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KAPITEL 1

Der Anfang vom Ende

Solange ich mich erinnern kann, wohnten wir in einer Wohnung in einem Gebäudekomplex, den jeder The Projects nannte. Selbst als kleines Mädchen konnte ich den Namen nicht ausstehen. Er hörte sich nicht an wie ein Zuhause, wie ein Ort, an dem eine Familie wohnen konnte. Es hörte sich an wie ein Behördenunternehmen, ein Versuch, sich um die Armen zu kümmern, das Programm eines Bürokraten. Beni nannte ihn Die Käfige, was mir das Gefühl gab, als würden wir wie Tiere behandelt.

Vermutlich sahen die Gebäude irgendwann einmal sauber und neu aus. Zu Anfang waren keine Graffiti auf jede freie Fläche gesprüht worden. Die Straßen davor waren noch nicht schmutzig und die kleinen Rasenflächen wirkten nicht heruntergekommen und kränklich. Jetzt sah die ganze Anlage aus wie ein großer Aschenbecher.

Unsere Wohnung war im ersten Stock: zwei-fünfzehn. Wir hatten Glück, weil wir die Treppe benutzen konnten, wenn der Aufzug kaputt war, was häufig der Fall war, und weil sie nicht im Erdgeschoss war, wo häufiger eingebrochen wurde. Einige der Mieter im Erdgeschoss hatten sich Gitter vor den Fenstern anbringen lassen, weshalb Beni die Anlage Die Käfige nannte. Es nutzte nichts, ihr zu sagen, dass die Gitterstäbe in Käfigen dazu dienten, Tiere einzusperren, nicht Leute auszusperren. Sie behauptete, die Behörden wollten uns dort einsperren.

»Wir sind wie ein hässlicher Pickel im Angesicht der Hauptstadt. Ich wette, die Leute in der Regierung wollen nicht, dass ausländische Gäste uns sehen. Deshalb führen sie sie auch nicht durch unsere Straßen«, plapperte sie eine von Kens häufigen, vor Selbstmitleid triefenden Reden nach.

Ich kann nicht leugnen, dass es bei uns eine Menge Angst und Verbrechen gab. Jeder hatte eine Art Alarmanlage, die häufig aus Versehen losging. Das geschah so oft, dass niemand mehr darauf achtete. [Wenn es je ein Beispiel für einen Jungen gab, der vor dem Wolf warnte, bis niemand mehr darauf hörte, dann bei uns in The Projects.]

Beni, Roy und ich mussten nur drei Blocks weit bis zur Schule gehen, aber manchmal hatten wir das Gefühl, wie durch das Minenfeld in einem Kriegsgebiet zu gehen. Während der vergangenen sechs Monate waren zwei Menschen durch Querschläger getötet worden, die aus vorbeifahrenden Autos abgefeuert worden waren, als eine Gang auf die Mitglieder einer anderen Gang schoss, ohne Rücksicht auf unschuldige Zuschauer. Jeder fand das schrecklich, machte aber einfach weiter und akzeptierte es als etwas, das sein muss, wie ein schwerer Sturm, der vorüberzieht. Am schlechten Wetter konnte niemand etwas ändern, und die meisten Menschen hatten gegenüber der Straßenkriminalität die gleiche Einstellung.

Mama hatte sichtlich Angst, wenn einer von uns nach Einbruch der Dunkelheit hinausging. Sie fing tatsächlich an zu zittern. Ich fand, wir lebten nicht viel anders als die Menschen im Mittelalter. Als unser Lehrer über Festungen sprach, über Gräben und Zugbrücken und die Gefahren, die draußen vor den Festungsmauern lauerten, musste ich an The Projects heute denken. Abgesehen von Alarmanlagen und Gittern vor den Fenstern schloss jeder seine Türen drei- oder viermal mit Vorhängeschlössern, Riegeln und Querstangen ab und machte es an den Fenstern genauso. Viele ältere Menschen hielten sich von den Fenstern fern und zitterten bei den Geräuschen der Nacht, beim Geschrei in den Fluren.

Von meinem Fenster aus konnte ich nur die Lichter in einigen der Regierungsgebäude sehen, aber wenn wir ein paar Blocks nach Osten gingen und zum Kapitol schauten, sahen wir das Washington Monument und das Lincoln Memorial verheißungsvoll leuchten. Wir machten Klassenausflüge dorthin und fuhren sogar zum Treasury Building, wo wir zuschauen konnten, wie Geld gedruckt wurde, und zum FBI-Gebäude, wo wir eine Menge über Kriminallabors und Fingerabdrücke lernten. Wir sahen nie den Kongress in Aktion, aber wir besuchten die Gebäude.

Manchmal fühlte ich mich wie ein Astronaut bei diesen Ausflügen. Es war, als würden wir auf einen anderen Planeten transportiert. Wir sahen die prächtigen Häuser, die Botschaften, wie reich und wohlhabend die Leute waren. Wir hörten, welche wundervollen Hoffnungen diese Gebäude und Monumente repräsentierten, aber wir kehrten immer in unsere Realität zurück, wo man Zeuge eines Drogenverkaufs an der Ecke wurde oder sah, wie ein unbeaufsichtigtes Kind neben Glasscherben und rostigem Metall herlief. Was wird aus ihm werden, fragte ich mich. Was wird aus uns werden? In der Schule beschäftigten wir uns mit Demokratie und man vermittelte uns Träume, die offensichtlich für andere reserviert waren, nicht für uns.

Kürzlich starb jemand an einer Überdosis unten im Treppenhaus unseres Gebäudes. Die Polizei schwärmte wie blaue Bienen über den Flur und verschwand dann so schnell wieder, wie sie gekommen war. Keiner von ihnen wirkte überrascht oder auch nur betroffen. Ich glaube, sie hatten es gelernt, das Entsetzen ebenso zu akzeptieren wie wir.

