Читать книгу Haus der Schatten - V.C. Andrews - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 3
Eine schreckliche Wahrheit
Ich schreckte mitten in der Nacht aus dem Schlaf auf. Sie war so leise hereingekommen, dass offenbar niemand sonst es gehört hatte. Zuerst dachte ich, es sei Ken, der betrunken und verwirrt umherwanderte. Ich setzte mich schnell auf, mein Herz klopfte wie ein Presslufthammer. Jemand stand in der Tür und zeichnete sich als Silhouette vor dem schwachen Flurlicht ab. Stand einfach da, starrte zu mir hinein, rührte sich nicht, finster und still wie ein schlechter Traum. Einen Augenblick lang brachte ich keinen Ton heraus.
»Beni?«, flüsterte ich. Warum war sie zu Hause? Warum stand sie so da?
Ich hörte ein Schluchzen, dann kam sie herein und warf sich über mein Bett, die Knie auf dem Boden, den Kopf auf meinen Beinen. Sie schluchzte lauter, heftiger.
»Beni, was ist passiert? Warum bist du zu Hause?«
»Oh, Rain, sie haben mir etwas in den Drink getan. Ich wachte vor einer Weile in einem Bett auf und war nackt. Ich musste über den Boden kriechen, um meine Sachen zu finden. Ich habe nicht alles gefunden. Sie haben mir mein Höschen gestohlen. Jemand hat jetzt mein Höschen!«, jammerte sie.
Ich half ihr auf, sie umarmte mich und klammerte sich an mich, als säßen wir beide in einem sinkenden Schiff. Ihre Tränen benässten meine Wange. Gemeinsam wiegten wir uns hin und her. Noch nie hatte Beni mich so festgehalten. Sie tat mir entsetzlich Leid.
»Was ist passiert, Beni? Erzähl es mir.«
Sie würgte ihre Tränen herunter und vergrub ihr Gesicht in meinem Kissen.
»Ich kann nicht. Ich schäme mich so. Als ich wach wurde, sah ich ein leeres Filmdöschen auf dem Boden. Vielleicht haben sie mich fotografiert. Ich schäme mich so.«
»Ich dachte, diese Mädchen wären deine Freundinnen, Beni. Warum haben sie das zugelassen?«
Sie hob den Kopf und holte tief Luft.
»Sie tranken alle und rauchten Hasch und dann … ich weiß es nicht. Die Musik war laut. Alle amüsierten sich. Ich habe nicht aufgepasst. Ich tat, was alle taten, weil ich dachte, Carlton mag das. Er trank Wodka mit Cranberrysaft. Das trank ich dann auch. Ich konnte den Wodka nicht einmal schmecken. Wir gingen in Alicias Zimmer. Daran erinnere ich mich noch. Er küsste mich und sagte mir, wie sehr er mich mag. Wir lagen auf dem Bett und …«
»Was?«, fragte ich. Anscheinend rief sie sich gerade in Erinnerung zurück, was sie mir erzählte.
»Die Tür öffnete sich. Das Licht war hell. Ich hörte viel Gelächter; da waren auch andere Jungs. Das Zimmer drehte sich. Dann weiß ich nichts mehr, Rain. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich wachte auf und war nackt. Ich war nackt! Sie müssen mir etwas in den Drink getan haben!«
»Okay, Beni. Okay. Ganz ruhig. Sonst weckst du Roy auf«, warnte ich sie, obwohl ich das nicht glaubte. Ich musste sie beruhigen. Sie holte tief Luft und nickte.
»Ich weiß nicht, was sie alles mit mir gemacht haben, Rain. Da war Zeug an mir, an den Beinen und auf dem Bauch«, flüsterte sie laut.
Ich hielt die Luft an.
»Zeug?«
»Ich glaube … von Jungs«, sagte sie. »Weißt du, wenn sie erregt werden.«
»O Gott«, stöhnte ich. Ich konnte nicht anders. Es hörte sich so widerlich an. »Du nimmst jetzt ein heißes Bad. Ich lasse dir Wasser ein, Beni.«
Sie ergriff meine Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte.
»Vielleicht stecke ich in großen Schwierigkeiten, Rain.«
»Nein, nein«, versuchte ich sie zu beruhigen.
»Und wenn doch? Wenn ich nun schwanger werde?«
»Das wirst du nicht. Hör auf, das Schlimmste zu denken. Ich lasse dir jetzt das Bad ein, Beni. Ruh dich ein bisschen aus.«
Ich hob ihren Arm von meiner Taille und schlüpfte aus dem Bett.
Sie vergrub ihr Gesicht in meinem Kissen und schluchzte weiter. Ihr Weinen wurde immer lauter.
»Hör auf, Beni. Sonst weckst du Mama. Und Ken ist auch wieder da«, sagte ich.
Sie hörte auf zu weinen und richtete sich ein wenig auf.
»Ken ist zurück?«
»Ja, Roy und ich waren im Kino, und als wir nach Hause kamen, fanden wir ihn besinnungslos betrunken auf dem Sofa. Vermutlich liegt er da immer noch. Ich weiß nicht einmal, ob Mama schon mitbekommen hat, dass er zurück ist.«
»Oh verdammt. Alles auf einmal. Er wird mich umbringen. Ken wird mich umbringen, wenn er das herausfindet.«
»Niemand wird dich umbringen, Beni. Du nimmst ein Bad und gehst schlafen.«
»Was sage ich Mama, wenn sie mich fragt, warum ich nach Hause gekommen bin?«
»Ich weiß es nicht. Lass mich überlegen, Beni. Ich hasse all diese Lügen«, stöhnte ich.
