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KAPITEL 4

Alles, was ich je gewusst habe

Ich warf Beni einen Blick zu: Sie schaute völlig verwirrt drein, der Mund stand ihr offen, als schreie sie gerade. Mama sah aus, als stünde sie in Flammen. Ihr Gesicht war so von Schmerz erfüllt. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich taub geworden. All die üblichen Geräusche um mich herum waren verstummt. Ich hörte keine Schritte, keine Rufe aus dem Flur, keine klirrenden Rohre oder jaulenden Sirenen unten von der Straße. Ich nahm nur das Rauschen meines Blutes wahr, als es mir plötzlich aus dem Gesicht den Hals hinunterströmte.

Ohne ein Wort drehte ich mich um, rannte aus dem Wohnzimmer und dann zur Wohnungstür hinaus.

»Rain!«, rief Mama, aber die Tür dämpfte ihre Stimme, ich stürmte die Treppe hinunter, mein ganzer Körper erbebte mit jedem Schritt.

Ich erinnerte mich nicht einmal daran, das Gebäude verlassen zu haben. Gerade noch stand ich da und starrte Mama und Beni an, und im nächsten Augenblick befand ich mich auf der Straße, ging so schnell, dass ich fast rannte. Ich hörte oder sah nichts oder niemanden, einschließlich der Autos. Hupen erklangen, Leute schrien mich an, als ich die Straße bei Rot überquerte. Die Bremsen eines Autos kreischten so schrill und so laut, dass mir die Ohren wehtaten. Dennoch hastete ich immer weiter, als wüsste ich, wohin ich gehe. Tränen strömten mir über das Gesicht und tropften mir vom Kinn. In der Brust war es mir so eng, als würde sie explodieren, aber ich blieb nicht stehen, obwohl die Welt vor mir und um mich herum völlig verschwamm.

Latisha Arnold war nicht meine leibliche Mutter? Die Frau, die ich mein ganzes leben lang Mama genannt hatte, war nicht Teil von mir und ich war nicht Teil von ihr? Wer war meine wirkliche Mutter? War Ken immer noch mein leiblicher Vater? Noch wichtiger, wer war ich? Ken hatte mich ein weißes Mädchen genannt. Wie konnte das sein? Was meinte er damit?

Plötzlich, in einem Augenblick zerplatzte alles um mich herum, mein Name, meine Familie, meine ganze Geschichte, wie Seifenblasen. Die ganze Welt war auf den Kopf gestellt, unter mir weggezogen worden. Ich hatte das Gefühl, in der Luft zu baumeln.

Ich blieb stehen, um mich im Schaufenster eines Schuhgeschäftes zu betrachten. Das Spiegelbild, das ich sah, war wie das Bild einer Fremden. Mein Haar stand wild ab, meine Augen waren von Panik erfüllt. Ich musste lachen, ein irres Lachen. Ich legte die Hand auf den Mund, um es zu unterdrücken, dann fing ich wieder an zu weinen und ging weiter, immer schneller. Vage wurde mir bewusst, dass Leute mich anstarrten, auch Leute, die mich kannten. Heiße Tränen liefen mir im Zickzack die Wangen hinunter und brannten einen Pfad auf meine Haut. Nach weiteren zehn Minuten schlang ich fest die Arme um mich und blieb stehen. Endlich spürte ich den Schmerz in Beinen und Magen. Einen Augenblick lang stand ich da an der Straßenecke und schaute auf den Park direkt vor mir.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich viele Blocks weit gegangen war. Ich befand mich in einem viel schöneren Teil der Stadt, einer Gegend mit kleinen Häusern, Stadthäusern, in denen Mittelschichtfamilien wohnten. Ihre Kinder waren im Park und spielten zwischen Wippen und Rutschen. In der Nähe saßen Mütter und Kindermädchen. Man hörte ein ständiges Lachen und Schreien der kleinen Jungen und Mädchen, eine unterschwellige Strömung von Musik, als ob Glück ein Lied wäre, das nur hier gesungen würde.

Ich warf einen prüfenden Blick auf den Verkehr und überquerte die Straße. Dort stand ich am Zaun und schaute zu diesen zufriedenen Kindern hinein. Ein kleines Mädchen weinte, ihre Mutter hatte sich neben es gekniet, um es zu trösten. Sie wischte ihm eine Strähne hellbraunes Haar aus der Stirn. Was sie sagte, die Sanftheit ihrer Stimme, die Liebe, die aus ihrem Blick und ihrem Lächeln strömte, vertrieb den Kummer rasch. Sie umarmten einander, und das getröstete Kind kehrte zum Karussell zurück. Es lachte und bewegte sich, als ob nichts Trauriges oder Schreckliches passiert sei oder je geschehen würde.

Mama hatte sich auch so um mich gekümmert, dachte ich. Sie hatte mir die Tränen weggewischt, mein Herz mit Hoffnung erfüllt, mich in den Schlaf gesungen und mir zu süßen Träumen verholfen. Sie hatte mir nicht ein einziges Mal das Gefühl gegeben, nicht meine wirkliche Mutter zu sein. Wie hatte sie das gemacht? Warum hatte sie das getan?

Was Beni immer sagte, stimmte. Oft hatte ich das Gefühl, dass Mama sich mehr aus mir machte als aus Beni. Wie musste Beni mich jetzt umso mehr hassen, jetzt wo sie wusste, dass ich nicht einmal Mamas leibliche Tochter war und Mama mich dennoch mit mehr Liebe und Fürsorge behandelte. Es war alles so verwirrend und so unfair.

Ein Junge, der nicht älter war als neun oder zehn, jagte hinter einem roten Ball her, der in der Nähe des Zaunes liegen blieb. Er hob ihn auf und schaute neugierig zu mir hoch.

»Hallo«, sagte ich.

Er lächelte mich mit den strahlendsten und lustigsten himmelblauen Augen an, die ich jemals gesehen hatte.