Mama träumte natürlich immer davon, uns hier herauszubekommen. Ich hatte den Eindruck, die meisten Leute, die hier wohnten, konnten sich nicht mehr vorstellen, selbst hier herauszukommen. Mama sprach nur mit uns darüber, weil sie die düsteren ernsten Töne der Entmutigung nicht ausstehen konnte. Einmal, als Ken nicht so viel trank und ein anständiges Gehalt bekam, konnten wir genug Geld beiseite legen, um tatsächlich die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, ein kleines Haus in einer besseren Gegend zu mieten, aber dann hob Ken das Geld eines Tages heimlich ab. Ich erinnere mich, wie Mama nach Hause kam, weiß wie die Wand, nachdem sie entdeckt hatte, was er getan hatte.

»Er hat unsere Träume umgebracht«, murmelte sie.

Ich dachte, Mama bekäme einen Herzanfall. Ihre Lippen waren blau, und sie hatte Probleme beim Atmen. Sie musste ein Glas Whisky trinken, um sich zu beruhigen. Den größten Teil des Nachmittags starrte sie zum Fenster hinaus, stierte mit einem seltsamen, sanften Lächeln auf die Straßen hinunter und summte ein altes Lied, als betrachtete sie ein schönes Feld oder ein majestätisches Gebirge. Ich versuchte mit ihr zu reden, ihr etwas zu essen zu geben, aber anscheinend hörte sie mich nicht. Ich hatte große Angst, Angst um uns alle.

Schließlich kam Ken nach Hause. Roy war zu der Zeit nicht da. Ich war froh darüber, weil sie sich bestimmt geprügelt hätten. Beni und ich standen an der Tür unseres Zimmers und hielten die Luft an. Wir erwarteten, dass Mama vor Wut explodieren würde, wie wir es noch nie erlebt hatten, aber sie hielt uns alle zum Narren. Zu Anfang sprach sie ruhig, fragte ihn nur, warum er so etwas getan hatte, ohne ihr etwas davon zu sagen, und was er mit dem Geld gemacht hatte. Zuerst dachte ich, er würde es nicht sagen. Er ging durch die Küche, nahm sich ein Bier, schlang seine langen dicken Finger um die Flasche, öffnete sie und trank einen tiefen Schluck. Dann lehnte er sich an die Spüle.

»Ich brauchte es«, sagte er schließlich, »um Schulden zu bezahlen.«

»Schulden? Welche Schulden? Die Stromrechnung, die überfällig war? Die Zahnarztrechnungen für Beni und Rain? Welche Schulden, Ken?«, wollte sie wissen.

»Schulden«, wiederholte er und mied ihren Blick. Sie erhob sich langsam.

»Einen Teil des Geldes habe ich im Schweiße meines Angesichtes verdient. Habe ich kein Recht zu erfahren, was damit geschehen ist?«, fragte sie, immer noch bemerkenswert ruhig für ihre Verhältnisse.

»Ich hatte Schulden«, wiederholte er.

Sie schien sich aufzublähen, ihre schmalen Schultern hoben sich, ihr Busen richtete sich auf. Ich schaute Beni an. Ihr Gesicht war voller Wut, und mein Magen fühlte sich wie ein Hornissennest an.

»Du hast unser Geld verspielt, nicht wahr, Ken Arnold? Na los, sag’s mir. Du hast das ganze Geld einfach weggeschmissen, Monate und Monate Arbeit – weg!«

Er wandte sich ihr zu, die Bierflasche an den Lippen, sein Hals verrenkte sich wie der Körper einer Schlange. Plötzlich schlug Mama ihm die Flasche aus der Hand. Sie flog quer durch die Küche und zerschellte auf dem Boden.

Ken war verblüfft. Einen Augenblick lang konnte er sich nicht rühren. Er war so überrascht über ihre Aggression und ihre Wut, dass ihm die Luft wegblieb. Für Beni und mich war der Anblick von Mama, einen Meter zweiundsechzig groß, knapp fünfzig Kilo schwer, wie sie wutschnaubend vor Ken stand mit seinen ein Meter fünfundneunzig und hundertzehn Kilo, mit seinen breiten Schultern und dem dicken Hals, Furcht einflößend. Er konnte sie wie eine Fliege zerquetschen, aber sie streckte ihm drohend das Gesicht entgegen und zuckte nicht mit der Wimper.

»Du gehst einfach hin, zerstörst meine Hoffnungen und sagst mir dann, es waren irgendwelche Schulden? Du vergießt mein Blut, meinen Schweiß auf der Straße und sagst mir, es waren nur irgendwelche Schulden?«

»Hau ab, Weib«, sagte Ken, aber ich sah, dass er zitterte. Ob er vor Wut, die ihn zu überwältigen drohte, oder Angst zitterte, konnte ich nicht sagen. Plötzlich merkte er jedoch, dass wir auch da waren, und sein Stolz regte sich wie ein schlafender Löwe.

»Was denkst du dir eigentlich dabei, mir mein Bier aus der Hand zu schlagen? Was?«, brüllte er, mit weit aufgerissenen Augen. »Du bist verrückt, und ich stehe nicht hier herum und höre mir an, was eine Verrückte sagt.«

Er drehte sich um und stürmte aus dem Haus. Mama schaute ihm einen Augenblick nach und machte sich dann daran, den Dreck wegzumachen. Ich sprang ihr zu Hilfe.

»Pass auf, dass du dich nicht schneidest, Rain«, warnte sie mich mit leiser, müder Stimme, als ich die Glasscherben aufhob. Beni saß zitternd auf ihrem Stuhl.

»Ich mache das schon, Mama«, sagte ich.

Sie widersprach nicht, sondern ging ins Schlafzimmer, um sich hinzulegen. Ich dachte, sie würde nie wieder aufstehen, aber irgendwie fand Mama die Kraft weiterzukämpfen, ihren Optimismus wiederzugewinnen, ihren Garten der Hoffnungen und Träume für uns alle neu zu bestellen.

Ich glaube, es war mehr als alles andere Mamas Mut, der auch mir die Träume erhielt. Wenn sie so sein konnte nach allem, was ihr widerfahren war, musste ich, die ich viel jünger war und noch so viel Chancen hatte, voller Mut sein. Ich musste mich an mein Lächeln halten und durfte nicht wie Beni sein. Ich musste den Drang, alles und jeden zu hassen, unterdrücken. Ich durfte den blauen Himmel und die Sterne nicht aus den Augen verlieren, selbst an regnerischen Tagen, an vielen regnerischen Tagen.

