später sagte Spike zu mir, ich solle den Blick nach vorn richten, und dort lag er ... der Pazifik. Allein schon der Anblick der Wellen und die enorme Weite des silbrig blauen Wassers ließen mein Herz aufgehen. Ich dachte an Cary und May und an die Spaziergänge, die ich mit Ulysses, Kenneths Hund, der nicht von meiner Seite gewichen war, am Strand unternommen hatte. Ich erinnerte mich an den Wind in meinem Haar, an den Geruch der salzigen Luft, an die Geräusche der Seeschwalben über mir und an das wunderbare Gefühl, am Leben und ein Teil der Natur zu sein.
Spike hatte recht. Wir kamen mitten aus der Großstadt, und wenige Minuten später waren wir hier und parkten auf einer Klippe über einem langen Streifen Sandstrand.
»Laß uns zum Zaun rüberlaufen und auf den Pacific Coast Highway hinunterschauen.« Er stieg aus und hielt mir die Tür auf. Ich holte tief Atem und spürte, wie ich mich entspannte. »Komm schon«, drängte er mich.
Wir liefen über das Gras. Dort waren ein paar Bänke aufgestellt, und ältere Leute saßen um ihre Klapptische herum und spielten Karten.
»Das hier ist Santa Monica«, erklärte Spike. »Ein netter kleiner Ort, in dem es von europäischen Touristen nur so wimmelt, aber es leben auch noch viele Einheimische hier. Und dort ist der Santa Monica Pier«, sagte er und deutete zum Strand hinunter. »Siehst du das Riesenrad? Und ein Karussell gibt es auch. Man kann dort wirklich Spaß haben. Die Leute kommen gerade vom Strand zurück«, fügte er hinzu und schaute auf den Küstenstreifen hinunter. Auf dem Pacific Coast Highway herrschte reger Verkehr, und in der Ferne stand die Sonne direkt über dem Horizont und lugte zwischen zwei Wolken hinaus. »Das ist Malibu«, setzte Spike seine Erklärungen fort. »Nett, nicht wahr? Wenn beim Vorsprechen wieder mal absolut nichts herauskommt, fahre ich manchmal raus und schaue einfach nur aufs Meer. Das gibt mir eine neue Perspektive und hebt die Moral, wenn du weißt, was ich meine.«
»Ja«, sagte ich. »Ich habe in Cape Cod gelebt. Ich kenne die Macht des Meeres.«
»Ja, klar. Das hatte ich ganz vergessen. Aus irgendwelchen Gründen bringe ich dich immer nur mit einer Kleinstadt in West Virginia in Verbindung. Diesen Akzent wirst du niemals los«, scherzte er. »Eigentlich ist er ganz niedlich, und ich wette, es gibt ein paar Regisseure, die sich dafür begeistern würden.«
Ich nickte und biß mir auf die Unterlippe, denn es kostete mich große Mühe, meine Gefühle nicht zu zeigen.
»Meine Mutter und mein Vater waren viel älter als die meisten Eltern, als sie mich bekommen haben«, sagte Spike von sich aus. »Meine Mutter war schon fast vierzig, und mein Vater war in seinen Fünfzigern.«
»Als Sie geboren wurden?« fragte ich und war ihm dankbar dafür, daß er das Thema gewechselt hatte.
»Ja. Ich denke mir, sie sind wohl eines Morgens wach geworden, haben einander angesehen und gesagt: ›Weißt du was? Wir haben ganz vergessen, Kinder zu bekommen.« Er lachte. »Dad ist letztes Jahr gestorben. Auf neunundsiebzig hat er es gebracht.«
»Woher kommen Sie?«
»Aus Phoenix. Meine Mutter lebt noch dort. Sie wohnt mit ihrer Schwester in einer dieser Anlagen für die goldenen Jahre des Lebens. Sie spielt Golf und ist völlig verrückt danach. Wenn ich sie anrufe, redet sie immer nur über ihr Handicap und den tollen Putt, den sie geschlagen hat. Ich habe schon zu ihr gesagt, wenn sie stirbt, sorge ich dafür, daß die Leute in Golfwägelchen hinter ihrem Sarg herfahren.« Er lachte wieder und schüttelte dann den Kopf. »Sie fand das gar nicht komisch.«
Wir standen beide da und starrten auf das Meer hinaus. Die Segelboote sahen aus, als seien sie an den blauen Himmel gekleistert, der sich schnell dunkler färbte, und weiter draußen fuhr ein Kreuzfahrtschiff nach Südwesten. »Wenn du einmal Lust hast, einen Tag am Strand zu verbringen, fahre ich dich gerne hin«, erbot sich Spike.