»Hallo«, erwiderte er, und sein Lächeln wurde noch breiter.

Er drehte sich um und rannte weg; seine Beine bewegten sich so schnell und linkisch, dass sie aussahen wie mit Gummibändern aufgezogen. Er schaute sich um und warf mir ein weiteres strahlendes Lächeln zu. War ich je so glücklich gewesen? Würde ich es je wieder sein?

Ich ging weiter. Die Nachmittagssonne war hinter den Häusern verschwunden, lange tiefe Schatten ergossen sich über Bürgersteige und Straßen wie Ahornsirup auf Pfannkuchen. In Wohnungen und Häusern gingen Lichter an. Familien setzten sich zum Abendessen hin. Ich dachte an die Schweinekoteletts, die ich auf kleiner Flamme stehen gelassen hatte, und einen Augenblick fragte ich mich, ob alles, was geschehen war, nur ein Traum gewesen war. Brauchte ich nur zu blinzeln und würde wieder vor dem Herd stehen? Ich würde sogar unser hartes Leben willkommen heißen.

Erschöpft setzte ich mich an einer Bushaltestelle auf eine Bank. Zwei ältere schwarze Ladys waren eingetroffen und setzten sich neben mich, um zu warten. Ich hörte nicht zu bei ihrer Unterhaltung, bekam aber Gesprächsfetzen mit über Enkelkinder und die Vorfreude auf die Feiertage. Ohne eine Familie gab es keine Feiertage. Es gab kein Weihnachten, keine Geschenke, die man erhielt, keine Geschenke, die man verschenkte, kein Thanksgiving.

Ich musste wohl laut gestöhnt haben, denn die beiden alten Ladys drehten sich um und starrten mich an.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Kleine?«, fragte diejenige, die neben mir saß.

Ich antwortete nicht. Der Bus kam, und sie standen auf, dabei starrten sie neugierig zu mir herüber, als ich nicht auch aufstand. Sie stiegen ein und der Bus fuhr ab. Es wurde dunkler und kälter. Ich schlang die Arme um mich, als ich spürte, wie ich zitterte. Der Verkehr floss vorüber, Menschen gingen vor und hinter mir vorbei, aber ich bemerkte nichts. Ich starrte vor mich hin, meine Gedanken waren wie erstarrt.

Schließlich erhob ich mich und ging einfach, ohne an eine Richtung, an ein Ziel zu denken. Ich hielt den Kopf gesenkt, bemerkte aber vage, wie ein Auto voller Jungen das Tempo verringerte, vorüberfuhr, anhielt und umdrehte. Es war ein heruntergekommenes Fahrzeug mit zertrümmerter Heckscheibe. Es sah aus wie die Sorte Auto, die Roy Lazarus nannte – auferstanden von den Toten. Als es diesmal vorbeifuhr, schauten alle Jungen zu mir herüber. Der Fahrer pfiff, und darauf johlten die anderen. Ich ignorierte sie und bog in eine andere Straße ein.

Sie folgten mir jedoch und fuhren ganz langsam direkt hinter mir, lauerten wie eine große Katze auf dem Sprung. Mein Herz fing heftig an zu klopfen, als ich mich schließlich umschaute und bemerkte, dass ich in einer heruntergekommenen Gegend gelandet war. Ich hatte eine Art Kreis geschlagen und war wieder in meinem eigenen Viertel gelandet. Ich wusste, dass ich mich dadurch in Gefahr gebracht hatte, und hatte große Angst. Aber statt an mich selbst zu denken, dachte ich an Mama und welche Angst sie um mich haben musste.

Aber ich war auch wütend. Sie hätte mir schon lange die Wahrheit sagen müssen. Mein ganzes Leben war eine Lüge, und Mama hasste Lügen. Warum hatte sie diese so lange aufrechterhalten? Hätte sie mir je die Wahrheit gesagt, wenn Ken nicht in einem seiner betrunkenen Wutanfälle damit herausgeplatzt wäre?

»He, Baby, sollen wir dich mitnehmen?«, rief der Fahrer des zerbeulten Autos mir zu.

Ich ging schneller, kam aber meinem Zuhause immer noch nicht näher. In meiner Panik musste ich falsch abgebogen sein. Anscheinend war hier weniger Verkehr, und praktisch niemand befand sich auf der Straße. Die Dunkelheit senkte sich wie ein Bleivorhang herab, die Bewohner beeilten sich, um hinter ihre verschlossenen Türen zu gelangen.

»Sei doch nicht schüchtern«, rief einer der Jungen.

Das Auto kam noch näher und fuhr jetzt neben mir her. Ich warf einen Blick darauf und sah, dass vier Jungen darin saßen. Sie sahen aus wie Mitglieder einer Straßengang. Das Auto überholte mich. Ich dachte, sie wollten mich in Ruhe lassen, aber es hielt an, einer der Jungen hinten stieg aus und hielt mir die Tür auf.

»Steig ein, Schätzchen«, sagte er. »Deine Limousine ist vorgefahren.«

Ich blieb stehen.

»Lasst mich in Ruhe!«, schrie ich. »Wir wollen dir doch nur helfen.«

»Ich will eure Hilfe nicht«, sagte ich.

Das Auto fuhr rückwärts auf mich zu, der Junge ging neben der geöffneten Tür her. Ich drehte mich um und ging schneller in die Richtung, aus der ich gekommen war.

»He, wo gehst du hin? Das ist aber nicht besonders höflich«, rief der Junge hinter mir her.

Ich hörte die Reifen quietschen und die Tür zuschlagen, als der Wagen herumschleuderte. Ich schaute mich um und sah, dass sie mir folgen wollten. Ich fing an zu laufen, war mir aber unsicher wohin. Jede Seitenstraße wirkte noch dunkler und heruntergekommener als die Straße, auf der ich mich befand. In wenigen Augenblicken waren sie wieder neben mir. Ich schaute mich erneut um und sah, dass das Auto hinter mir herjagte und näher kam. Nach Luft schnappend, rannte ich schneller und schaute nicht einmal, wo ich hinlief, bis ich gegen jemanden stieß. Er verhinderte, dass ich hinfiel, hielt mich aber fest. Mein einziger Gedanke war, dass ich in eine Falle getappt war.