»Ich weiß ja nicht mal genau, was sie mit mir gemacht haben«, jammerte sie. Sie schlang die Arme um sich und wiegte sich hin und her. »Jemand hat mein Höschen.«
»Vielleicht konntest du es einfach nicht finden, Beni«, murmelte ich und lief ins Badezimmer. Jetzt gab ich mir die Schuld, dass ich ihr geholfen hatte, von Mama die Erlaubnis zu bekommen. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich hätte mehr tun müssen, um sie davon abzubringen. Roy wird wütend sein auf uns beide. Und die arme Mama – zu allem, was sie schon zu ertragen hat, bekommt sie noch diese Last aufgebürdet. Sie wird zerbrechen wie ein Gefäß aus dünnem Ton, alt und erschöpft und ausgetrocknet von all den Tränen. Ich musste nachdenken, genau nachdenken, einen Weg finden, wie ich dieses schreckliche Geheimnis vor ihr bewahren konnte. Noch wichtiger als Beni zu beschützen war es im Augenblick, Mama zu beschützen. Und Beni hatte Recht. Wer wusste schon, was Ken tun würde?
Jetzt war ich froh, dass Roy wie ein Toter schlief. Bei Benis Schluchzen und den Geräuschen, die wir auf dem Weg von unserem Zimmer ins Badezimmer machten, war ich mir sicher, dass jemand aufwachen und nachschauen würde, was wir taten. Gott sei Dank geschah das nicht. Ken schnarchte noch auf dem Sofa, Mama musste so erschöpft gewesen sein, dass sie trotz des Lärms fest schlief.
Als ich Beni ausgezogen hatte, empfand ich noch größeres Mitleid mit ihr. Sie klagte über Schmerzen in den Oberschenkeln. Ich brachte sie ins Wasser und half ihr, sich zu waschen. Selbst die Haare musste sie waschen. Sie rochen, als hätte jemand Whiskey darüber gekippt. Hinterher hüllte ich sie in ein Badetuch und half ihr, sich abzutrocknen, weil sie plötzlich Schüttelfrost bekam. Ihre Zähne klapperten, und sie zitterte am ganzen Körper. Wir gingen zurück in unser Zimmer. Dort half ich ihr, ein Nachthemd anzuziehen und unter ihre Decke zu kriechen.
»Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er voller Flipperkugeln, die gegeneinander prallen«, stöhnte sie.
Ich fand eine Schachtel Aspirin und gab ihr zwei. Sie hielt meine Hand fest, als befürchtete sie zu verschwinden, wenn ich wegginge. Ich setzte mich neben sie und wartete, während sie vor sich hin murmelte, was sie ihr angetan hatten, bis sie einschlief. Dann löste ich ihre Finger aus meinen, strich ihre Decke glatt und ging ins Bett.
Aber ich schlief nicht wieder ein. Ich lag da, dachte nach, versuchte mir einen Grund auszudenken, eine Möglichkeit, zu erklären, warum Beni zu Hause war, ohne Mama zu alarmieren und eine weitere Familienkrise auszulösen.
Am Morgen, als Mama aufwachte und Ken im Wohnzimmer vorfand, herrschte jedoch solch ein Aufruhr, dass ich kaum Gelegenheit hatte, sie auf Benis Anblick vorzubereiten.
»Du hast dich also endlich entschlossen zurückzukommen, Ken Arnold«, hörte ich sie sagen. »Zweifellos nachdem dir das Geld ausgegangen ist. Wie immer.«
»Sei still, Weib«, bat Ken. »Du spaltest mir noch den Schädel mit deinem Mundwerk.«
»Hoffentlich«, sagte sie.
Ich schaute zu Beni herüber, die noch schlief, den Rücken zu mir gewandt, das Gesicht zur Wand. Ich zog den Morgenmantel an und ging hinaus, um Mama davon abzuhalten, sich wieder in einen lautstarken Streit bis zur völligen Erschöpfung mit Ken einzulassen. Im Flur stieß ich auf Roy. Wir schauten einander an und gingen dann zu Mama in die Küche.
»Er ist zurück«, teilte sie uns mit und wedelte mit der Hand in Richtung Wohnzimmer. »Sieht aus wie ein Penner. Nimm ein Bad oder dusch dich, Ken Arnold«, rief sie zur Wohnzimmertür. »Du verpestest mein Wohnzimmer mit deinem Gestank.«
»Lass mich in Ruhe. Mach mir Kaffee«, fügte er hinzu.
»Mach mir Kaffee«, murmelte Mama. »Ich hoffe nur, er hat diesen guten Job nicht verloren«, meinte sie, als sie den Kaffee aufsetzte.
Ken arbeitete als Hausmeister in einem Regierungsgebäude, und nach sechs Monaten würde er zusätzliche Leistungen beziehen.
Roy kratzte sich den Kopf und drehte sich um, um in sein Zimmer zurückzugehen. Auf dem Flur blieb er abrupt stehen, nachdem er einen Blick in mein und Benis Zimmer geworfen hatte.