»Danke, aber ich weiß nicht, ob ich jetzt noch viel länger hierbleiben werde.«
»Ich wette, den Livingstons macht es gar nichts aus, wenn du länger bleibst. Das solltest du ausnutzen.«
»Ich möchte ihre Gastfreundschaft nicht übermäßig beanspruchen«, sagte ich. »Und außerdem gibt es in Provincetown Menschen, die auf mich warten.«
»Menschen? Du meinst wohl, dein Freund wartet dort auf dich?« fragte er mit einem schelmischen Funkeln in den Augen.
»Ja«, gestand ich.
»Was treibt er?«
»Im Moment fährt er mit dem Fischerboot seines Vaters auf Hummerfang, und im Herbst wird er Moosbeeren ernten.«
»Das klingt ... recht reizvoll«, sagte Spike freundlich, doch er hatte den Kopf abgewandt, und ich konnte seine Augen nicht sehen. War es sein Ernst? Verspürte er tatsächlich Sehnsucht nach etwas Handfesterem als der Schauspielerei oder, besser gesagt, dem Versuch, als Schauspieler Fuß zu fassen, oder sagte er das nur, um mir eine Freude zu machen?
»Es ist auch reizvoll«, sagte ich nachdrücklich. Ein kleines Lächeln spielte auf seinen Lippen, als er einen Blick auf mich warf.
»Du bist noch zu jung, um dich festzulegen, Melody. Sieh nur hinaus. Die große weite Welt liegt vor dir und will erkundet werden. Es gibt noch so viel zu tun und zu sehen.«
Unsere Blicke trafen sich. Wenn er es nicht aufrichtig meinte, dann war er wirklich ein guter Schauspieler, dachte ich.
»Wie bist du eigentlich zu der Überzeugung gelangt, daß diese Frau nicht deine Mutter ist?« fragte er schließlich.
»Sie stammt aus dem Mittleren Westen, aus Ohio, und anscheinend ist sie wesentlich jünger als meine Mutter«, sagte ich.
»Aber in diesem Katalog sieht sie deiner Mutter ähnlich?«
»Sogar sehr ähnlich. Sie hat zwar eine andere Haarfarbe, aber das ist auch schon alles«, sagte ich.
»Weißt du, hier lügen die Leute, wenn es um ihr Alter geht. Das ergibt sich ganz von allein. In Hollywood muß man jung sein, vor allem Frauen, und das gilt insbesondere für eine Frau, die zum Film will oder Arbeit als Model sucht.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Und wie wahr das ist«, sagte er.
»Diese Frau hat andererseits behauptet, eine jüngere Schwester zu haben, und meine Mutter hat keine Geschwister«, sagte ich.
»Na und? Hier erfindet man seine Vergangenheit selbst. Es ist, als kämen die Leute aus einem Film, den sie selbst gedreht haben«, fuhr er fort. »Ehe du aufgibst, würde ich noch einen Versuch unternehmen. Warum versuchst du nicht, sie später anzurufen?«
»Ich habe mir keine Telefonnummer geben lassen«, sagte ich.
»Sie wird im Telefonbuch stehen, vor allem dann, wenn sie als Schauspielerin oder Model arbeiten möchte. Sie will, daß man sie mühelos erreichen kann.«
Ich nickte.
»Ich denke, wir sollten uns jetzt lieber auf den Rückweg machen«, sagte ich. »Dorothy war ohnehin nicht gerade begeistert darüber, daß ich sofort losgezogen bin.«
»Klar«, sagte er. Er schenkte mir ein freundliches Lächeln, nahm mich an der Hand und führte mich zu der Limousine zurück. Als er mir die Tür aufhielt, blickten die Leute, die dasaßen und Karten spielten, auf, um zu sehen, wer ich war, und Wagen fuhren langsamer, weil die Fahrer einen Blick auf mich werfen wollten. Hier waren alle so begierig darauf, eine Berühmtheit zu entdecken, dachte ich. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft wünschte ich mir tatsächlich, ich wäre eine dieser Berühmtheiten. Hatte ich mich jetzt schon an dieser Krankheit angesteckt?