Unsere Schule war nicht besonders ansehnlich. Tatsächlich schloss ich oft die Augen, wenn ich um die Ecke bog und mich dem heruntergekommenen Gebäude näherte. Es wirkte mehr wie eine Fabrik als eine Schule, und alle Fenster waren vergittert. Das Grundstück war von einem Metallzaun mit großen Schildern umgeben, die vor dem Zutritt Unbefugter warnten.

Zwei uniformierte Wachen befanden sich am Vordereingang, wenn die Schüler eintrafen. Um in das Gebäude zu gelangen, mussten wir alle einen dieser Metalldetektoren passieren, wie sie sich auch an Flughäfen befinden. Bei zu vielen Gelegenheiten hatten Schüler, besonders Bandenmitglieder, andere Schüler mit Messern angegriffen, bei einem Schüler aus der zehnten Klasse fand man einen geladenen Revolver. Die Lehrer waren unerbittlich, was zusätzliche Sicherheit anbelangte. Es kam fast zu einem Streik, damit die Metalldetektoren installiert wurden und uniformierte Wachen in den Fluren patrouillierten und die Lehrer unterstützten.

Mr McCalester, mein Geschichtslehrer, meinte, alle Lehrer müssten eine Gefahrenzulage zu ihrem Gehalt erhalten. Bei ihm klang es so, als sollten wir dankbar sein, wenn wir einen Schultag überstanden, ohne verletzt zu werden. Es fiel schwer, sich auf Lyrik und Dramen, Algebra und Geometrie, Chemie und Biologie zu konzentrieren, während außerhalb des eingezäunten Geländes wütende junge Männer darauf warteten, einander und jeden, der ihnen in den Weg kam, zu zerstören.

Die meisten von meinen und Benis Freunden waren kampferprobte Veteranen der Straße. Jeder wusste über Drogen Bescheid, und keinen überraschte es, wenn er feststellte, dass einer Crack, Hasch oder was sonst gerade angesagt war nahm. Weder Beni noch ich hatten je etwas davon genommen oder auch nur probiert. Roy ging es genauso. Manchmal hatte ich Angst, dass Beni nachgeben würde. Einige Freundinnen provozierten uns, sagten, wir seien keine richtigen »Sistas« und benähmen uns hochnäsig.

Manche Mädchen lehnten mich wegen meines Aussehens ab. Mama brachte mir immer bei, Eitelkeit sei eine Sünde, aber ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob ich nicht besondere Gaben mitbekommen hatte. Mein Haar war glatter und glänzender als üblich. Ich hatte eine karamelfarbene Haut, nie große Probleme mit Akne. Meine Augen waren hellbraun, mehr in Richtung mandelfarben, und hatten lange Wimpern. Roy meinte einmal, ich könnte doch Model werden, aber ich hatte Angst, mir so etwas auch nur zu wünschen. Ich hatte Angst, mir irgendetwas Gutes zu wünschen. Schönes muss einem zufällig widerfahren, einen überraschen. Wenn man sich etwas zu verzweifelt wünscht, war das genauso, wie einen Ballon zu sehr festzuhalten. Er platzte, deine Träume lösten sich in nichts auf.

Als ich jünger war, bürstete Mama mir gerne die Haare und summte eine der sanften Melodien, die ihre Mama ihr vorgesungen hatte.

»Du wirst einmal eine wunderschöne junge Lady, Rain«, flüsterte sie mir dann leise ins Ohr, »aber du musst wissen, dass Schönheit auch eine Last sein kann. Du musst lernen, nein zu sagen, und stärker auf dich aufpassen, weil Männer mehr auf dich achten.«

Ihre Warnungen ängstigten mich. Ich ging durch die Schulflure, den Blick geradeaus gerichtet, erwiderte keinen Blick, freute mich über kein Lächeln. Ich wusste, dass die meisten Kids mich für einen Snob hielten, aber ich reagierte so wegen der winzigen Hummel in meinem Herzen, die jedes Mal aufflog, wenn ein Junge mich interessiert anschaute. Dieses Summen jagte mir einen kalten Schauer den Rücken hinunter bis in die Füße. Fast wäre ich lieber nicht attraktiv gewesen.

Ich weiß, dass Beni sich nicht für hübsch hielt, auch wenn ich fand, sie hatte hübsche Züge und schöne ebenholzschwarze Augen. Sie hatte einen stärkeren Busen als ich und ließ gerne ein oder zwei Knöpfe offen oder trug engere Kleidung, aber sie hatte breitere Hüften, und Roy meinte immer, sie sehe aus wie eine Schlampe! Meine Lippen waren schmaler, meine Nase gerader als Benis. Manchmal, wenn Beni nicht hinschaute, studierte ich ihr Gesicht eingehender und suchte nach Ähnlichkeiten zwischen uns. Sie und Roy sahen sich ähnlicher, obwohl sein Haar eher wie meines war.

Einmal fragte ich Mama danach, und sie meinte, dass manchmal die Großeltern stärker zum Vorschein kommen als die Eltern. Ich dachte darüber nach und schaute mir die Bilder von Kens und Mamas Eltern an, aber bei keinem von ihnen konnte ich Ähnlichkeiten mit mir entdecken.

Weder Mamas noch Kens Eltern lebten noch. Kens Vater war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und seine Mutter war an einem Leberschaden gestorben, der durch Alkohol hervorgerufen worden war. Mamas Mutter war vor ihrem Vater gestorben. Sie hatte einen Herzinfarkt erlitten. Meinen Großvater hatte ich kennen gelernt, aber er lebte in North Carolina und starb an einem Emphysem, bevor ich fünf Jahre alt war. Deshalb erinnere ich mich nicht besonders gut an ihn, außer dass er so viel rauchte, dass ich glaubte, der Rauch käme ihm nicht nur aus Mund und Nase, sondern auch aus den Ohren heraus. Mama hatte eine Schwester in Texas. Sie hieß Alana, und sie hatte einen Bruder namens Lamar irgendwo in Florida. Sie hatten nur wenig Kontakt untereinander. Lamar lernte ich nie kennen, aber ich traf Alana einmal zu Weihnachten, als ich sieben Jahre alt war.