»Ich dachte, sie schläft bei ihrer Freundin. Warum ist sie zu Hause?«, fragte er.
Mama fuhr herum.
»Wer?« Sie schaute mich an. »Beni ist vergangene Nacht nach Hause gekommen?«
»Ja, Mama«, sagte ich. Sie nickte, presste die Unterlippe über die Oberlippe und ließ die Schultern hängen. Ihre Stirn legte sich in Sorgenfalten, ihre Augen schauten finster drein.
»Na los, sag mir, was passiert ist.«
»Nichts, Mama«, erwiderte ich rasch. »Sie hat nur getan, was du ihr gesagt hast. Als sie noch in einen Hip-Hop-Laden gehen wollten, kam sie nach Hause.«
Voller Skepsis legte Mama den Kopf schief. Ich wandte rasch den Blick ab, der dann aber auf Roy fiel, und das war noch schlimmer. Er runzelte die Stirn.
»Da steckt doch noch mehr dahinter«, sagte er.
»Es gab dort auch Drogen und Alkohol«, gab ich zu.
»Hat Beni was davon genommen?«, hakte Mama schnell nach.
»Sie trank etwas, ihr wurde übel und sie kam nach Hause, Mama«, sagte ich. Das war zumindest ein Teil der Wahrheit.
Mama und Roy schauten einander an. Wenn Roy es dabei bewenden ließ, täte Mama das auch, das wusste ich.
»Ist das alles?«, fragte Mama.
»Es war dort nicht schön, Mama. Das wurde Beni auch klar. Die meisten Mädchen aus der Schule wären nicht nach Hause gekommen«, betonte ich nachdrücklich.
»Ja, das stimmt wohl«, gab Mama zu. »Geht es ihr gut?«
»Ich wette, sie hat höllische Kopfschmerzen«, vermutete Roy.
»Gut. Das wird ihr eine Lehre sein. Sie kann sich ja zu ihrem Vater legen, und sie können sich den ganzen Morgen etwas vorstöhnen«, erklärte Mama. »Was sagt man noch über den Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt?«
»Für mich gilt das schon«, sagte Roy schnell.
»Ja, für dich, mein Sohn. Und dafür danke ich dem Herrn.«
»Und für Rain auch«, versicherte Roy.
Mama starrte mich einen Augenblick an und nickte dann.
»Geh und kümmere dich um sie«, forderte Mama mich auf. »Heute Morgen habe ich ein größeres Problem.«
Sie wandte sich wieder dem Kaffee zu. Ich warf Roy einen Blick zu. Er schaute misstrauischer drein, als mir lieb war. Dann verschwand ich rasch in unserem Zimmer und wartete darauf, dass Beni aufwachte. Ich musste ihr erzählen, was ich Roy und Mama gesagt hatte, sonst würde sie uns in noch größere Schwierigkeiten bringen.
Sie machte noch keinerlei Anstalten aufzuwachen, selbst nachdem eine weitere Stunde vergangen war und alle in der Küche frühstückten. Ich musste sie rütteln.
Sie stöhnte und drehte sich langsam um.
»Was ist?«, fragte sie, als sie die Augen öffnete. Ich erzählte ihr, was ich Mama und Roy gesagt hatte.
»Warum hast du ihr gesagt, dass ich betrunken war? Jetzt wird sie mich nie wieder ausgehen lassen«, stöhnte Beni.
»Sie ist glücklich, dass du nach Hause gekommen bist, Beni. Ich sagte ihr, die meisten Mädchen wären nicht gekommen. Also, ganz gleich, wie sehr sie dich ausschimpft, du weißt, dass sie nicht so wütend auf dich ist, wie es den Anschein hat. Ich habe mein Bestes getan«, erklärte ich.
»Ich fühle mich schrecklich«, ächzte sie, als sie sich aufrichtete.
Sie hielt sich den Magen, dann bedeckte sie mit der anderen Hand die Augen und stöhnte. Schließlich fiel sie zurück auf ihr Kissen. »Lass mich einfach in Ruhe«, bettelte sie.
»Besser stehst du auf und ziehst dich an, Beni. Wenn du den ganzen Morgen im Bett liegst, wird es nur noch schlimmer. Mama kommt sowieso bald hier herein«, warnte ich sie.
Sie kniff die Augen zusammen und starrte mich einen Augenblick an. »Du freust dich, nicht wahr? Du bist glücklich, dass mir das passiert ist. Jetzt kannst du dich so korrekt und vollkommen fühlen.«
»Das stimmt nicht, Beni. Ich bedauere dich. Wirklich.«
»Klar«, sagte sie. Sie drehte sich zur Wand. »Jerad war da. Vermutlich hat er sie dazu gebracht, mir das anzutun, nur um sich an dir und Roy zu rächen«, verkündete sie. »Ich wette, das stimmt.« Wütend schmiss sie ihre Decke beiseite. »Sonst wär mir das alles nicht passiert.«
»Das ist doch lächerlich, Beni. Du kannst doch solche Leute nicht in Schutz nehmen, und du kannst nicht mir und Roy die Schuld zuschieben. Hör auf damit«, fauchte ich sie an.
Ich zog mich an und verließ vor ihr unser Zimmer. Mama hatte Ken trotz ihrer zur Schau gestellten Wut sein Lieblingsfrühstück gemacht, Buchweizenpfannkuchen. Roy saß ihm gegenüber und aß mürrisch.