Als ich in die Villa der Livingstons zurückkehrte, kam Dorothy durch die Eingangshalle geeilt, um mich zu begrüßen.
»Was ist passiert? Ich habe auf glühenden Kohlen gesessen. Ich hätte Spike sagen sollen, daß er mich von der Limousine aus anruft. Also, was ist?« fragte sie.
»Ich habe immer noch keine Gewißheit«, sagte ich und erklärte ihr, was vorgefallen war und warum mich neue Zweifel plagten.
»Du armes Ding. Den weiten Weg zurückzulegen und dann derart enttäuscht zu werden. Warum konnte diese gräßliche Frau nicht einfach da sein?« sagte sie und zog einen Schmollmund.
»Spike sagt, ich sollte versuchen, jetzt bei ihr anzurufen.«
»Ach, hat er das gesagt? Nun, das läßt sich machen. Aber in etwa einer halben Stunde essen wir zu Abend. Philip ist schon zu Hause und macht sich zurecht.«
»Er macht sich zurecht?«
»Wir ziehen uns zum Abendessen immer schön an. Mach dir keine Sorgen. Zieh einfach dein schönstes Kleid an«, sagte sie. »Morgen gehe ich mit dir zu ›Adroni’s‹ am Rodeo Drive, und dort besorgen wir dir etwas Schickes.«
»Also, ich glaube wirklich nicht ...«
»Denk daran«, flötete sie. »Ich werde taub.«
Ich lächelte.
»Danke, Dorothy.«
»Meine Schwester, das Medium, wenn du diesen Ausdruck entschuldigst, hat vorhin angerufen, um sich zu erkundigen, ob du gut angekommen bist. Ich habe sie gefragt, wie es eigentlich kommt, wenn sie doch ein Medium ist, daß sie die Antworten auf ihre Fragen nicht schon kennt, ehe sie sie gestellt hat.« Dorothy lachte über ihren eigenen Witz. Ich lächelte und malte mir Hollys Reaktion aus. »Das kleine Geschenk, das du mir gleich am Flughafen überreicht hast, hatte ich vollständig vergessen, und daher mußte ich so tun, als hätte ich es mir angesehen. Vor ein paar Minuten habe ich es dann tatsächlich ausgepackt. Was glaubt sie wohl, zu welchen Anlässen ich dieses Ding tragen kann?« fügte sie kopfschüttelnd hinzu. »Jedenfalls habe ich ihr gesagt, du würdest sie morgen anrufen. Sie wollte gerade aus dem Haus gehen, um irgendeinen Voodoozauber zu veranstalten.«
»Danke«, sagte ich und ging auf die Treppe zu. »Ich komme gleich wieder nach unten.«
»Mach wir wegen dieser Frau bloß keine Sorgen, mein Liebes. Wenn sie nicht deine Mutter ist, bist du uns nach wie vor willkommen und kannst hierbleiben und in Los Angeles deinen Spaß haben, so lange du willst.«
»Danke«, rief ich zurück und eilte die Stufen zu meinem luxuriösen Zimmer hinauf.
Erst als ich mich auf das Bett fallen ließ, erkannte ich, wie müde ich war. Ob jung oder nicht, die Zeitverschiebung machte sich letztendlich bemerkbar. Schließlich war es für mich drei Stunden später am Tag als für jeden anderen hier. Ich werde mich einfach ein paar Minuten ausruhen, sagte ich mir und ließ mich zurücksinken. Ich schloß die Augen. Ein lautes Pochen an meiner Tür wecke mich unsanft. Ich setzte mich ruckartig auf.
»Was ist? Herein!«
Die Tür öffnete sich, und Alec schaute durch den Spalt.
»Mr. und Mrs. Livingston erwarten Sie im Eßzimmer«, kündigte er an.
»Oh. Meine Güte, ich muß eingeschlafen sein! Ich komme gleich«, rief ich und sprang mit einem Satz vom Bett. Er verzog das Gesicht und schloß die Tür.
Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, riß mir die Bluse und die Jeans vom Leib und zog ein Kleid an. Ich fuhr mir flüchtig mit der Bürste durch das Haar und lief dann eilig aus dem Zimmer und die Stufen hinunter.