Ken redete nie über seinen älteren Bruder Curtis, der wegen bewaffneten Raubüberfalls in Oklahoma im Gefängnis saß. Ein Mann war getötet worden, so dass er eine lange Freiheitsstrafe verbüßte.

Tante Alana hatte angeblich ein Baby, das sie weggegeben hatte, aber wir wussten nichts Genaueres darüber, außer dass es ein Mädchen war. Manchmal beschäftigten Beni und ich uns damit. Wir stellten uns vor, dass sie in unserem Alter war und vermutlich ein wenig wie eine von uns aussah. Gelegentlich neckte Beni Roy und sagte: »Sei vorsichtig, mit welchen Mädchen du schläfst. Eine könnte deine Cousine sein.«

Roy konnte das nicht ausstehen. Er hasste es, wenn Beni über Sex redete. In der letzten Zeit war er auch immer hinter ihr her, dass sie sich etwas anziehen sollte. Sie paradierte in Unterhöschen und BH umher, und manchmal zog sie einen Bademantel an mit nichts darunter und knotete ihn nicht sehr eng zu. Roy wurde darüber so wütend, dass ihm fast die Augen aus dem Kopf sprangen. Er hatte Kens hitziges Temperament, so viel war sicher, aber es kam nicht aus den gleichen Gründen zum Ausbruch.

Mit mir ging er anders um. Wenn er mich unbekleidet sah, schaute er beiseite oder ging rasch weg. Ich versuchte immer anständig angezogen zu sein, wenn ich in der Küche oder im Wohnzimmer war.

Trotz seiner manchmal barschen Umgangsformen war Roy ein so liebevoller Bruder, wie Beni oder ich es nur wünschen konnten. Wenn wir auf der Straße waren, versuchte er so viel wie möglich an unserer Seite zu sein. Jetzt machte er sich Sorgen, dass wir ohne ihn nach Hause gingen, weil er nach der Schule einen Job in Slims Garage übernommen hatte. Er hatte uns beiden mindestens sechsmal gesagt, dass wir direkt nach Hause gehen und uns nicht an irgendeiner Jukeboxbude aufhalten sollten, um uns Hip-Hop-Musik anzuhören. »Da hängen die schlimmsten Typen herum«, warnte er.

»Er will nur, dass wir ewig kleine Mädchen bleiben«, beklagte Beni sich. Zwei von ihren Freundinnen, Alicia und Nicole, versuchten sie ständig zu überreden, nach der Schule auszugehen. Schließlich trafen wir uns eines Nachmittags, nachdem Roy angefangen hatte zu arbeiten, am Ende eines Schultages im Flur, und sie sagte mir, dass sie mit Alicia und Nicole ausgehen und eine Weile bei Oh Henry’s herumhängen wollte. Das war eine schmuddelige Imbissstube in einer der schlimmsten Gegenden. Roy sagte immer, wenn alle Kakerlaken, die dort lebten, eingespannt würden, könnten sie das Gebäude niederreißen.

»Mama wird außer sich sein«, sagte ich.

»Sie wird es nicht erfahren, wenn du es ihr nicht sagst. Ich werde zu Hause sein, bevor sie zurückkommt.«

»Warum willst du dahin?«, hakte ich nach. »Du weißt doch, wie es da ist.«

»Ich weiß nicht, wie es da ist. Ich bin noch nie da gewesen, Rain. Außerdem … ist da jemand, den ich gerne sehen möchte, der geht dahin«, gestand sie mit einem koketten Lächeln. Ich wusste, dass sie in letzter Zeit mit Carlton Thomas geflirtet hatte. Er gehörte zu einer Gang, weil sein Cousin deren Anführer war.

»Wenn du gehst, muss ich auch gehen«, beklagte ich mich.

»Nein, musst du nicht. Ich kann selbst auf mich aufpassen«, prahlte sie laut genug, dass Nicole und Alicia es hören konnten.

»Ich weiß, dass du das kannst, aber Roy wird mich umbringen, wenn ich dich alleine gehen lasse.«

»Roy ist mir egal. Es ist mein Leben«, fauchte sie. »Dich brauche ich auch nicht, um auf mich aufzupassen, Rain. Ich bin kein Baby.«

Sie wirbelte herum und ging zu Alicia und Nicole. Die Mädchen steuerten dem Ausgang zu.

»Okay, warte«, rief ich. »Ich komme mit, aber wir gehen nach Hause, bevor Mama zurückkommt«, warnte ich sie, als ich mich zu ihnen gesellte.

Sie schlenderten dahin. Beni wirkte zufrieden mit sich selbst, ihre Augen leuchteten voller Erwartung. Aber trotz ihres tapferen Auftretens spiegelte sich auch ein wenig Furcht darin.

Die Musik war laut; der Raum war verraucht und überfüllt. Es roch schmierig und ekelhaft süßlich, aber das schien niemandem etwas auszumachen. Einige Leute tanzten. Ältere Jungen, die die Schule schon eine Weile hinter sich hatten, tranken Bier und reichten die Flaschen an diejenigen weiter, die zu jung waren, um sie zu kaufen. Ich sah, wie ein paar Drogendeals vonstatten gingen und übles Zeug weitergegeben wurde. Das meiste davon geschah offen. Der Besitzer, der Barkeeper und die Kellnerin taten so, als wäre der Laden leer. Falls sie irgendetwas sahen, schauten sie geradewegs hindurch.

Ich warf Beni einen Blick zu, als wir eintraten, und sah, dass auf ihrem Gesicht ein ähnlicher Ausdruck von Enttäuschung und Ekel lag wie auf meinem. Aber sobald sie bemerkte, dass ich sie anstarrte, tat sie so, als sei sie immer noch sehr begeistert, dort zu sein.

»Willst du jetzt, wo du siehst, was hier los ist, immer noch hier bleiben?«, fragte ich.