»Ist sie auf?«, wollte Mama wissen.
»Ja, Mama. Sie kommt jetzt.«
»Was ist los mit Beni?«, fragte Ken. »Ist sie krank?«
»Ja, sie ist krank. Sie hat sich bei dir angesteckt«, teilte Mama ihm mit. Er riss die Augen weit auf und schaute mich fragend an.
»Was ist denn hier los, Rain?«
»Seit wann kümmerst du dich denn darum, Ken Arnold?«, ging Mama auf ihn los.
»Ruhe, Weib. Rain?«
»Schrei Mama nicht an«, warnte Roy ihn.
Ken drehte sich langsam zu ihm um, seine blutunterlaufenen Augen glühten plötzlich hell wie die Mitte einer Kerzenflamme. Schnell schaltete Mama sich ein, indem sie Ken noch mehr Kaffee eingoss.
»Fangt jetzt nicht an zu streiten, ihr beiden. Das kann ich heute Morgen nicht gebrauchen. Und mach dir keine Sorgen, dass er mich anschreit, Roy. Ich kümmere mich schon um ihn«, sagte sie und nickte zu Ken hin. Er beruhigte sich und wandte sich wieder mir zu.
»Also, was ist los mit Beni?«, wollte er wissen.
»Sie hat auf einer Party Alkohol getrunken, und ihr ist schlecht geworden«, erzählte ich ihm rasch.
Er starrte mich einen Augenblick an. Dann ließ er einen Freudenschrei los, lachte und schlug sich auf die Knie.
»Ihr ist schlecht geworden, was? Sie ist ganz der Vater, meinst du?«, fragte er Mama. »Mir wird nie schlecht. Sie hat deinen empfindlichen Magen, nicht meinen«, sagte er, als ob Alkohol zu trinken und Junk-Food zu essen eine Leistung wäre.
Mama hob die Augen zur Decke.
»Herr, gib mir Stärke«, flehte sie.
Beni trat in den Flur, und wir alle drehten uns zu ihr um.
Sie sah aus, als hätte sie einen Bleihelm auf den Kopf gestülpt. Ihre Augenlider hingen herab wie schlaffe alte Vorhänge.
»Nun, Mädchen«, verkündete Mama, die Hände in die Hüften gestemmt, »was hast du heute Morgen zu deiner Rechtfertigung zu sagen?«
»Ich habe einen Fehler gemacht, und ich fühle mich nicht gut«, erwiderte Beni. Sie wich meinem und Roys Blick aus. Als sie Ken anschaute, wandte sie ihre müden Augen bald wieder ab und starrte zu Boden.
»Man sollte doch meinen, deinen Vater all die Jahre zu beobachten würde ausreichen, um einen zum Antialkoholiker zu machen«, sagte Mama.
»Was soll das heißen, deinen Vater zu beobachten? Warum gibst du mir die Schuld an ihrem Verhalten? Du bist doch mehr mit ihr zusammen als ich. Wenn sie etwas schlecht gemacht hat, ist das deine Schuld, nicht meine, Weib. Nicht meine.«
»Stimmt«, erwiderte Mama. »Du zeugst die Kinder nur wie ein Rennpferd und galoppierst dann davon.«
Beni schaute mich an, dankbar, dass Mama ihren Zorn auf Ken richtete und nicht auf sie.
»Setz dich und sieh zu, dass du etwas Vernünftiges in den Magen bekommst«, forderte Mama sie auf und nickte in Richtung Stuhl.
»Ich möchte nur Kaffee, Mama.«
»Ich habe dich nicht gefragt, was du willst. Ich habe dir gesagt, du sollst etwas essen, Kind«, befahl sie.
Beni tat, wie ihr geheißen wurde. Nach dem Frühstück legte Ken sich wieder schlafen, und auch Beni zog sich in ihr Bett zurück. Ich half Mama, den Tisch abzuräumen und zu spülen. Roy musste zu Slim’s arbeiten gehen. Aber auf dem Weg nach draußen blieb er stehen, als sich die Gelegenheit bot, mich alleine zu sprechen.
»Hinter ihrer Geschichte steckt noch mehr«, sagte er und deutete auf Benis und mein Zimmer. »Glaub ihr nicht.«
»Zumindest ist alles in Ordnung mit ihr, Roy«, sagte ich. »Ich glaube, sie überlegt es sich jetzt zweimal, bevor sie wieder mit diesen Mädchen herumhängt.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, sagte er. »Und hör auf, sie in Schutz zu nehmen. Wenn du zulässt, dass sie dich umklammert, zieht sie dich mit in die Tiefe«, prophezeite er mir und ging.
Beni schlief fast den ganzen Tag. Mama beklagte sich darüber, ließ sie aber in Ruhe. Am Nachmittag traf Ken sich mit Freunden und ich machte meine Hausaufgaben. Als Beni wieder aufwachte, war sie in noch gereizterer Stimmung. Sobald sie das Zimmer verließ, begann Mama sie auszuschimpfen und ihr eine Gardinenpredigt über ihr Verhalten zu halten.
»Wage ja nicht, mich in nächster Zeit zu bitten, abends ausgehen zu dürfen«, teilte sie ihr mit. »Ich möchte, dass du direkt nach der Schule nach Hause kommst. Bis du achtzehn bist, trage ich für dich die Verantwortung, hörst du?«
»Das ist nicht fair, Mama. Jeder macht Fehler«, stöhnte Beni.