Die Livingstons saßen am hinteren Ende des langen Tisches. Mr. Livingston hatte den Platz am Kopfende eingenommen. Er trug ein dunkles Freizeitjackett und eine marineblaue Krawatte. Sein dunkelbraunes Haar, das schon schütter wurde, war auf der rechten Seite gescheitelt und säuberlich um die Ohren herum geschnitten. Er blickte zu mir auf, und seine grüngesprenkelten Augen glitten schnell über mich, ehe er den Blick wieder senkte und an seiner schmalen, knochigen Nase hinabschaute, unter der er einen gepflegten Schnurrbart trug. Er hatte dünne Lippen und ein weiches, fast schon rundes Kinn.
»Hallo, meine Liebe. Ich möchte dir Philip vorstellen. Philip, das ist Hollys kleine Freundin Melody.«
»Hallo«, sagte er und sah mich mit einem Lächeln an, das so schnell über seine Lippen zog, als hätte jemand einen Lichtschalter angeknipst und sofort wieder ausgeschaltet.
»Setz dich doch bitte«, sagte Dorothy und wies mit einem Nicken auf den Stuhl, der ihr direkt gegenüber stand. Sie trug ein schwarzes Abendkleid mit Puffärmeln und einem quadratischen Rüschenkragen, tropfenförmige Diamantohrringe mit einer passenden Halskette und einem Armband und mindestens zwei Ringe mehr als bei unserer ersten Begegnung.
Ich nahm meinen Platz ein, und Philip sah augenblicklich zu Alec auf. Der Butler setzte sich schleunigst in Bewegung und begann uns zu bedienen.
»Ich habe Philip schon alles erzählt, was du heute erlebt hast«, setzte Dorothy an, »und er hat einen wunderbaren Vorschlag gemacht. Sag du es ihr, Philip«, drängte sie ihn.
»Sprich ruhig weiter«, erwiderte er und warf einen Blick auf mich, ehe er seinen Teller ansah und mit den Fingerspitzen auf den Tisch trommelte. Alec begann uns Suppenschalen mit klarer Hühnerbrühe zu servieren, in der ein paar Reiskörner und Karottenstreifen schwammen.
»Philip sagt, diese Frau muß bei der Sozialversicherung gemeldet sein und dort unter einer Nummer geführt werden. Jeder hat eine Sozialversicherungsnummer. Er wird den Geschäftsleiter des Katalogherstellers anrufen, um dort die Nummer zu erfragen, denn dann läßt sich mühelos feststellen, ob diese Nummer unter ihrem eigenen Namen oder unter dem deiner Mutter geführt wird.«
Ich nickte und sah Philip an. Er fing an zu essen.
»Nichts weiter als gesunder Menschenverstand«, murmelte er zwischen einem Löffel Suppe und dem nächsten. Dann hielt er in der Bewegung inne, und sein voller Löffel verharrte regungslos in der Luft vor seinem Mund, ohne das geringste Zittern seiner Hände. »Natürlich ist es schon vorgekommen, daß Leute gefälschte Ausweispapiere vorlegen und sich eine neue Sozialversicherungsnummer geben lassen«, sagte er seelenruhig. »Aber das werden wir ja sehen«, fügte er hinzu.
»Wie du siehst, meine Liebe, brauchst du jetzt keine Zeit mehr darauf zu vergeuden, dieser Frau nachzujagen. Du kannst ganz entspannt sein und deinen Besuch hier genießen«, sagte Dorothy.
Philip zog den rechten Mundwinkel so weit hinunter, daß seine Lippen wirkten, als seien sie aus blaßrosa Ton geformt.
»Über Nacht kann ich das allerdings nicht erledigen«, murmelte er.
»Das macht nichts. Ich möchte diese Frau trotzdem kennenlernen«, sagte ich.
»Philip meint, das könnte sich als gefährlich erweisen.«
»Von gefährlich war nicht die Rede. Ich sagte, es könnte sich unerfreulich gestalten.«
»Das ist doch im Grunde genommen dasselbe«, beharrte Dorothy.
Er legte seinen Löffel hin und lehnte sich zurück. Alec kam sofort, um seine Suppenschale abzuräumen. Ich hatte meine kleine Portion bisher kaum angerührt und aß schnell zwei Löffel, als ich auch schon wahrnahm, daß Alec dicht hinter meiner Schulter wartete. Dorothy tauchte ihren Löffel höchstens zweimal in die Suppe, doch das schien ihr zu genügen.
Es folgte ein kleiner Salat, zu dem hauchdünne Scheiben Toast serviert wurden, so dünn, daß sie mir zwischen den Fingern zerbröselten.