»Natürlich. Ich möchte hier bleiben. Warum bin ich sonst hergekommen?«

Sie tauchte mit Alicia und Nicole in die Menge; gemeinsam umringten sie Carlton, der mit den Mitgliedern einer Gang sprach. Ich wusste, dass es Gangmitglieder waren, weil sie Dickie-pants mit einem blauen Gürtel trugen, der ihnen aus der Tasche hing. Dieses Blau war die Farbe der Crips.

Ich sah niemanden, mit dem ich reden wollte, deshalb versuchte ich außer Sichtweite zu bleiben und hielt mich in der Nähe der Tür auf wie jemand, der befürchtet, dass jeden Moment ein Feuer ausbricht. Nach einer Weile kam Beni zu mir.

»Wenn du nur hier stehen bleibst wie eine Statue, Rain, solltest du nach Hause gehen. Sie lachen alle über dich. Hör dir doch wenigstens die Musik an und tanze etwas.«

»Wir sollten nach Hause gehen, Beni. Schau dir den Laden doch mal an. Sieh dir an, was hier los ist«, forderte ich sie auf und nickte in Richtung auf ein Paar, das sich abknutschte und befummelte, als wäre es alleine auf dem Rücksitz eines Autos.

Ihnen gegenüber befand sich ein junger Mann, der aussah, als sei er ins Koma gefallen, sein Körper war auf dem Stuhl zusammengesunken. Die Musik um uns herum dröhnte so laut, dass man nur schwer etwas verstehen konnte.

»Beni«, brüllte Nicole. »Carlton will dich etwas fragen.«

»Ich gehe nicht«, fauchte Beni mich an und wirbelte herum, um zurückzugehen.

Mir war so unbehaglich, dass ich überlegte, ob ich sie zurücklassen sollte. Ein Teil von mir fand das einfach schrecklich, ein anderer Teil konnte es nicht abwarten, genau das zu tun.

»Ich habe dich hier noch nie gesehen«, sagte jemand. Als ich mich umdrehte, schaute ich in das schwer mit Windpockennarben gezeichnete Gesicht eines jungen Mannes. Eine Zigarette baumelte ihm im Mundwinkel. Sie wirkte wie angeklebt an seinen feuchten Lippen. Über die rechte Augenbraue zog sich eine dünne Narbe, seine Augen waren glasig rot. Auch aus seiner Hosentasche baumelte der blaue Gürtel. Er sah älter aus als alle anderen und war vermutlich Mitte zwanzig.

»Das liegt daran, dass ich noch nie hier war«, erwiderte ich rasch.

»Mischst du dich nicht unters Volk?«, fragte er mit einem kalten Lächeln. Er hatte einen Goldzahn, und als ich genauer hinschaute, sah ich, dass sich unter seinem Kinn ein paar Haare kräuselten. Hart wie eine Pflaume, die in der heißen Sonne getrocknet ist, wirkte er eher purpurrot als schwarz. Seine Lippen, die Unterlippe war an einem Mundwinkel verletzt, verzogen sich höhnisch. Ich spürte, wie sich mir bei seinem Anblick der Magen umdrehte.

»Es macht mich nicht wirklich glücklich, hier zu sein«, erwiderte ich. Er lachte lautlos in sich hinein, dass sein ganzer Körper bebte. Er schob sich einen Zahnstocher in den Mund, sobald er die Zigarette herausgeholt hatte, die er einfach zu Boden warf und austrat.

»Komm mit. Ich zeige dir, wo es ruhiger ist.« Er griff nach mir.

»Nein danke«, sagte ich und wich zurück.

»Ich beiße nicht. Nicht viel«, fügte er mit einem erneuten breiten Lächeln hinzu. Ich entdeckte eine weitere Narbe, an der Seite seines Halses. Sie zog sich auf die rechte Schulter hinunter.

»Tja, ich habe in der letzten Zeit keine Tetanusspritze mehr bekommen«, sagte ich und versuchte so cool wie möglich zu reagieren, obwohl ich innerlich zitterte. Komm schon, Beni, betete ich. Lass uns hier verschwinden.

Er lachte wieder, und zwei andere Mitglieder der Crips gesellten sich zu ihm. Er murmelte ihnen etwas zu, und alle lachten.

»Möchtest du etwas trinken? Rauchen?«, fragte er mich.

»Nein, danke«, sagte ich und wich noch ein paar Schritte Richtung Tür zurück.

»He, Mädchen«, sagte er mit angewidertem Gesichtsausdruck. »Du bist doch hergekommen, um dich zu amüsieren, oder?«

»Nein«, sagte ich.

»Warum bist du denn dann gekommen?«, wollte er wissen. Sein Gesicht verzog sich wütend, er riss die Augen weiter auf, seine Nüstern blähten sich wie die eines Wildpferdes.

»Vielleicht mag sie das Essen, Jerad«, murmelte einer der Jungen an seiner Seite, und alle lachten.

»Wie heißt du?«, fragte Jerad und trat näher. Ich hielt nach Beni Ausschau, sah sie aber nicht mehr.

»Meine Schwester ist hier«, sagte ich ohne besonderen Grund und suchte noch intensiver nach ihr.

»Also bleib in der Nähe. Wie heißt du?«, fragte er, diesmal noch entschiedener.

Seine beiden Kumpel traten zwischen mich und die Tür. Ich umklammerte die Bücher vor meiner Brust noch fester. Als ich mich verzweifelt umschaute, sah ich niemanden, der mir zu Hilfe kommen würde. Wenn jemand in meine Richtung schaute, dann mit einem amüsierten Lächeln voller Freude über mein Unbehagen. Das ängstigte mich noch mehr.

»Was hast du da?«, fragte er mit Blick auf meinen Busen. »Einen vergrabenen Schatz?«

Alle lachten, und der Kreis um mich wurde noch größer, als noch mehr Jungen sich hinzugesellten. Mein Herz begann heftig zu klopfen. Voller Panik schaute ich mich nach Beni um und sah, dass sie mit Carlton tanzte.

»Ich muss jetzt wirklich nach Hause gehen«, sagte ich.