»Ich habe auch so genug Probleme, ohne dass du mir noch mehr bereitest, Beni Arnold. Du sorgst auch dafür, dass du in Arbeiten keine Fünfen mehr schreibst. Ich werde dir jetzt genauer auf die Finger schauen, hörst du?«
Beni stand auf, kehrte in unser Zimmer zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Sie starrte mich an.
»Vielen Dank«, sagte sie.
»Was meinst du damit? Was habe ich getan?«
»Du hast mich in Schwierigkeiten gebracht. Wenn du nichts gesagt hättest, hätte ich mir eine bessere Geschichte ausdenken können«, schrie sie. »Jetzt wird sie mir nichts mehr erlauben. Ich hasse es hier.«
»Das ist nicht fair, Beni. Ich habe doch nur versucht, dir zu helfen. Meinst du, ich lüge Mama gerne deinetwegen an? Da irrst du dich aber. Das werde ich nicht wieder tun«, schwor ich.
»Gut«, sagte sie und warf sich mit dem Rücken zu mir auf ihr Bett.
Roy hatte Recht, dachte ich. Beni würde uns beide herunterziehen.
Es war jetzt schwieriger für Beni und mich in der Schule. Einige Jungen, die auf der Party gewesen waren, hänselten sie, und ihre angeblich so treuen Freundinnen taten auch nicht viel, um sie in Schutz zu nehmen. Anscheinend glaubten alle, was ihr widerfahren war, sei lustig und nicht sehr ernst zu nehmen. Beni wirkte so verloren, dass ich sie bedauerte. Ich beobachtete, wie sie im Speisesaal an der Ecke des Tisches ihrer Freundinnen saß, dumpf vor sich hinbrütete und den Blick gesenkt hielt, während die anderen Mädchen lachten und die Jungen sie schikanierten. Schließlich konnte ich es nicht länger ertragen. Ich ließ Lucy Adamson sitzen und ging zu Beni.
»Warum sitzt du hier bei denen?«, fauchte ich sie an. »Das sind nicht deine Freundinnen. Denk doch daran, was sie dir angetan haben«, sagte ich und funkelte Nicole und Alicia an.
»Was soll das denn heißen?«, wollte Alicia wissen. »Wir haben niemandem etwas getan. Alles, was ihr passiert ist, ist nur passiert, weil sie es wollte.«
»Klar«, sagte ich. »Bei Freundinnen wie euch braucht sie keine Feinde.«
»Du Schlampe«, sagte Nicole und stand auf.
»Hör doch auf«, sagte Beni.
»Wie kannst du nur hier sitzen?«
»Sie ist lieber bei uns als bei Fräulein Etepetete«, sagte Alicia. »Zumindest hat sie bei uns ihren Spaß.«
»Du nennst das, was ihr passiert ist, Spaß?« Ich zog eine Grimasse. »Du tust mir wirklich Leid.«
»Halt die Schnauze«, sagte Nicole. »Oder ich sorge dafür, dass du sie hältst.«
»Gehst du, bitte«, rief Beni. »Du machst alles nur noch schlimmer für mich.«
Ich sah sie an, sah das Flehen in ihrem Blick. Sie tat mir wirklich Leid, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte.
»Du bist nur eifersüchtig, das ist alles«, sagte Nicole. »Du sehnst dich doch danach, dass ein Mann seine Hände auf deinen kostbaren Körper legt, Fräulein Etepetete.«
Die Mädchen lachten.
»Ja, das ist was anderes, als selbst Hand anzulegen«, sagte Alicia. Wieder lachten alle.
»Ihr seid widerlich«, sagte ich und wandte mich ab. Ihr Gelächter stieg wie eine Woge hinter mir empor.
»Warum hast du dich mit denen eingelassen?«, fragte Lucy, als ich an unseren Tisch zurückkehrte.
»Ich habe versucht, meiner Schwester zu helfen«, erklärte ich.
»So bringst du sie nur dazu, ständig hinter dir her zu sein, und mich werden sie auch schikanieren«, befürchtete sie.
»Wenn du solche Angst hast, brauchst du nicht bei mir zu sitzen, Lucy«, sagte ich.
Sie schaute erst die Mädchen und dann mich an.
»Ich muss zur Toilette gehen«, sagte sie und ging rasch.
Beni wollte nicht, dass ich ihr half, und jetzt hatten die wenigen Freunde, die ich hatte, Angst, mit mir gesehen zu werden. Wie ich diese Schule hasste. Aber zu Hause, wo ich mich wie ein Tier im Käfig fühlte, war es auch nicht besser. Mama konnte nichts tun, um uns zu helfen. Ken hatte überhaupt kein Verantwortungsgefühl, und der arme Roy kämpfte verzweifelt, um uns über Wasser zu halten.
Als wir an jenem Nachmittag aus der Schule nach Hause kamen, saß Ken im Wohnzimmer, rauchte, trank ein Bier und sah fern. Warum war er nicht bei der Arbeit?
»Seid ihr das, Mädchen?«, rief er.
»Ja, Ken«, sagte Beni.
»Gut. Beni, holst du mir noch ein Bier. Mein Fuß macht mir heute zu schaffen.«
Sie sah mich an und ging zum Kühlschrank. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und sah, wie sie Ken das Bier gab.