Das Hauptgericht bestand aus Kalbsmedaillons in einer Zitronensauce mit grünen Bohnen und Kartoffelpüree als Beilage. Gewürze verliehen dem Püree eine Geschmacksnote, die ich nicht identifizieren konnte. Es schmeckte alles absolut köstlich, doch mir entging nicht, daß Dorothy mich beim Essen beobachtete, und ihre Warnung, nicht zuviel zu essen, fiel mir wieder ein. Ich legte mein Besteck auf den Teller, obwohl ich noch mehr hätte essen können.
Philip sagte kaum etwas, aber er interessierte sich für meine Schilderung des Hummerfangs und der geschäftlichen Seite dieses Erwerbszweigs sowie für die Touristikbranche in Cape Cod. Er sagte, einige seiner Klienten zeigten Interesse daran, in eine Hotelkette auf dem Cape zu investieren, aber er hielte nicht viel davon.
Das Abendessen wurde mit Kaffee in einem silbernen Service und mit einer Vanillespeise abgerundet. Das Essen hatte ganz ausgezeichnet geschmeckt, und das sagte ich auch, als ich mich bei den beiden bedankte.
»Vielleicht sollten wir Selena bitten, morgen abend Melody zu Ehren Hummer zuzubereiten, Philip«, sagte Dorothy, als die Mahlzeit ihrem Ende nahte.
»Hummer ist derzeit hoffnungslos überteuert«, murrte er.
Wie konnte sich jemand, der soviel Geld hatte, über die Hummerpreise aufregen? fragte ich mich.
»Ach, Unsinn«, sagte Dorothy.
»Wenn ich etwas esse, wovon ich ganz genau weiß, daß es überteuert ist, dann schmeckt es mir nicht mehr«, beharrte er.
»Meinetwegen ist das wirklich nicht nötig, Dorothy.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Philip. »Auf dem Cape bekommt sie spottbilligen Hummer, und so gut wie dort ist er hier ohnehin nicht. Laß dir etwas anderes einfallen«, sagte er zu Dorothy. »Ich habe noch ein paar Arbeiten in meinem Büro zu erledigen«, erklärte er, als er sich erhob. Mir fiel auf, daß er nicht ganz so groß war wie Dorothy. »Es war nett, dich kennenzulernen«, sagte er abschließend und nickte mir zu, ehe er ging.
»Philip ist der praktischste Mann, der mir je begegnet ist«, sagte Dorothy kopfschüttelnd. »Und so geschäftstüchtig. Einmal im Monat überprüft er die Haushaltsbücher und macht brillante Vorschläge, wie sich Geld einsparen läßt. Er sagt, wenn er das für seine Klienten ohnehin tut, warum kann er es dann nicht auch für sich selbst tun? Vermutlich ist das wahr. Möchtest du dir vielleicht etwas zum Lesen suchen? Du kannst unsere Bibliothek benutzen. Ich bemühe mich ständig, auf dem laufenden zu bleiben. Ich bin Mitglied in drei Buchclubs.«
»Als erstes würde ich gern versuchen, Gina Simon anzurufen«, erklärte ich.
»Ja, sicher. Tja, wenn das so ist, warum benutzt du dann nicht den Anschluß im Salon? Dort bist du ungestört«, schlug sie vor.
»Danke«, sagte ich und versuchte, mich daran zu erinnern, wo sich in diesem großen Haus der Salon befand. Sie mußte mir diese Überlegung im Gesicht angesehen haben.
»Du gehst einfach nur durch die Eingangshalle zur dritten Tür links, Liebes. Auf der Ablage des kleinen Tischchens liegt ein Telefonbuch.«
»Danke.«
»Nichts zu danken. Ich komme dann später nach, und wenn du Lust hast, können wir ins Fernsehzimmer gehen und uns etwas ansehen. Heute abend läuft Desperate Lives. Verfolgst du diese Serie? Philip sagt, es sei nichts weiter als eine Soap, aber es steckt soviel mehr dahinter, soviel ... mehr«, sagte sie.
»Nein, ich habe noch nichts davon gehört«, sagte ich.