»So bald? Warum, bist du auf Bewährung draußen und musst die Sperrstunde einhalten?«, fragte er. Jedes Mal, wenn er etwas sagte, lachte sein Privatpublikum. Ich spürte überall auf mir ihre Blicke, die mich von Kopf bis Fuß verschlangen. Das gab mir das Gefühl, nackt zu sein, zur Schau gestellt zu werden. Mein Gesicht glühte, als Angst sich in meinem Magen einnistete und mein Blut durch den Körper jagte.

»Vielleicht möchte sie, dass du sie nach Hause bringst, Jerad«, schlug einer der Jungen vor.

»Das könnte ich machen. Ich könnte dich auch nach Hause fahren«, bot er an.

»Nein, danke.«

»Sie ist hochnäsig, Jerad«, kommentierte ein anderer.

»Bist du hochnäsig?«, wollte er wissen. Ich warf ihm einen Blick zu. Seine Augen waren glasig vor Wut. »Glaubst du, du bist was Besseres als wir, nur weil deine Haut heller ist, Mädchen?«

»Nein«, sagte ich.

»Wie kommt es dann, dass du mir deinen Namen nicht verrätst?«, hakte er nach.

»Er lautet Rain.«

»Hm?«

»Rain. Ich heiße Rain, okay? Jetzt lass mich in Ruhe«, bat ich.

»Regen?« Er nahm seinen Zahnstocher heraus und nickte.

»Das gefällt mir. Ich und mein Regenmädchen. Was meinst du, Chumpy?«, fragte er einen viel kleineren, stämmigen Jungen.

»Regen ist ein Problem, das dich überallhin verfolgt, wohin du auch gehst, Jerad«, sagte er.

»Ja, das stimmt, Chumpy. Willst du mein Regenmädchen sein, Rain?«

»Nein, ich will meine Schwester holen und nach Hause gehen«, stöhnte ich.

»Also, das ist nicht besonders freundlich«, sagte er. »Na los«, sagte er und packte meinen Ellenbogen. »Ich spendiere dir etwas zu trinken.«

»Nein, danke.« Ich befreite mich aus seinem Griff.

»Nein, danke? Wie höflich. Ist sie nicht höflich, Chumpy?«, fragte er.

»Ich habe noch nie einen höflicheren Regen erlebt«, witzelte Chumpy. Alle lachten. Der Kreis hatte sich mittlerweile so eng um mich zusammengezogen, dass ich nicht mehr zur Bar oder auch nur bis zum Tanzboden sehen konnte.

»Ich wette, dich zu küssen, ist nicht wie Regen zu küssen«, sagte Jerad. Er kam näher. Ich wich zurück und stieß gegen einen der Jungen, der mich leicht nach vorne schubste auf Jerad zu, der mich in die Arme schloss.

»Whoa, immer mit der Ruhe. Geh nicht so auf mich los, Mädchen«, sagte er lachend, hielt mich aber fest. »Ich bin für dich da. Keine Sorge.«

Alle lachten wieder. Ich kämpfte, um mich aus seiner Umarmung zu lösen.

»Lass mich los«, sagte ich.

»Nachdem ich meinen Kuss bekommen habe. Komm schon«, drängte er und kam mit seinen Lippen näher. »Ich habe noch nie Regen geküsst. Komm schon.«

»Nein, lass mich los.« Ich wand mich hin und her. Er schaute die anderen an, und der Kreis schloss sich enger um mich. Aus Panik stand ich wie festgenagelt auf dem schmutzigen Holzboden.

Jemand packte meine Arme von hinten direkt oberhalb der Ellenbogen und zog sie so heftig zurück, dass mir meine Bücher entglitten und auf den Boden fielen. Ich keuchte, aber bevor ich schreien konnte, hatte Jerad seine dicken feuchten Lippen auf meinen Mund gedrückt und dabei seine Hände auf meine Brüste gelegt. Die Gruppe ließ einen Freudenschrei los. Das zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Denn als er von mir abließ, sah ich, dass die Leute zu uns herüberschauten und lachten. Beni hörte auf zu tanzen und starrte mich verblüfft an.

»Also das war kein Regenkuss«, sagte Jerad, »und das da ist ein Schatz«, fügte er hinzu und deutete mit einem Kopfnicken auf meinen Busen.

Ich rührte mich nicht. Noch nie hatte ich mich so verletzt, so in panischen Schrecken versetzt gefühlt.

»Chumpy«, sagte er. »Heb die Bücher des Mädchens auf. Wo bleiben deine Manieren?«

»Entschuldigung«, sagte Chumpy. Er hob meine Bücher auf und gab sie mir.

Ich wollte mir den Mund abwischen, hatte aber Angst, Jerad wütend zu machen, deshalb wandte ich mich ab und ging auf die Tür zu. Die Jungs wichen nicht zur Seite.

»Lasst sie gehen. Diesmal«, befahl Jerad, und sie wichen zurück. Ich rannte hinaus auf die Straße. Selbst die verdreckte Gosse wirkte auf mich sauberer und frischer als der Ort, an dem ich gerade gewesen war. Ich ging, so schnell ich konnte, mit zitternden Beinen, kalte Tränen rannen mir über die Wangen.

»Rain!«, hörte ich Beni rufen und drehte mich um, bevor ich die Ecke erreichte. »Was ist passiert?«

»Ich gehe nach Hause, Beni. Mir ist es egal, ob du da bleibst. Ich gehe nach Hause.« Ich wischte mir die Wangen und den Mund mit dem Handrücken ab.

»Okay«, sagte sie, als sie merkte, wie fassungslos ich war. »Warte einen Augenblick, hörst du?« Sie ging wieder hinein, kam dann mit ihren Büchern heraus und eilte den Bürgersteig entlang auf mich zu. »Was ist passiert? Warum hat er dich geküsst?«

»Ich wollte das nicht, so viel ist klar«, sagte ich. »Er hat sich mir aufgezwungen. Ich hasse dieses Lokal.«

»Weißt du, wer das ist? Er ist der Anführer der Crips hier. Das ist Jerad Davis«, sagte Beni und sah aus, als redete sie über einen Filmstar.