»Wie kommt es, dass du so früh zu Hause bist?«, fragte sie ihn.
»Ach, dieser bescheuerte Aufseher hat mich gefeuert«, sagte er. »Der hatte es doch von Anfang an auf mich abgesehen.«
»Warum suchst du dir dann keinen anderen Job?«, fragte ich schnell, so schnell, dass sein Kopf herumfuhr.
»Seit wann hast du denn so ein Mundwerk?«
Ich spürte, wie mein Herz einen Satz machte. So wie er mit dem Kopf wackelte, hatte er schon reichlich getrunken.
»Ich mache mir nur Sorgen um Mama. Sie macht Überstunden, damit das Geld reicht«, erzählte ich ihm.
»Was ist denn mit Roy? Der bringt doch gutes Geld nach Hause. Mach dir keine Sorgen«, sagte er und fuchtelte mit der Hand herum. »Wir werden schon nicht verhungern.« Er starrte uns an, während er aus seiner Bierflasche trank. »Ihr Mädchen solltet euch auch einen Job suchen«, fügte er hinzu.
»Das habe ich Mama auch gesagt«, sagte Beni.
»Das ist gut. Zumindest bist du nicht faul. Das ist gut.«
»Sie lässt uns nicht arbeiten«, beklagte Beni sich.
»Was? Warum nicht? Das ist doch dämlich. Ihr seid beide kräftige junge Mädchen. Ihr könnt etwas tun, bis ich eine andere Stelle finde.«
»Wann wird das denn sein?«, fragte ich.
Wieder starrte er mich mit seinen glasigen Augen an.
»Wenn ich sie finde«, sagte er entschieden. »Hör auf, auch noch hier herumzunörgeln«, warnte er mich. »Du hast kein Recht, so mit mir zu reden. Du hast kein Recht, irgendwelche Forderungen zu stellen.«
Ich merkte, wie ich die Augenbrauen hochzog. Das hörte sich an, als wäre ich überhaupt kein Familienmitglied.
»Keiner von euch hat das«, fügte er hinzu. »Jetzt lasst mich in Ruhe. Ich versuche mich zu entspannen und meine Probleme eine Weile zu vergessen.«
»Sag Mama, dass sie mich mit der Schule aufhören lässt, damit ich mir einen Job suchen kann«, bat Beni ihn. »Sag es ihr bitte, Ken.«
»Das werde ich«, versprach er und nickte nachdrücklich. »Das werde ich ganz bestimmt. Ihr Mädchen seid alt genug, um auszuhelfen. Ich sehe nicht ein, warum nicht.« Er schluckte noch mehr Bier. »Es kommt eine Zeit, in der die Kinder eines Mannes ihm das Leben leichter machen sollten. Warum nicht?«, murmelte er und nickte, als wollte er sich selbst von dieser Idee überzeugen.
Beni wirkte erfreut.
»Hör nicht auf ihn, Beni«, flüsterte ich, als wir das Wohnzimmer verließen. »Du kannst doch den Alkohol an ihm riechen. Er weiß nicht, was er sagt.«
»Oh doch. Ich hoffe, er sagt Mama, dass sie mich mit der Schule aufhören lässt, damit ich arbeiten kann«, betonte sie.
Ich schüttelte voller Abscheu den Kopf und ging in unser Zimmer, um mich umzuziehen. Dann fing ich an, das Abendessen zuzubereiten. Mama hatte gestern Abend aus dem Supermarkt Schweinekoteletts mitgebracht. Zumindest bekam sie dort Lebensmittel zum Einkaufspreis. Vor einiger Zeit hatte sie mir gezeigt, wie man gefüllte Schweinekoteletts zubereitete, eines von Roys Lieblingsgerichten. Ich begann die Zwiebeln zu schmoren. Das Aroma von Knoblauch und Kräutern erfüllte die kleine Wohnung. Ken spähte herein, um zu sehen, was ich machte, gerade als Beni aus dem Badezimmer kam. Er riss die Augen auf, schloss sie wieder und stand schwankend in der Tür.
»Wie kommt es, dass du nicht so gut kochen kannst wie Rain, hm?«, fragte er Beni.
»Ich kann nichts so gut wie Rain«, beklagte Beni sich mit einem blöden Grinsen. »Deshalb versuche ich es gar nicht erst.«
Ken kniff die Augen zusammen.
»Gib mir noch ein Bier«, verlangte er.
»Findest du nicht, dass du schon genug hattest?«, fragte ich ihn.
»Ich brauche kein Kind, das mir sagt, wann ich genug habe. Mein Gott, eure Mama wiegelt euch alle gegen mich auf«, jammerte er.
»Ich hole es dir«, bot Beni ihm an und tat es auch.
»Danke, Beni«, sagte er lächelnd. Er starrte mich an, kehrte dann um und ließ sich in seinen Sessel plumpsen. Beni lächelte mich affektiert an.
»Ken mag mich, glaube ich, lieber«, verkündete sie selbstgefällig.
»Das freut mich für dich«, sagte ich. Sie machte mich so wütend, dass ich emsiger und schneller arbeitete, um meine Gedanken zu beschäftigen. Als Mama nach Hause kam, köchelte alles vor sich hin.
»Es duftet himmlisch«, sagte sie. Als sie das Fernsehen hörte, dachte sie, es sei Beni.