Ich schaute hoch in das Gesicht eines älteren Schwarzen, der noch sehr stark und kräftig wirkte. Er hatte breite Schultern und einen dicken Hals, aber sein Haar war schlohweiß und dünn und stand wild ab. Er trug ein Flanellhemd, das er hochgekrempelt hatte, Jeans und alte Turnschuhe. Über der Schulter hing ein Sack, den er schnell absetzte.

»Wow«, meinte er. »Wenn du so schnell rennst, wirfst du noch ein ganzes Gebäude über den Haufen.«

Die Jungen in dem Auto starrten uns aus den Fenstern an.

»Sie ist zu jung für dich, Pop. Überlass sie uns«, forderte der Fahrer ihn auf.

»Verschwindet hier, verdammt noch mal«, schimpfte der alte Mann.

»Was willst du denn machen, die Polizei holen?«, hänselte ihn einer der Jungen.

Alle lachten. Der ältere Mann ließ mich los. Ich dachte, er würde weggehen und mich im Stich lassen, aber stattdessen griff er in seinen Sack, fummelte darin herum, und als er die Hand wieder herauszog, hielt er einen Revolver umklammert. Ich stand nahe genug bei ihm, um zu sehen, wie alt und verrostet er war, aber die Jungen konnten das nicht erkennen. Er zielte auf sie.

»Oh Gott!«

»Immer mit der Ruhe, Pop. Ziel doch woanders hin.«

»Verschwindet ihr woanders hin«, befahl er und spannte den Hahn.

Der Fahrer trat das Gaspedal durch, und das Auto schoss davon. Wir beobachteten, wie es um die Ecke bog und verschwand.

»Danke«, sagte ich.

Er schaute mich missbilligend an und schüttelte den Kopf. »Was denkst du dir dabei, hier alleine herumzulaufen, Mädchen?«, fragte er mich. »Suchst du Ärger, oder was?«

»Nein, Sir, ich habe mich verlaufen«, sagte ich.

»Das ist nicht die richtige Gegend, um sich zu verlaufen.« Er schaute wieder die Straße hinunter. Mein Herz klopfte immer noch wie wild. Warteten sie hinter der Ecke auf mich? Er dachte vermutlich das Gleiche, denn als er mich wieder anschaute, war sein Gesichtsausdruck weicher, freundlicher.

»Komm mit«, sagte er. »Ich wohne in der Kellerwohnung da drüben. Hast du Geld für ein Taxi?«

»Nein, Sir«, sagte ich.

»Ich habe ein Telefon. Hast du jemanden, den du anrufen kannst, um dich abzuholen?«

»Ja, Sir«, sagte ich.

Er lächelte.

»Dann los«, sagte er und nickte. »Direkt hinter dem nächsten Gebäude. Siehst du die Treppe nach unten? Das ist meine Wohnung«, erzählte er mir und steckte seinen alten Revolver zurück in den Sack. Er hob ihn auf die Schulter und wartete. Ich konnte nicht anders, ich hatte Angst.

»Du willst doch nicht weiter hier herumlaufen, Fräuleinchen«, sagte er. »Außerdem wird es kalt. Ich möchte auch gerne nach Hause, so klein es auch ist«, sagte er.

Ich nickte ihm zu und folgte ihm. Dabei schaute ich mich einmal um, um sicherzugehen, dass die Jungen verschwunden waren.

Was er seine Kellerwohnung nannte, war kaum größer als Benis und mein Zimmer. Auf der rechten Seite befanden sich eine kleine Nische mit einem Spülbecken, eine Herdplatte und ein kleiner Tisch. Auf dem Boden stand ein winziger Kühlschrank. Im Zimmer selbst gab es ein altes Sofa, einen Sessel, einen abgestoßenen Holztisch, eine Stehlampe und einen ovalen Teppich mit Löchern.

»Das Badezimmer ist da drüben«, erklärte er und nickte zu einer schmalen Tür rechts.

»Danke«, sagte ich.

Er grunzte.

Wo schlief er, fragte ich mich. Und dann kam mir der Gedanke, dass es sein Ausziehsofa sein könnte.

»Da ist das Telefon«, sagte er nickend.

Zuerst sah ich es nicht. Dann fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Unter dem Tisch stand ein Spielzeugtelefon! »Das ist kein richtiges Telefon«, gab ich leise zu bedenken. Er schaute erst mich und dann das Telefon an. »Aber sicher ist es das. Mein Junge ruft mich einmal in der Woche auf dem Telefon an«, teilte er mir mit. »Nur zu, benutz es.«

Ich stand da und wusste nicht, was ich tun sollte. Er ging in die provisorische Küche und begann seinen Sack auszuladen. Er holte Chipstüten heraus, in denen noch ein paar Chips übrig geblieben waren, Dosen, einige alte verrostete Werkzeuge, ein gesprungenes Glas und leere Bierflaschen. Offensichtlich hatte er in Mülltonnen nach Nahrung gesucht. Er behandelte alles, als sei es Gold. Schließlich legte er den alten Revolver auf den Tisch und schaute mich wieder an.

»Hast du angerufen?«

»Ja, Sir«, antwortete ich.

»Gut. Ich kann uns einen Tee machen. Heute habe ich keinen Kaffee bekommen«, entschuldigte er sich.

»Das ist schon gut. Danke«, sagte ich und wich langsam in Richtung Tür zurück.

»Ich habe einen Fernseher«, sagte er und langte hinter das Sofa, wo er ein altes kleines Schwarzweiß-Gerät hervorzog. Er stellte es auf den Tisch und machte es an. Dann spielte er an den Knöpfen, bis er Bild und Ton bekam. »Du kannst dich aufs Sofa setzen und warten und fernsehen, wenn du willst«, sagte er.