»Du hast noch nichts davon gehört? Ach du meine Güte. Nun, vielleicht gefällt es dir ja«, sagte sie, und ich ging in den Salon. Ich fand das Telefonbuch und stieß dort auf drei Gina Simons, doch die Adresse gab mir Aufschluß darüber, welche die richtige war. Meine Finger zitterten wieder, als ich den Hörer abnahm. Es war ein antikes Messingtelefon mit einer Wählscheibe aus Elfenbein, und beim ersten Anlauf verwählte ich mich und bekam KEIN ANSCHLUSS UNTER DIESER NUMMER.
Beim nächsten Mal wählte ich die richtige Nummer, aber schon nach dem dritten Läuten schaltete sich ein Anrufbeantworter an.
»Hier spricht Gina Simon. Es tut mir leid, daß ich diesen Anruf nicht persönlich entgegennehmen kann. Hinterlassen Sie bitte nach dem Piepton Ihren Namen, den Zeitpunkt Ihres Anrufs und eine kurze Nachricht«, forderte mich die Stimme auf. Ich hörte ganz genau hin. Es klang so, als sei es Mommy, aber ich nahm auch eine Affektiertheit wahr, die ich nicht an ihr kannte, als achtete sie übertrieben genau auf ihre Aussprache. Ich wartete und rief dann noch einmal an, einfach nur, um die Stimme zu hören. Es klingt so, als sei sie es, sagte ich mir. Das muß Mommy sein.
Dorothy betrat mit einem kleinen Angorakätzchen auf dem Arm den Salon.
»Das ist Fluffy«, sagte sie. »Ist sie nicht wunderschön?«
»Oh, doch, das ist sie.«
»Philip läßt nicht zu, daß ich sie ganz normal im Haus halte. Sie ist in den hinteren Räumen bei Selena untergebracht. Er sagt, jedesmal, wenn ich ihr erlaube, frei im Haus herumzulaufen, verliert sie überall Haare. Er ist so pingelig, wenn es um das Haus geht. Wenn auch nur ein Staubflöckchen herumliegt, merkt Philip es sofort.«
Sie seufzte und setzte sich auf den weich gepolsterten Sessel, der mir gegenüber stand. Das Kätzchen schnurrte auf ihrem Schoß.
»Hast du schon versucht, diese Frau anzurufen?«
»Ich habe nur einen Anrufbeantworter erreicht«, sagte ich. »Die Stimme klingt ganz nach meiner Mutter.«
»Hast du eine Nachricht hinterlassen?«
»Nein. Ich wußte nicht recht, was ich sagen soll.«
»Es kann sein, daß sie da war und zugehört hat«, sagte Dorothy mit einem Nicken. »Das ist hier recht üblich. Die Leute warten, um zu sehen, ob es ein wichtiger Anruf ist, ehe sie selbst rangehen. Wenn ihnen der Anrufer nicht wichtig genug ist, lassen die den Anrufbeantworter die Nachricht entgegennehmen. Philip sagt, das ist eines dieser Machtspiele.«
»Machtspiele?«
»Ja, man spricht nicht mit jedem. Damit würde man der eigenen Wichtigkeit Abbruch tun.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß meine Mutter so denkt.«
»Wenn diese Frau es in der Filmbranche zu etwas bringen will, dann benimmt sie sich ganz genau so wie alle anderen und hält sich an die Spielregeln, das kannst du mir glauben. Mir sind genug Leute von der Sorte begegnet.«
Ich dachte darüber nach. Was hatte Billy Maxwell zum Abschied zu mir gesagt, ehe ich New York verlassen hatte .. . ich müsse darauf vorbereitet sein, eine ganz andere Frau anzutreffen, selbst wenn es meine Mutter war. Vielleicht war das nur zu wahr.
»Ich wünschte, die Welt, in der wir leben, würde nicht ganz soviel Wert auf jede Kleinigkeit legen«, sagte Dorothy mit verträumtem Blick, während sie die Katze tätschelte, die schnurrend auf ihrem Schoß lag. »Philip will, daß ich perfekt bin und perfekt bleibe. Wenn sich auch nur ein einziges Haar aus meiner Frisur löst, fragt er mich, warum ich diese Woche nicht im Schönheitssalon war«, sagte sie etwas kläglicher, als ich es von ihr erwartet hätte.
»So kommt er mir gar nicht vor«, sagte ich zu ihr. Sie riß sich abrupt aus ihrer Träumerei heraus und zog die Augenbrauen hoch.