»Warum deckt Beni nicht wenigstens den Tisch, bevor Ken und Roy nach Hause kommen?«, murmelte sie.
»Ken ist schon zu Hause«, sagte ich. »Er hat seinen Job verloren.«
»Nein. Das hatte ich befürchtet. Er taugt einfach nichts.« Sie zog die Schultern hoch und richtete sich gerade auf, um sich zum Kampf zu wappnen.
»Ich glaube, er hat wieder zu viel getrunken, Mama. Vielleicht solltest du ihn einfach in Ruhe lassen.«
»Zum Teufel mit ihm«, schrie sie und steuerte auf das Wohnzimmer zu. Ich holte tief Luft und deckte den Tisch.
Ken hatte den ganzen Tag getrunken. Er hatte in einer der Tavernen angefangen, als er gefeuert worden war, dann war er nach Hause gekommen und hatte, bis Mama heimkehrte, fast zwei Sixpacks getrunken. Er war schon fast hinüber, als sie über ihn herfiel. Ich wollte nicht zuhören. Es war wie eine kaputte CD, die immer beim gleichen Lied hängen blieb. Aber sie erhoben ihre Stimmen so laut, dass bestimmt die Nachbarn sie deutlich verstehen konnten. »Wie konntest du nur diesen Job verlieren? Es war doch einer deiner besseren«, sagte Mama. »Wenn du dort geblieben wärst, hätten wir eine Krankenversicherung bekommen. Machst du dir eigentlich überhaupt keine Gedanken um deine Familie?«
»Dieser Aufseher hatte es auf mich abgesehen. Von Anfang an«, behauptete Ken. »Er ist ein toller Kerl und hält uns für Abschaum.«
»Das sagst du immer. Das sind doch nur Ausreden für dein abscheuliches Verhalten. Nichts weiter.«
»Lass mich in Ruhe.«
»Was sollen wir denn tun, Ken? Wir müssen die Miete bezahlen, und die Mädchen brauchen Sachen; Sachen, die wir uns nicht leisten können. Sie brauchen Kleidung. Sie wachsen aus allem heraus. Wir haben die Strom- und Gasrechnung noch nicht bezahlt, und ich habe Angst, für irgendjemanden einen Termin beim Zahnarzt zu machen, weil wir noch eine so hohe Rechnung ausstehen haben. Sie könnten uns vor die Tür setzen. Der Geschäftsführer hat das selbst gesagt. Und wo sind wir dann? Auf der Straße.«
»Ich bekomme bald einen Job«, versprach er.
»Wann? Ich habe seit Wochen keinen Gehaltsscheck mehr von dir gesehen. Wie konntest du all das Geld verschwenden?«
»Ich sagte doch, ich besorge mir Arbeit, Weib. Jetzt lass mich in Ruhe. Außerdem – warum lässt du nicht die Mädchen arbeiten gehen? Sie könnten doch auch etwas Geld nach Hause bringen.«
»Es sind Schulmädchen. Sie gehören nicht auf die Straße, wo sie spät am Abend in irgendeinem Fast-Food-Laden arbeiten. Rain hat die Chance, ein Stipendium fürs College zu bekommen«, fügte sie hinzu. Ich hatte keine Ahnung, dass Mama von dem Stipendium wusste.
»Wenigstens Beni könnte arbeiten.«
»Sie gerät doch nur in Schwierigkeiten, Ken. Sie hat nicht so viel gesunden Menschenverstand wie Rain.«
»Tatsächlich? Wie kommt das denn?«, wollte er wissen. Daran, wie er die Worte nuschelte, merkte ich, dass er zu betrunken war, um zuzuhören oder vernünftig zu reden, aber Mama ließ nicht ab von ihm.
»Du gibst mir die Schuld daran. Du findest, sie ist genau wie ich, hm? Und du weißt, die andere ist es nicht, stimmt’s?«
»So ist es nun mal«, sagte sie. »Es ist niemandes Schuld.«
»Klar. Du hältst Rain für etwas Besonderes. Hast du ja schon immer. Du machst dir mehr aus ihr als aus deinen eigenen. Es tut mir jetzt Leid, dass ich es getan habe«, sagte er.
Ich wandte mich vom Herd ab und blieb an der Tür zum Wohnzimmer stehen. Mehr als aus deinen eigenen? Wovon redete er?
»Halt dein besoffenes Maul«, sagte Mama.
»Du hast dich immer aufgeführt, als hättest du eine Art Prinzessin geschenkt bekommen«, erklärte er. »Sie sollte für uns arbeiten. Wir haben genug für sie getan.«
»Ich höre mir das nicht länger an«, sagte Mama. Ich hörte, wie sie zur Tür ging.
»Wirf mir ja nicht vor, dass wir all diese Mäuler zu stopfen haben und Zahnarzt- und Arztrechnungen bezahlen müssen«, brüllte er. »Du wolltest sie und hast dich nie über das Geld beschwert.«
»Das Geld habe ich nie zu sehen bekommen«, schrie Mama zurück. »Halt jetzt den Mund.«
»Es wird Zeit, dass sie einen Teil der Lasten hier übernimmt. Ich bin nicht mehr so jung, wie ich war. Ich bin müde. Soll sie doch etwas mit nach Hause bringen. Weiße Mädchen arbeiten schließlich auch«, fügte er hinzu.