»Danke, aber ich sagte, ich würde draußen warten.«

»Es wird kalt draußen.«

»So kalt ist es gar nicht«, sagte ich und wich zur Tür zurück. »Der Frühling kommt doch.«

»Ja, und die Kirschblüten«, bestätigte er lächelnd. »Mein Sohn sollte bald anrufen«, fügte er plötzlich hinzu. Er saß auf dem Sofa und starrte geradeaus.

»Wo ist Ihr Sohn?«

»Oh, er lebt oben in Rochester, New York«, sagte er. »Er ist Geschäftsführer in einem Restaurant.«

»Das ist schön. Was machen Sie?«, fragte ich.

»Ich? Ich bin im Ruhestand. Ich war hier der Wartungsmonteur. Jetzt bin ich … im Ruhestand. Ich würde mit hinauskommen und mit dir warten«, sagte er, »aber ich muss auf den Anruf meines Sohnes warten. Bleib in der Nähe und komm zurück, wenn diese Hooligans dich belästigen, okay, Fräuleinchen?«

»Danke.« Ich öffnete die Tür. »Oh, Entschuldigung«, sagte ich. »Wie heißen Sie?«

»Ich bin Norris Patton«, stellte er sich vor. »Ich war ein Halbschwergewichtschampion, als ich in der Armee war.« Er zeigte mir seine geschlossene Faust. »Sie nannten mich immer den Vorschlaghammer.« Er lachte, und ich sah, dass ihm hinten im Mund eine ganze Reihe Zähne fehlten.

»Danke, dass Sie mir geholfen haben, Mr Patton«, sagte ich.

»Aber gerne«, sagte er, und sein Gesicht verzog sich zu einem strahlenden Lächeln großer Freude. »Das ist er«, sagte er und griff unter den Tisch nach dem Spielzeugtelefon.

Ich beobachtete ihn einen Moment und trat dann auf die Straße hinaus. Würde das auch mein Schicksal sein, fragte ich mich. Würde auch ich mir einfach eine Familie vorstellen, jetzt da ich keine richtige mehr hatte?

Ich hatte eine allgemeine Vorstellung davon, in welche Richtung ich gehen musste, aber jetzt, wo es richtig dunkel war, war ich viel ängstlicher. Als ich mich der Ecke näherte, sah ich jedoch ein vertrautes Fahrzeug in die Straße einbiegen, das sehr langsam fuhr. Eine Straßenlaterne beleuchtete die Aufschrift auf der Beifahrertür. Dort stand Slim’s Garage. Roy saß am Steuer. Sobald er mich sah, gab er Gas und fuhr rechts heran. Er sprang heraus und rannte schnell vorne herum.

»Rain, Gott sei Dank habe ich dich gefunden. Warum zum Teufel bist du weggerannt? Mama ist so in Panik, dass sie sich hinlegen musste. Was tust du hier?«, fragte er und schaute sich um. »Das ist eine Gegend. Hm?« Er starrte mich an. Er war so wütend auf mich wie noch nie zuvor.

Ich war so froh, ihn zu sehen, aber ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. »Weißt du denn nicht, warum ich weggerannt bin?«, fragte ich.

»Steig ein, Rain. Ich muss den Wagen zu Slim’s zurückbringen. Ich bin mit ihm losgefahren, sobald Mama anrief. Slim weiß es nicht einmal.«

»Siehst du, ich mache nur Ärger«, sagte ich, während ich zu dem Laster ging. Er öffnete die Tür und ich stieg ein.

»Du machst nie Ärger, Rain, aber das hättest du nicht tun sollen. Ich bin überall herumgefahren auf der Suche nach dir. Pete Williams meinte, er hätte gesehen, dass du in diese Richtung gegangen bist, also habe ich diese Gegend abgesucht. Mann, Rain, Mama ist völlig fertig.«

»Ich auch«, sagte ich. »Sie hat mich all die Jahre belogen.«

Er sah mich an und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß darüber nicht mehr als du, Rain, aber Mama ist jemand, der nicht gerne lügt. Das weißt du. Das solltest du doch wissen«, sagte er. »Es gibt in der ganzen Stadt keine bessere Frau.«

»Weißt du denn nicht, was passiert ist?«

»Doch«, sagte er leise. »Beni hat es mir gesagt.« Ich schaute zu Boden.

»Sie ist nicht meine leibliche Mutter«, sagte ich leise.

»Das heißt doch nicht, dass sie dich nicht genauso liebt, wie es eine leibliche Mutter tun würde«, versicherte Roy.

»Es ist dennoch sehr schmerzlich, Roy. Vielleicht hätte ich es nie herausgefunden. Vielleicht hätte sie es mir nie erzählt.«

Er sagte nichts, sondern fuhr direkt zu The Projects.

»Du gehst einfach hinauf zu ihr, Rain. Ich muss Slims Laster zurückbringen, dann komme ich sofort nach Hause.«

Ich zögerte und starrte auf den Wohnblock.

»Das ist das einzige Zuhause, das du hast, Rain«, sagte Roy und nickte zu dem Gebäude hin, »und darin sind die einzigen Menschen, die dich lieben.«

Ich starrte ihn einen Augenblick an, die Augen waren glasig vor Tränen. Dann öffnete ich die Tür und sprang hinaus.

Er sah zu, wie ich zur Haustür ging, bevor er wieder abfuhr.

Beni saß als Einzige beim Abendessen. Sie stocherte in ihrem Essen herum und starrte zu mir hoch, als ich eintrat.

»Wo warst du?«

»Spazieren«, sagte ich.

»Spazieren?« Sie lächelte affektiert. »Mama weint. Sie wollte nichts essen und ist ins Bett gegangen.«

Ich stand da.

»Weshalb bist du wütend auf sie?«, wollte Beni wissen.

Ich schaute auf, meine Augen brannten vor Tränen der Wut.