»Ist mir völlig egal, wer das ist. Er ist widerlich und seine Freunde auch.« Ich ging schneller. »Ich wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde, wenn ich da hineingehe. Ich wusste es einfach.«

»Was war denn so schlimm?«, fragte Beni. »Er hat dich doch nur geküsst.«

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um.

»Was daran so schlimm war? Ich wollte nicht, dass er mich küsste, Beni. Deshalb war es so schlimm. Außerdem hat er mich auch angefasst«, sagte ich und deutete auf meine Brüste. Sie riss die Augen weit auf.

»Wirklich?«

»Er ist widerlich und seine Freunde auch, so wie die meisten Leute da drinnen«, rief ich und ging schneller.

Beni murmelte leise etwas vor sich hin und holte mich ein.

»Besser sagst du Mama und Roy nichts darüber«, warnte sie mich.

»Keine Sorge. Ich will nicht mehr daran denken. Du kommst schon nicht in Schwierigkeiten.«

Wir hasteten die Straße entlang. Beni wirkte mürrisch und frustriert, und ich fühlte mich total verletzt.

Es fiel mir immer schwer, Roy anzuschauen und meine Gedanken und Gefühle vor ihm zu verbergen. Er hatte so eine Art, durch meine Augen in mein Herz zu sehen und meine Gedanken zu lesen. Niemand war empfänglicher für meine Stimmungen als Roy, nicht einmal Mama. Ich hatte Angst davor, was er sehen würde, wenn er nach Hause kam.

Wie üblich fing ich an, das Abendessen für uns zuzubereiten. Wenn ich beschäftigt war, dachte ich, würde ich nicht ständig daran denken, was mir zugestoßen war. Beni half mir etwas, schmollte aber immer noch, weil sie das Oh Henry’s so schnell wieder verlassen musste. Als Roy von der Arbeit nach Hause kam, ging er direkt zum Herd und schaute sich das Brathähnchen an. Ich hatte kleine Kartoffeln und Zwiebeln mit im Topf, und das Aroma war köstlich. Er holte tief Luft und rieb sich den Bauch.

»Ich verhungere«, verkündete er. »Ich habe in nur vier Stunden so viel gearbeitet wie an einem ganzen Tag. Slim hat in mir einen neuen Sklaven gefunden, aber ich beklage mich nicht.«

Beni saß am Tisch und blätterte eine Filmzeitschrift durch. Roy starrte sie einen Augenblick an, dann sah er mich an.

»Besser wäschst du dir dieses Öl und die Schmiere ab, bevor Mama nach Hause kommt«, warnte ich ihn. Er nickte, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Ich wandte rasch den Blick ab.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. Ich machte den Fehler, den Blick zu Beni zu heben, bevor ich antwortete.

»Ja«, sagte ich.

»Was ist los, Rain?«, wollte er wissen.

»Nichts ist los, Roy. Wir … machen uns nur Sorgen wegen Ken«, sagte ich.

Er starrte auf die übliche Weise durch mich hindurch, seine dunklen Augen fixierten mich so eindringlich, dass es einfacher war, Fliegenfänger wieder loszuwerden als diesen Blick. Ich musste so tun, als kontrollierte ich das Hähnchen.

»Ihr Mädchen seid nach der Schule direkt nach Hause gekommen?«

»Ja«, sagte Beni schnell. »Und hör auf, uns wie Kleinkinder zu behandeln. Nur weil Ken davongelaufen ist, heißt das nicht, dass du unser Daddy bist, Roy Arnold.«

»Mach Mama bloß noch mehr Probleme, dann wirst du schon sehen, wer dein Daddy ist«, drohte er ihr mit seinem langen dicken Zeigefinger.

Beni ließ sich nicht leicht von jemandem einschüchtern, am wenigsten von Roy. Sie schleuderte ihm ihre Zeitschrift wie eine Frisbeescheibe zu und traf ihn an der Brust. Nicht, dass sie ihn verletzt hätte. Aber dass sie überhaupt so etwas tat. Er ging um den Tisch herum auf sie zu.

»Roy!«, rief ich.

Mit hochgezogenen Schultern blieb er stehen und schaute mich an.

»Du handelst dir Ärger ein, Mädchen«, drohte er Beni.

»Das geht dich nichts an«, jammerte sie.

»Lass sie in Ruhe, Roy«, sagte ich. »Mama kommt jeden Augenblick nach Hause. Bitte«, bettelte ich. »Ich will nicht, dass sie sich noch mehr aufregt.« Er schaute wieder mich an, dann Beni und verließ die Küche.

»Warum hast du das getan, Beni? Du kennst doch sein Temperament.«

»Ich will nicht, dass er glaubt, er könnte uns herumkommandieren, nur weil er älter ist und ein Mann«, sagte sie. »Ich fühle mich hier wie ein Vogel im Käfig, wenn er sagt, tu dies nicht, tu das nicht, warum trägst du das oder warum trägst du keine längeren Röcke? Ich brauche niemanden, der mir sagt, was ich tun soll«, erklärte sie. »Dir sagt er nie etwas.«

»Er will doch nur sichergehen, dass dir nichts passiert, Beni.«

»Dafür brauche ich ihn nicht. Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.« Sie starrte mich einen Augenblick an. »Bring mich nicht in Schwierigkeiten, Rain«, warnte sie mich und ging in unser Zimmer.

Mama kam nach Hause, bevor Roy in die Küche zurückkehrte. Sie war müde, und ich sah, wie enttäuscht sie war, dass Ken nicht zurückgekehrt war. Ich wusste, dass sie das gehofft hatte.

»Das Essen sieht köstlich aus, Schätzchen. Hat Beni dir nicht geholfen?«, fragte sie mit einem Blick auf unsere geschlossene Zimmertür.

»Doch, sie hat mir geholfen, Mama«, log ich. Eine Lüge, die Mama davon abhielt, sich aufzuregen, war eine gute Lüge, fand ich. Sie schüttelte jedoch den Kopf und lächelte mich an. »Ganz bestimmt. Das Mädchen rührt keinen Finger, wenn ich nicht hinter ihr stehe und sie antreibe. Ist Roy schon zu Hause?«

»Er wäscht sich gerade fürs Abendessen, Mama.«

»Gut. Das mache ich auch, und dann helfe ich dir«, sagte sie.