Es war, als wäre ein Blitz in die Wohnung eingeschlagen. Jetzt herrschte die nur zu bekannte Stille vor dem Donnerschlag, nur fand diesmal der Donner in meinem Kopf statt. Was sollte das heißen? Weiße Mädchen arbeiten auch? Ich wartete.
»Bitte, Ken, sei nicht so laut«, bat Mama.
»Ich bin so laut, wie ich will. Das ist meine Wohnung, hörst du? Ich bin der Mann in diesem Haushalt, und ich habe Rechte. Wir haben viel für sie getan.« Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Beim ersten Mal haben wir nicht genug bekommen. Wir sollten mehr bekommen. Ja, das mache ich. Ich besorge uns mehr.«
»Daran solltest du nicht einmal denken, Ken.«
»Warum nicht? Es ist, wie du gesagt hast. Wir haben jetzt mehr Rechnungen. Damals wussten wir nicht, wie teuer das alles würde, verstehst du? Man hat uns nicht genug gegeben, daher ist es unser gutes Recht, mehr zu bekommen.«
»Bleib da sitzen. Rühr dich nicht vom Fleck. Mach jetzt bloß keine Dummheit, Ken Arnold.«
»Ich habe es satt, mich von dir herumkommandieren zu lassen, Latisha. Geh mir aus dem Weg. Ich habe was zu erledigen.«
»Bleib stehen!«, rief Mama.
Als Nächstes hörte ich sie schreien, ein Krachen und das Splittern von Holz. Ich rannte ins Wohnzimmer. Auch Beni kam aus ihrem Zimmer. Als ich zu Mama kam, lag sie auf dem Boden neben dem Tisch. Vermutlich war sie darauf gestürzt. Ken stand über ihr, die Hände zu Fäusten geballt. Er starrte mich an.
»Hast du sie geschlagen?«, wollte ich wissen.
»Steh nicht da rum und beschuldige mich, Mädchen«, sagte er.
Mama streckte die Hand aus. Ihr rechtes Auge wirkte bereits geschwollen. »Lass sie in Ruhe, Ken«, stöhnte sie.
Ken ging um mich herum auf die Tür zu.
»Tu’s nicht, Ken«, bat Mama, aber er war schon zur Tür hinaus.
»Hol mir etwas Eis«, rief Mama Beni zu. Sie drehte sich mir zu. »Ich will nicht, dass Roy davon erfährt, Rain. Dann wird es noch schlimmer.«
»Dein Auge schwillt bereits zu, Mama.«
»Ich werde ihm sagen, ich sei gefallen. Du bestätigst das, Rain.«
»Wann werden all diese Lügen ein Ende nehmen, Mama?«, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihr.
Beni brachte Mama etwas Eis in einen Waschlappen eingepackt. Sie drückte es auf die Augenbraue.
»Was meinte er damit, Mama?«
»Meinen?«
»Ich habe es zufällig gehört. Als er sagte, weiße Mädchen arbeiten auch? Was meinte er damit?«
»Wer weiß«, sagte sie und zuckte die Achseln, während sie sich auf das Sofa hievte. Sie lehnte sich zurück, das Eis gegen die Augenbraue gepresst. Sie schaute Beni an, die die Arme um den Oberkörper geschlungen hatte und aussah, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Wo geht er hin?«, fragte ich. Mama antwortete nicht.
»Was meinte er damit, du hättest nicht genug von ihnen bekommen? Genug von wem, Mama?«
Hör auf, so viele Fragen zu stellen, Rain«, fauchte sie mich an. »Schau nach dem Abendessen, bevor es anbrennt.«
Langsam stand ich auf und schaute dabei von Beni zu Mama.
»Du sagst doch immer, es sei eine Sünde, einander anzulügen, Mama. Das sagst du doch immer.«
»Oh, Rain, bitte. Haben wir nicht schon genug Ärger?«
»Wohin geht Ken, Mama? Von wem will er noch mehr Geld bekommen, und was hat das mit mir zu tun? Bitte, Mama. Sag es mir.« Mama wich sonst nie meinen Fragen aus. Ihr Verhalten ängstigte mich noch mehr als Kens Gewalttätigkeit.
»Oh, Gott. Lieber Gott, hilf mir«, jammerte sie und wiegte sich hin und her.
»Mama?«
Sie hob den Blick zur Decke. Ich wusste, dass sie betete. Ich schaute Beni an, die genauso verängstigt wirkte, wie ich mich fühlte, als sie da stand und praktisch die Luft anhielt.
»Mama?«
Sie schaute mich an, die Lippen fest aufeinander gepresst.
»Ich wollte nicht, dass du es so herausfindest, Rain. Das ist nicht richtig so.
»Bitte, sag es mir, Mama.«
Mein Herz klopfte. Ich presste die Hände gegen den Magen. Tränen standen mir in den Augen.
»Warum kannst du es nicht auf sich beruhen lassen, Kind?«
»Mama, bitte, sag es mir«, rief ich. Ich merkte, wie Beni neben mich trat.
Mama holte tief Luft. Anscheinend schöpfte sie aus ihrem tiefsten Inneren Kraft.
»Er versucht von deiner wirklichen Mama mehr Geld zu bekommen«, sagte sie.
Mir war, als stürzte die Decke der Wohnung über mir ein.
Der lange erwartete Donner dröhnte in meinen Ohren, und dann trat Stille ein.