»Man hätte es mir schon vor langem sagen müssen. Wie würde es dir denn gefallen, etwas über dich auf diese Weise zu erfahren?«, fragte ich.

Beni zuckte die Achseln. Dann starrte sie zornentbrannt zu mir hoch.

»Du hast also weißes Blut in dir. Das habe ich mir schon immer gedacht, Rain. Ich weiß auch nicht warum, aber das habe ich.«

»Das ändert doch nichts«, erwiderte ich scharf.

Sie grinste wieder blöde.

»Rain«, hörten wir. Mama rief mich. »Bist du das, Schätzchen?«

Ich schaute zu Beni, die mich mit solchem Abscheu anstarrte, dass ich wegschauen musste.

»Schätzchen«, murmelte sie.

»Ja, Mama.«

»Komm hierher, Liebling, bitte«, bettelte sie.

Ich betrat das Schlafzimmer. Mama hatte einen kalten nassen Waschlappen auf der Stirn. Im schwachen Licht der kleinen Tischlampe wirkte sie ausgezehrt. Ich fühlte ein Schaudern in meinem Herzen. Mama war zerbrechlicher, als irgendeiner von uns dachte. Schon zu lange mühte sie sich unter der Last dieser Familie ab.

Sie streckte die Hand nach mir aus, und ich ergriff sie.

»Das Letzte auf der Welt, was ich will, ist, dir wehzutun, Rain. Das war nie meine Absicht«, versicherte sie.

»Das weiß ich, Mama.«

Ich konnte nicht anders, als sie weiter Mama zu nennen. Ich kannte sie als niemand anders.

»Schon oft hätte ich dir fast davon erzählt, und manchmal glaubte ich, du hättest gemerkt, dass etwas anders war. Ganz zu schweigen von den hunderten Kleinigkeiten, die Ken in der Vergangenheit sagte und die deinen Verdacht hätten erwecken können. Ich warnte ihn, dass ich ihn umbringen würde, wenn er dir je wehtäte damit.

Das Seltsame war«, erzählte sie lächelnd, »dass ich ihm fast mit einer Bratpfanne über den Schädel geschlagen hätte, als er zum ersten Mal mit der Idee ankam, dich aufzunehmen. Wie sollten wir uns um das Kind eines anderen kümmern können, selbst für all das Geld?«

»Wie viel Geld war es, Mama?«, fragte ich.

»Warum willst du das wissen, Kind? Ken hat es irgendwie mit Trinken und Spielen verschleudert«, sagte sie.

»Wie viel?«, fragte ich energisch. Ich wollte wissen, was für einen Preis meine leibliche Mutter auf meinen Kopf ausgesetzt hatte. Sie schaute mich an. »Wie viel?«

»Es waren zwanzigtausend Dollar«, sagte sie. »Ich wollte etwas davon auf ein Sparkonto tun und es für dein College verwenden, aber Ken legte seine großen Pranken darauf, und bevor ich mich versah, war alles weg.«

»Erzählst du mir jetzt alles, Mama? Keine Lügen mehr«, fügte ich hinzu.

»Ich habe dich nicht belogen, Kind. Ich habe an dich immer nur als mein eigenes Kind gedacht und liebte dich so sehr, wie ich eine Tochter nur lieben konnte«, nahm Mama für sich in Anspruch.

»Über die Familie hast du gelogen, Mama. Du hast behauptet, ich käme nach den Großeltern. Du hast eine Menge Geschichten erfunden, Mama«, erinnerte ich sie.

Sie lächelte, statt schuldbewusst auszusehen.

»Ich wollte doch nur, dass du das Gefühl hast, dazuzugehören, Rain. Ich habe diese Geschichten so oft erzählt, dass ich sie am Ende selbst glaubte.«

»Jetzt ist es Zeit, die wahre Geschichte zu erzählen, Mama«, sagte ich.

Sie nickte, nahm den feuchten Lappen von der Stirn und setzte sich im Bett auf. Beni kam zur Tür und lehnte sich gegen den Rahmen.

»Ist das Rains Geheimnis?«, fragte sie, »oder habe ich ein Recht, das auch zu erfahren?«

»Das liegt bei Rain«, sagte Mama.

»Natürlich hast du ein Recht, es zu wissen, Beni. Du gehörst doch zu dieser Familie«, sagte ich ihr.

Sie kam weiter in das Zimmer. Mama schaute uns beide an, seufzte tief und fing an.

»Deine leibliche Mutter wurde schwanger mit dir, als sie aufs College ging. Sie war die Tochter reicher Leute, aber sie war aufsässig und nahm an Demonstrationen teil und kämpfte für die Bürgerrechtsbewegung. Dann geriet sie in Schwierigkeiten mit einem jungen Schwarzen – nein, Schätzchen, es war nicht Ken –, aber sie erzählte ihren Eltern nichts davon, bis es zu spät war, und es gab wohl ein ziemliches Theater.«

Sie hielt inne, und ich holte tief Luft. Ken war also nicht mein richtiger Vater. Ich konnte nicht anders, ich war erleichtert darüber. Ich hatte Angst, er hätte eine Affäre mit einem weißen Mädchen gehabt und mich einfach mit nach Hause gebracht und Mama gezwungen, mich als ihr eigenes Kind großzuziehen.

»Also, Ken arbeitete für ihren Vater, und der kam zu Ken und schlug vor, dass wir das Kind zu uns nehmen. Du solltest irgendwo heimlich zur Welt gebracht werden. Natürlich wurde Ken ganz aufgeregt bei der Vorstellung, so viel Geld zu bekommen, nur um ein weiteres Baby aufzunehmen. Was kümmerte es ihn denn schon? Er war sowieso nie viel zu Hause.«

»Du konntest einfach ein Baby aufnehmen und so tun, als sei es dein eigenes?«, fragte ich sie skeptisch.