»Er ist schließlich ein Mann, oder etwa nicht? Die sind doch alle gleich. Sie nehmen einen gründlich unter die Lupe, halten Ausschau nach Falten und Altersflecken, messen ständig deinen Busen, deine Taille, deine Hüften und suchen nach ein paar Gramm unappetitlichen Fettes.«
»Ich habe einen privaten Trainer«, fuhr sie fort, »der dreimal wöchentlich ins Haus kommt. Es langweilt mich schrecklich, aber um Philips willen lasse ich es über mich ergehen. Und vermutlich tue ich es auch für mich selbst«, sagte sie seufzend. »Eine Frau muß eben tun, was sie kann, oder etwa nicht?« fügte sie hinzu.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich nehme an, ich habe mir noch nie ernsthafte Gedanken darüber gemacht«, sagte ich.
»Natürlich nicht. Du bist noch jung und schön. Vor dir liegen noch etliche gute Jahre, aber glaube mir, der Tag wird kommen, an dem du morgens aufwachst, in den Spiegel schaust und ein kleines Fältchen hier und eine leichte Schwellung da entdeckst, und dann wird dir klar, daß es dich von dem Moment an einige Arbeit kosten wird, schön auszusehen.«
»Wenn man klug genug ist«, fuhr sie fort, »läßt man sich natürlich nicht mit irgend jemandem ein, sondern heiratet einen vermögenden Mann, wie ich es auch getan habe, damit du dir auf dem Sektor der Schönheitschirurgie das Beste vom Besten leisten kannst.«
»Chirurgie?«
»Sitz bloß nicht da und schmeichle mir. Du willst doch nicht etwa behaupten, dir sei noch nicht aufgefallen, wie stramm mein Hintern für eine Frau in meinem Alter ist, und du seist nicht auf den Gedanken gekommen, daß ich wohl etwas damit habe machen lassen«, sagte sie lächelnd.
»Es ist mir wirklich nicht aufgefallen, aber ...« Sie hatte sich einer Operation an ihrem Hinterteil unterzogen?
»Da gehört auch nicht mehr dazu als zum Entfernen von Bauchspeck, du weißt schon, diese Röllchen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich mir das schon habe machen lassen. Ja, und natürlich um die Augen herum. Manche Leute haben ja ein solches Glück. Sie werden mit Genen geboren, die ihnen dabei helfen, länger jung auszusehen. Philips Mutter beispielsweise hatte noch mit Ende Siebzig kaum eine Falte, und du brauchst dir Philip doch nur anzusehen. Aber bei Männern ist das schließlich etwas ganz anderes. Die dürfen Falten haben. Das verleiht ihnen ein distinguiertes Aussehen, aber wir Frauen ...«
»Glaubst du etwa«, sagte sie, und ihr Gesicht wurde etwas lebhafter, »unsere sexuelle Beziehung wäre so stark, wenn ich nichts dafür täte, weiterhin attraktiv zu bleiben? In der letzten Ausgabe von Venus ist ein Artikel darüber. Wissenschaftliche Studien belegen, daß eine Beziehung nur dann erfolgreich ist, wenn ein Mann durchschnittlich fünfmal im Monat mit seiner Frau schläft, sogar in unserem Alter. Ich habe Philip von dem Artikel erzählt, und er hat gesagt, seine eigenen Beobachtungen wiesen auf vier bis sechsmal hin. Wir streichen es im Kalender an. Wahrscheinlich ist er dir an der Wand neben unserem Bett aufgefallen. Philip weiß Ordnung in seinem Leben zu schätzen.«
»Oh ja, ich weiß durchaus, was Männer tun, wenn sie mit häßlichen Frauen verheiratet sind«, fuhr sie fort, ohne darauf zu achten, daß mein Mund sperrangelweit offenstand. »Vor allem hier in dieser Stadt.« Sie nickte. »Eine Frau muß an ihrer Beziehung arbeiten. Darin besteht ihre Aufgabe. Und es macht mir gar nichts aus, dir zu versichern, daß ich in der Hinsicht sehr erfolgreich bin.«
»Du hast ja selbst gesehen, wie mich die jungen Kellner im ›Vine‹ angeschaut haben«, sagte sie lächelnd und zwinkerte mir zu. »Sie haben keine Ahnung, wie alt ich bin, und sie werden es auch nie erfahren«, fügte sie mit fester Stimme hinzu. »Man hütet das Geheimnis seines Alters mit derselben Sorgfalt, mit der man über sein Leben wacht. Nenne einem Mann niemals dein wahres Alter. Du mußt mindestens fünf bis sieben Jahre abziehen«, riet sie mir.