»Es gibt nichts mehr zu tun, Mama. Der Tisch ist schon gedeckt«, sagte ich.

Sie seufzte tief, lächelte mich an und blieb auf dem Weg nach draußen in der Tür stehen.

»Gott sei Dank haben wir dich, Rain. Das macht alles viel einfacher«, sagte sie.

Es brach mir fast das Herz, als ich sah, wie sie den Kopf senkte und leicht gebeugt hinausging. Sie war erschöpft und voller Sorge.

Wie konnte so eine kleine Frau so viel Kummer ertragen?

Beim Abendessen waren wir alle stiller als üblich. Mama versuchte uns Fragen über die Schule zu stellen, aber Beni blieb mürrisch, und Roy betrachtete uns weiter misstrauisch. Ich beschäftigte mich die ganze Zeit und erklärte mich sogar gerne bereit, alleine zu spülen, als Beni klagte, sie hätte so viele Hausaufgaben zu machen.

»Den Lehrern ist es völlig egal, wie viel sie uns aufhalsen«, stöhnte sie.

»Mach aber alles«, befahl Mama.

»Also, ich schaffe nicht alles, wenn ich nicht sofort anfange«, erklärte sie.

»Schon gut, Ma. Ich habe das meiste schon erledigt. Ich brauche Beni heute Abend nicht.«

Beni stürmte zum Telefon, um ihre Freundinnen anzurufen, sobald sich dazu eine Möglichkeit bot. Mama blieb bei mir, und Roy ging ins Wohnzimmer, um fernzusehen.

»Ich hoffe immer, dass es eines Tages nicht mehr so schwer für uns ist, Rain, aber anscheinend ändert sich nichts. Die erste Gelegenheit, die sich dir bietet, dieses Höllenloch zu verlassen, wirst du nutzen, hörst du?«

»Ich werde dich nie zurücklassen, Mama«, versprach ich.

»Aber sicher wirst du das, Schätzchen. Das sollst du doch. Ihr Kinder seid die Hoffnung.«

Sie legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich an sich. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer. Nachdem ich fertig aufgeräumt hatte, wollte ich in unser Zimmer gehen, aber Roy kam an die Wohnzimmertür. Er hatte nicht wirklich ferngesehen, sondern den richtigen Augenblick abgepasst.

»Komm einen Augenblick herein, Rain«, bat er. »Was?«

»Komm herein«, sagte er entschiedener. Ich senkte den Kopf und ging ins Wohnzimmer.

»Ich muss noch Hausaufgaben machen, Roy.«

»Das kannst du auch. Aber erst will ich, dass du mir die Wahrheit sagst, Rain. Was ist heute passiert?«

»Oh, Roy, mach doch nicht noch mehr Ärger.«

»Ich befürchte, dass genau das passieren wird, wenn ich nicht alles weiß. Du lügst mich nicht an, Rain. Wir sagen einander immer die Wahrheit«, sagte er leise. Sein Blick ruhte auf meinem Gesicht – sanft, liebevoll, bittend.

»Beni hat sich von ihren Freundinnen überreden lassen, ins Oh Henry’s zu gehen«, enthüllte ich. »Ich ging mit, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist, nur bin ich dann in Schwierigkeiten geraten.«

»Was für Schwierigkeiten?«

»Jemand namens Jerad drängte sich mir auf, seine Freunde umzingelten mich, und dann küsste er mich.«

Ich wollte ihm nicht alles erzählen. Ich sah, dass es schon reichte, dass ich geküsst worden war.

»Was passierte dann?«

»Ich rannte hinaus, Beni folgte mir, und wir kamen nach Hause. Das ist alles. Es wird nicht wieder vorkommen. Das verspreche ich, Roy. Wir gehen nie wieder dahin.«

»Jerad Davis?«

»Ja«, bestätigte ich.

»Er hat schon Leute umgebracht, Rain«, sagte Roy.

Mein Herz pochte so heftig, dass ich nach Luft schnappen musste.

»Wenn er je wieder in deine Nähe kommt, muss ich das wissen, hörst du?«

»Ja«, sagte ich und nickte.

»Beni wird unbändig«, sagte er und schaute in Richtung auf unser Zimmer. »Eines Tages wird sie noch in richtige Schwierigkeiten geraten. Ich will nicht, dass du immer hinter ihr herrennst. Sie zieht dich mit sich herunter.«

»Ich kann sie nicht im Stich lassen, Roy.«

»Du lässt sie nicht im Stich, aber wenn sie stur ist, lass nicht zu, dass sie dich herunterzieht«, warnte er. »Versprich es mir.« Er griff nach meiner Hand. »Versprich es mir, Rain.«

»Ich verspreche es, Roy«, sagte ich. Seine Augen wurden wieder sanft.

»Gut«, sagte er. »Du bist zu gut für diese Gegend hier, Rain. Eines Tages muss ich dich hier rausholen.«

»Wir alle müssen hier raus, Roy.«

»Sicher«, sagte er.

Er starrte mich eindringlich an, verwirrt legte ich den Kopf schief. Er zwinkerte ein paar Mal, dann raffte er sich auf. »Mach jetzt deine Hausaufgaben«, sagte er wie ein älterer Bruder, »und versuch nicht wieder, etwas vor mir geheim zu halten.«

Ich lächelte ihn an, dann beugte ich mich vor und küsste ihn auf die Wange.

Er stand noch in der Tür und schaute hinter mir her, als ich die Zimmertür erreichte und mich umschaute. Sein Blick stöberte den kleinen Schmetterling in meinem Herzen auf, der auch Alarm schlug, wenn Jungen in der Schule oder auf der Straße mich anstarrten. Vielleicht spürte Roy auch die Flügel meines Schmetterlings, weil er sich rasch abwandte und verschwand.

Verwirrung brachte ebenso wie Lärm im Radio meine Gedanken durcheinander. Ich flüchtete mich in meine Hausaufgaben, dankbar für diese Ablenkung, die mich den Tag vergessen ließ.

Haus der Schatten

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