»Ich war wütend und wollte erst nicht, aber Ken brachte dich eines Tages einfach mit nach Hause, und ich hatte nicht vor, ein Baby auf die Straße zu werfen, also kümmerte ich mich um dich. So war das. Es ist schon lange her, Rain. Ich schwöre dir, Rain, ich denke nicht einmal mehr daran. Wir lieben dich alle, Schätzchen. Ich hoffe nur, du kannst die Dinge akzeptieren, wie sie sind. Wir sind deine Familie«, sagte sie.

»Hat meine leibliche Mutter mich je besucht?«, fragte ich.

»Nein, Liebling. Wir haben nichts mehr von diesen Leuten gesehen, seit du hierher gebracht wurdest. Es kam nicht einmal ein Anruf«, sagte sie.

Mir wurde schlecht, als ich das hörte. Wie konnte jemand sein eigenes Baby so leicht weggeben und es für immer vergessen?

»Sie nahmen uns das Versprechen ab, uns niemals mit ihnen in Verbindung zu setzen«, erklärte Mama.

»Sie wollten dich nicht sehen, weil du einen schwarzen Vater hast«, stellte Beni schadenfroh fest.

»Sei still, Beni. Du streust ja Salz in ihre Wunden.«

»Warum beschützt du sie immer, Mama? Selbst jetzt machst du dir mehr Sorgen um ihre Gefühle als um deine eigenen. Mein Gott, Mama, sie hat dich im Stich gelassen. Sie hält dich für eine Lügnerin«, beharrte Beni. »Warum ergreifst du ihre Partei und schreist mich an?«

»Ich ergreife niemandes Partei, Beni.«

»Beni hat Recht, Mama«, widersprach ich leise. »Ich hätte dich nicht im Stich lassen und krank machen dürfen. Es war nicht deine Schuld, dass meine leibliche Mutter mich weggegeben hat.«

Ich schaute zu ihr hoch; in meinen Augen brannten heiße Tränen.

»Du hast mir mehr gegeben, als ich verdiene. Es war falsch von mir, wütend auf dich zu sein, Mama. Es tut mir Leid.«

»Fang jetzt nicht an zu weinen, Rain«, sagte Mama und schniefte selbst.

Als sie die Arme ausstreckte, trat ich auf sie zu und umarmte sie. Als ich einen Blick zu Beni warf, sah ich ihren gequälten Gesichtsausdruck.

»Ich hoffe, du hältst mich immer noch für deine Schwester, Beni«, sagte ich und trat zurück.

»Natürlich tut sie das«, antwortete Mama für sie.

»Bleibt mir denn eine andere Wahl?«, höhnte Beni. Sie marschierte aus dem Schlafzimmer heraus.

Ich drehte mich wieder zu Mama um.

»Ich mache mir Sorgen, was Ken tut«, sagte sie. »Ich glaube, er versucht diese Leute zu erpressen, und das sind keine Leute, die man erpresst.«

»Ich würde gerne wissen, wer sie sind, Mama«, sagte ich.

»Es wird dir nur noch mehr Schmerz bereiten, Schätzchen.«

»Lebt meine Mutter noch in Washington, D.C.?«, fragte ich.

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Kannst du mir nicht ihren Namen sagen, Mama?«

»Ich hatte gehofft, du würdest das nicht wissen wollen, Rain. Es ist so, wie zu diesen modischen Geschäften zu gehen und dir im Schaufenster all die wunderschönen Sachen anzuschauen, die du nicht haben kannst. Es macht es noch schwerer zu akzeptieren, wer du bist und was du hast.«

»Ich werde mir immer diese Frage stellen, Mama. Ich kann es nicht ändern«, sagte ich.

Sie nickte und stand langsam auf. Sie ging zum Schrank und holte einen alten Schuhkarton heraus. Nachdem sie ihn geöffnet hatte, sah sie einige Papiere durch, dann fand sie, was sie suchte. Sie starrte es einen Augenblick an.

»Vermutlich ist sie jetzt verheiratet und trägt einen anderen Namen«, sagte Mama und reichte mir einen Zettel.

Ich schaute darauf und las den Namen Megan Hudson. Das war alles, was ich von meiner leiblichen Mutter hatte, ihren Namen.

»Kann ich das behalten, Mama?«, fragte ich.

Sie nickte.

»Das alles tut mir so Leid, Schätzchen«, sagte sie, »aber meine Liebe zu dir hat das nie geschmälert.«

»Ich weiß, Mama.«

Wir umarmten uns wieder.

»Nimm dir etwas zu essen«, sagte sie, »und schau mal, was Beni mit dem Essen angerichtet hat. Dein Bruder kommt jeden Moment nach Hause, und er hat bestimmt einen Riesenhunger.«

»In Ordnung, Mama«, sagte ich und ging in die Küche.

Beni hatte die Schweinekoteletts nicht schnell genug vom Herd genommen. Ich versuchte so viel wie möglich zu retten und wärmte neues Gemüse auf. Sie hörte mich arbeiten und kam aus unserem Zimmer. Sie stand da und starrte mich an, die Arme unter der Brust verschränkt.

»Hast du genug gegessen, Beni?«

»Hast du genug gegessen, Beni?«, äffte sie mich nach.

»Was ist los mit dir?«

»Nichts«, sagte sie. »Du machst nie etwas falsch. Jetzt weiß ich, warum Mama dich immer als etwas so Besonderes behandelt. Ich wette, jetzt wirst du noch hochnäsiger.«

»Das ist doch albern, Beni. Natürlich werde ich das nicht, und ich bin auch jetzt nicht hochnäsig.«

Die Tür öffnete sich und Roy kam herein. Er blieb stehen und schaute von Beni zu mir.

»Wie geht es Mama?«, fragte er.

»Einfach prima«, erwiderte Beni scharf. »Jetzt wo ihre Prinzessin wieder da ist.«

»Hm?«

»Ich gehe zu Alicia«, sagte sie und ging zur Wohnungstür.

»Du solltest das Haus besser nicht verlassen«, warnte Roy sie.