»Nein, so was«, sagte sie plötzlich und stand auf. »Desperate Lives hat schon begonnen. Mach schnell«, forderte sie mich auf und trippelte eilig aus dem Salon.
Ich blieb noch einen Moment sitzen und bemühte mich, die Dinge zu verdauen, die sie gesagt hatte. Es hatte etwas von dem Versuch, Speisen zu verdauen, die bei weitem zu scharf gewürzt sind. Die Worte wiederholten sich unermüdlich.
»Komm endlich rüber, Liebes!« rief sie.
Ich stand auf und holte sie im Korridor ein. Sie ging mir ins Fernsehzimmer voraus und schaltete das Gerät ein. Dann ließ sie sich auf ihren prallgefüllten Sessel plumpsen, zog die Füße unter sich an und sah so gebannt auf den Bildschirm wie ein Teenager, der jeden Moment sein jugendliches Idol sehen wird. Ich setzte mich auf das Sofa neben ihr und lauschte ihrem leisen Seufzen und Stöhnen, während ein gutaussehender junger Mann nach dem anderen vor unseren Augen über den riesigen Bildschirm stolzierte.
Die Ermattung stieg jedoch in meinem Körper auf wie Quecksilber in einem Thermometer. Ich spürte, wie meine Lider schwerer und immer schwerer wurden, und ein paarmal nickte ich ein und wurde immer wieder davon wach, daß sie dem Fernseher etwas zurief oder sich über Dinge beklagte, die eine der Personen sagte oder tat, ganz so, als glaubte sie, sie könnten sie tatsächlich hören.
»Da kann man doch glatt aus der Haut fahren«, jammerte sie und wandte sich zu mir um. Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte, worüber sie sich so sehr aufregte. »Und außerdem hasse ich es, wenn sie einen derart in der Luft hängenlassen. Aber«, sagte sie und lächelte plötzlich, als sich ihre Stimmung radikal ins Gegenteil verkehrte, »wie Philip so richtig sagt, ist es genau das, womit sie einen dazu bringen daß man sich Abend für Abend wieder einschaltet, und nur auf die Art können sie all diese Produkte verkaufen. Du wirkst müde, meine Liebe. Vielleicht solltest du jetzt besser ins Bett gehen. Ich weiß, daß es schon spät für dich ist.«
»Ja, ich vermute, jetzt hat mich endlich alles eingeholt«, sagte ich und stand auf. »Vielen Dank für alles.«
»Unsinn. Morgen fahren wir gleich nach dem Frühstück zum Rodeo Drive und besorgen dir etwas Anständiges zum Anziehen. Sag bloß nichts«, warnte sie mich mit erhobener Hand, um meine Einwände zu unterbinden, »was mich zwingt, taub zu werden. Philip und ich haben keine Kinder. Mir hat die Vorstellung, schwanger zu sein, nie sonderlich zugesagt, und Philip kann kleine Menschen sowieso nicht besonders gut ertragen. Aber es macht uns beiden Spaß, ab und zu etwas für junge Leute zu tun. Vorausgesetzt, sie haben es verdient, was auf dich natürlich zutrifft.« Sie lächelte. »Ich wünsche dir eine gute Nacht. Und schlaf gut.«
»Danke«, sagte ich noch einmal, denn ich war ohnehin zu müde für eine Auseinandersetzung. Dann ging ich nach oben und stieg die Stufen hinauf, als wandelte ich bereits im Schlaf. Ehe ich die Lichter ausschaltete und unter die Decke kroch, nahm ich trotz meiner Erschöpfung noch einmal den Telefonhörer ab und wählte Gina Simons Nummer. Es läutete und läutete, bis der Anrufbeantworter sich wieder einschaltete, und wieder lauschte ich gespannt ihrer Stimme. Ich wurde von Mal zu Mal zuversichtlicher, daß sie wie Mommys Stimme klang. Oder konnte es sein, daß ich mir das nur wünschte?
Und warum ging sie nicht ans Telefon? War sie etwa fortgefahren? Vielleicht würde es Tage oder sogar Wochen dauern, bis ich ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Ich ließ meinen Kopf auf das Kissen sinken und schloß die Augen. Ich war dankbar dafür, daß ich zu müde war, um mir noch länger Gedanken zu machen, und doch sah ich besorgt den Dingen entgegen, die der morgige Tag bringen würde.