»Warum? Was wird Mama denn tun, wenn ich zurückkomme? Wird sie mich umarmen und küssen und mich Schätzchen nennen?«, erwiderte sie und ging. Dabei knallte sie die Tür hinter sich zu.

»Was ist los mit ihr?«, fragte Roy.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Das Ganze bringt sie noch mehr durcheinander als mich.«

»Geht es Mama wirklich gut?«

»Ja, sie ruht sich jetzt aus«, sagte ich. »Ich habe mein Bestes versucht, um das Abendessen zu retten.Tut mir Leid wegen der angebrannten Koteletts.«

»Heute Abend würde ich auch Holzkohle vertilgen«, beruhigte er mich. »Ich komme sofort.«

Er ging ins Badezimmer hinüber, während ich den Tisch deckte.

»Hat Ken etwas von sich hören lassen?«, fragte er und setzte sich.

»Nicht dass ich wüsste«, sagte ich.

»Vermutlich landet er noch im Gefängnis wie sein Bruder«, prophezeite Roy. Er hatte wirklich einen Bärenhunger und verschlang alles, was in Sichtweite war. Ich aß so viel ich konnte, also nur ein paar Bissen, weil mein Magen sich immer noch anfühlte, als hätte ein Heavy-Metal-Drummer ihn bearbeitet. Roy schaute nach dem Essen bei Mama hinein. Ich wusch ab und nahm dann eine Dusche. Dabei hatte ich Glück, weil ausnahmsweise das Wasser bis zum Schluss heiß blieb. Hinterher saß ich, in ein großes Badetuch eingewickelt, in meinem Zimmer und rubbelte mir das Haar mit einem weiteren Handtuch trocken. Da klopfte es an der Tür.

»Ja?«

»Kannst du eine Weile Gesellschaft gebrauchen?«, fragte Roy.

»Klar«, antwortete ich.

Roy öffnete die Tür, blieb aber stehen.

»Oh, wenn du möchtest, komme ich später wieder.«

»Nein, schon in Ordnung. Ich bin fertig«, sagte ich.

Er kam herein und setzte sich mit gesenktem Kopf auf mein Bett.

»Ist mit Mama alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Ja. Sie schläft.« Er schaute auf, die Augen schmerzerfüllt. »Die Frau ist durch die Hölle gegangen. Sie braucht nicht noch mehr Ärger«, sagte er.

»Ich werde keinen mehr verursachen, Roy.«

Er wirkte nicht überzeugt.

»Glaubst du auch, dass ich mich anders verhalten werde,

Roy? Wie Beni das glaubt? Meinst du, ich würde mich aufführen, als wäre ich etwas Besseres?«, fragte ich ihn.

»Nein«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendjemanden schlecht behandelst, Rain. Beni wird darüber hinwegkommen«, versicherte er mir. »Sie versucht immer, die Leute dazu zu bewegen, sie zu bemitleiden.«

»Sie braucht deine Liebe, Roy. Sie braucht das Gefühl, gemocht zu werden«, sagte ich.

Er schaute einen Moment beiseite, dann rutschte er vor, legte die Hände in den Schoß und hob langsam den Kopf. Seine ebenholzschwarzen Augen fixierten mich so eindringlich, dass mein Herz anfing zu zittern.

»Was ist?«, fragte ich.

»Weißt du, was ich empfand, als ich das von dir erfuhr?«, fragte er.

»Du warst verwirrt und durcheinander, vermute ich.«

»Nein«, widersprach er. »Mich überkam ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung. Ich war froh, Rain. Ich fühlte mich viel besser«, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt bin ich ganz verwirrt.«

Er senkte wieder den Blick, bevor er mich mit ganz sanften Augen anschaute.

»Ich dachte immer, mit mir wäre etwas nicht in Ordnung, Rain. Solange ich mich erinnern kann, hege ich Gefühle für dich, dass mir manchmal ganz schlecht wurde.«

»Schlecht?« Ich drehte mich ihm weiter zu. »Warum?«

»Weil ich dich in einer Weise anschaute, in der ein Bruder seine Schwester nicht ansehen sollte. Ich konnte nicht anders. Ich versuchte dich nicht mehr als nötig anzusehen. Ich versuchte sogar, dich nicht zu berühren. Und wenn ich es tat …«

»Was dann?«, fragte ich. Der Atem stockte mir. »Also, ich fühlte mehr wie ein Mann als wie ein Bruder. Verstehst du?«

Das tat ich, aber ich schüttelte den Kopf, weil ich es nicht verstehen wollte.

»Ich war sogar eifersüchtig auf die Vorstellung, dass du einen Freund haben könntest. Ich war froh, dass du so wählerisch warst. Und ich hasste mich dafür. Ich dachte sogar daran, zum Pastor zu gehen. Manchmal lag ich einfach wach und lauschte, um dich und Beni durch die Wand reden zu hören, um deine Stimme zu hören.

Ich wollte nicht so sein. Ich hasste mich und einmal … einmal bohrte ich einen Stift in mein Bein, um es zu stoppen«, sagte er.

»Ich habe mich nicht sehr verletzt«, fügte er eilig hinzu.

»Um was zu stoppen, Roy?«, fragte ich.

Er schaute beiseite und dann mit wütendem Gesicht zurück zu mir.

»Die Gefühle, die ich für dich hatte, die Hitze in meinem Körper. Das ist nicht richtig, sagte ich mir ständig. Es ist scheußlich. Es ist eine Sünde. Aber ich konnte nicht anders, und je älter und hübscher du wurdest, desto schwieriger wurde es für mich, es zu unterdrücken. Als dieses Schwein Jerad auf der Straße diese Bemerkungen über uns machte, dachte ich, ich würde ihn mit bloßen Händen umbringen, aber nicht wegen dem, was er gesagt hatte, sondern weil ich das Gefühl hatte, er durchschaute mich. Dafür hasste ich ihn, und ich hasste mich selbst, weil es so offensichtlich war.

Also«, fuhr er mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen fort, »als Beni mir erzählte, was passiert war, spürte ich, wie mir eine Last vom Herzen fiel, Rain. Ich dachte, ich bin doch gar nicht so schlecht. Ich weiß, wie schmerzlich das für dich ist, aber ich kann nicht anders – ich freue mich darüber, dass du nicht meine leibliche Schwester bist«, gestand er schließlich.

Plötzlich wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich nur in ein Badetuch gewickelt dasaß und Roy sich im gleichen Zimmer befand. Bisher hatte ich mir nie viel dabei gedacht, aber jetzt begann ich zu zittern. Ich war mir unsicher und fragte mich, was ich sagen oder tun sollte, damit er sich nicht schrecklich fühlte. Roy war groß und stark, aber er wirkte so verletzlich wie der kleine Junge, den ich auf dem Spielplatz gesehen hatte, der sich verzweifelt nach einem Lächeln und Bestätigung sehnte.

»Du hasst mich doch nicht, weil ich dir das gesagt habe, oder, Rain?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, ich … ich meine, ich weiß nicht, was ich sagen soll, Roy. Nachdem ich nach Hause gekommen war und Mama mir die ganze Geschichte erzählt hatte, empfand ich nicht anders für sie oder Beni oder dich. Familie muss doch mehr sein als nur das gleiche Blut, das einem durch die Adern fließt. Es gibt viele Geschwister, die nie miteinander reden oder sich nie sehen. Mama sieht ihre Schwester und ihren Bruder nie, und Ken erwähnt seine Geschwister kaum.«

»Das weiß ich doch«, erwiderte Roy rasch. »Ich erwarte nicht, dass sich irgendetwas über Nacht ändert.«

»Ich weiß nicht, was sich ändern könnte, Roy«, sagte ich sanft und griff nach seiner Hand. »Mein ganzes Leben lang bist du mein großer Bruder gewesen. Und so habe ich dich auch geliebt«, sagte ich. »Ich hoffe, du wirst immer mein großer Bruder sein.«

Er schaute mich wieder traurig an, der Schmerz kehrte in seine Augen zurück, aber er tat sein Bestes, ihn zu verbergen.

»Klar«, sagte er, nickte und zwang sich zu lächeln. »Das weiß ich. Ich werde immer für dich da sein, Rain. Nichts hat sich in der Richtung geändert.«

»Es gibt jetzt eine Menge, über das ich mir Klarheit verschaffen muss«, sagte ich. »Dazu werde ich deine Hilfe brauchen.« Sein Lächeln wurde breiter und wärmer.

»Genau. Im Laufe der Zeit, wenn sich alles eingespielt hat, wird die Welt wieder anders für dich aussehen«, sagte er hoffnungsvoll. Ich wusste, dass er sich selbst meinte, aber ich konnte an ihn nur als meinen großen Bruder Roy denken.

»Ist das nicht gemütlich«, sagte Beni und trat ein.

Das Blut wich Roy aus dem Gesicht. Er ließ meine Hand los, als stünde sie in Flammen, und stand auf.

»Du hältst deinen dreckigen Mund«, fuhr er sie an.

»Ausgerechnet du solltest es nicht wagen, mich dreckig zu nennen, Roy Arnold. Du hörst, dass sie nicht deine Schwester ist, und du sitzt hier drinnen und hältst Händchen, bevor der Tag vorüber ist.«

»Wir halten doch gar nicht Händchen. Wir … wir reden nur über die Dinge«, stotterte er.

»Klar«, sagte sie. »Ihr redet nur über die Dinge.« Sie grinste höhnisch. »Ich bin müde. Ich gehe ins Bett.« Sie begann, ihre Bluse auszuziehen.

Roy warf mir einen Blick zu und hastete dann aus dem Zimmer. In der Tür blieb er stehen und sah zu Beni zurück. »Besser machst du keine dreckigen Bemerkungen oder …«

»Oder was?«, fuhr sie ihn an, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich bin jetzt alles, was du noch hast. Ich bin deine echte Schwester. Sie nicht«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf mich.

Roy klappte den Mund auf und zu, dann drehte er sich um und knallte die Tür hinter sich zu. Beni lächelte, zufrieden mit sich selbst. Ich beobachtete, wie sie im Zimmer umherging und sich fertig machte fürs Bett.

»Das war grausam, Beni. Du hast keinen Grund, so wütend auf uns zu sein.«

»Oh, bitte«, sagte sie. Dann blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. »Genauso gut könnte ich das Adoptivkind sein. So wie ich behandelt worden bin.«

»Beni …«

»Lass uns schlafen«, sagte sie, »und so tun, als wären wir Schwestern.«

»Wir sind Schwestern. Wir werden immer Schwestern sein, Beni. Daran hat sich nichts geändert«, sagte ich.

Sie schaute mich an, als redete ich puren Unsinn, und schenkte mir dann eines ihrer provozierenden, herablassenden Lächelns.

»Aber sicher, Rain-Schätzchen, schließlich sind wir so dick befreundet, wie Wasser dicker ist als Blut.« Sie lachte und ging ins Badezimmer.

Ich zog mein Nachthemd an und kroch ins Bett. Beni hatte mir nichts mehr zu sagen. Sie ging auch ins Bett und knipste die Lampe auf dem Tisch aus. Es war dunkel und ungewöhnlich still im Haus. Ich lag dort mit geöffneten Augen und dachte an Roy auf der anderen Seite der Wand, der bestimmt auch in die Dunkelheit starrte und vielleicht lauschte, ob er meine Stimme hörte.

Das ängstigte mich, aber auf eine verwirrende Weise, denn ich fühlte mich auch geschmeichelt, vielleicht wie Eva, die nach der verbotenen Frucht griff, angsterfüllt und erregt zugleich.

Ich hatte fast Angst einzuschlafen.

Ich hatte fast Angst vor meinen Träumen.

Haus der Schatten

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