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Zurück in die Schule

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Dann kam der Tag im Januar, an dem wir uns trennen mußten. Wir hatten beide unsere Aufnahmeprüfungen abgelegt, und zu meiner und Chris’ Überraschung waren sie ganz erstaunlich gut ausgefallen. Ich hatte die Zulassung für die zehnte Klasse bekommen, Carrie für die dritte, und Chris war in die Oberschule aufgenommen worden, in der er in einem Jahr seine Collegezulassung erhalten sollte.

Carrie war von dem Gedanken, von nun an eine Privatschule zehn Meilen außerhalb der Stadt besuchen zu müssen, alles andere als begeistert. Sie heulte tagelang und verkündete lautstark, daß sie keine halbe Stunde auf dieser Schule bleiben würde. Einen Tag, nachdem Carrie in diese Internatsschule gebracht werden würde, sollte auch Chris uns verlassen. Ich würde alleine bei Henny und Dr. Paul Zurückbleiben, um die Oberschule am Ort zu besuchen – und wir hatten uns einen Eid geschworen, uns nie, nie zu trennen. Ich hatte mich übrigens gezwungen, meine geheimen Lebensmittelvorräte unbemerkt wieder zurückzulegen, so daß niemand außer Chris je davon erfuhr.

Am Tag vor ihrer Abreise saß Carrie auf meinem Schoß und jammerte noch immer. »Ich will aber einfach nicht da hin«, schluchzte sie. »Warum kann ich denn nicht auf deine Schule gehen, Cathy? Warum muß denn ich ganz allein woanders hin?« »Ganz allein?« Ich lachte, um zu verbergen, daß ich im Grunde unter den gleichen Ängsten litt wie sie. »Du wirst dort nicht allein sein, Liebling. Da sind mindestens hundert andere Mädchen in deinem Alter, mit denen du von morgens bis abends zusammen bist. Ich gehe auf eine Oberschule, aber du mußt eben erst einmal die Grundschule besuchen. Anders geht es nicht.« Ich streichelte ihr über das lange, schimmernde Haar, das ihr in Kaskaden um das süße Porzellangesicht fiel. Oh, sie war so ein hübsches kleines Ding. Was für eine kleine Schönheit wäre sie gewesen, wenn der große Kopf im Verhältnis zu ihrem zierlichen Körper nicht so unproportioniert gewesen wäre. »Carrie, du hast vier Menschen, die dich furchtbar liebhaben: Dr. Paul, Henny, Chris und mich. Wir alle wollen das Beste für dich, und selbst wenn du ein paar Meilen von uns getrennt bist, haben wir dich doch ständig in unseren Gedanken und in unserem Herzen bei uns. Und an jedem Wochenende kommst du ja auch nach Hause. Und, ob du es glaubst oder nicht, eine Schule ist überhaupt kein langweiliger, verlorener Ort, wo man sich nicht wohl fühlen kann. Es wird dir Spaß machen, bestimmt! Du bekommst ein hübsches Zimmer, das du mit einem Mädchen in deinem Alter teilen kannst. Ich weiß, daß es ganz toll ist, wenn man mit vielen anderen Mädchen zusammen leben und spielen kann. Ihr werdet geheime Clubs und Banden haben, und nachts flüstern und kichern und euch bis morgens früh im Bett die verrücktesten Geschichten erzählen. Es wird dir gefallen.«

Nach langem Weinen fügte Carrie sich schließlich in ihr Schicksal, aber ihre flehenden Augen verrieten mir, daß sie es nur tat, weil sie uns und ihrem geliebten Paul einen Gefallen tun wollte – Paul, ihrem großen Wohltäter, für den sie alles tun würde. Für ihn würde sie nachts auf einem Nagelbrett schlafen. Und diese Mädchenschule war für sie nichts anderes als ein Brett voller Nägel, auf dem sie sich die nächsten Jahre abquälen mußte.

Um ihr den Aufbruch zu erleichtern und sie zu trösten, schenkte Paul ihr einen kleinen roten Koffer aus Leder, zu dem auch noch die passende Kosmetiktasche kam, in der sich ein goldener Kamm, Bürste, Spiegel und ein paar Tuben und Fläschchen befanden, sowie eine lederne Mappe mit Briefpapier in der gleichen Farbe. »Das ist ja wu-u-nderba-ar!« rief sie begeistert, denn mit allem, was rot und glänzend war, ließ sich ihr Herz noch immer im Sturm erobern. »Ich wußte gar nicht, daß man solche schönen roten Koffer mit goldenen Spiegeln und solchen Sachen darin kaufen kann.«

»Das ist die schönste Kosmetiktasche, die ich je gesehen habe«, versicherte ich ihr eifrig. »Da kannst du eine Zahnbürste reinlegen, deine Zahnpasta, deine Seife und deine anderen Toilettensachen.«

»Ich denk’ aber gar nicht dran, die ollen Sachen aus dem Bad in so einen schönen Koffer zu tun.«

Darüber mußten wir alle laut lachen. Danach rannte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer, um eine kleine Schachtel zu holen, die ich für Carrie vorbereitet hatte. Nachdenklich hielt ich die Schachtel eine Weile in der Hand, nachdem ich sie aus meiner Schublade gekramt hatte, und überlegte mir, ob ich wirklich die damit verbundenen alten Erinnerungen wecken sollte. Doch ich tat es. »In dieser Schachtel sind ein paar alte Freunde von dir, Carrie. Wenn du in Miss Deans Schule für die gehobene Erziehung junger Damen bist, kannst du immer einmal einen Blick in diese Schachtel werfen, wenn du dich allein fühlst. Zeig den Inhalt nicht jedem, nur ganz besonderen Freunden.«

Sie bekam große Augen, als sie die winzigen Porzellanpuppen sah, zu denen auch das kleine Baby gehörte, das Carrie so sehr geliebt hatte. Ich hatte die ganze Porzellanfamilie aus dem riesigen, berühmten Puppenhaus von Foxworth Hall gestohlen, mit dem Carrie endlose Stunden in unserem Zimmer unter dem Dachboden gespielt hatte. Sogar die kleine Wiege war dabei.

»Mr. und Mrs. Parkins«, keuchte Carrie, Freudentränen in den großen blauen Augen, »und das kleine Clara-Baby! Wo kommen die denn her?«

»Du weißt, wo sie herkommen.«

Sie sah mich groß an und hielt mit ausgestreckten Händen die Schachtel vor sich, in der die zerbrechlichen Püppchen auf Watte lagen, ein unbezahlbares Erbe. »Cathy, wo ist Mammi?«

O Gott! Das war genau die Frage, die ich befürchtet hatte. »Carrie, du weißt doch, daß wir ausgemacht haben, allen zu erzählen, unsere Eltern sind tot.«

»Ist Mammi denn tot?«

»Nein ... aber wir müssen so tun, als wäre sie es.«

»Warum?«

Noch einmal erklärte ich Carrie ganz von vorne, warum wir niemandem erzählen durften, wer wir wirklich waren und daß unsere Mutter noch lebte, weil wir sonst wieder in diesem furchtbaren Zimmer in Foxworth Hall enden würden. Sie saß auf dem Boden neben ihrem glänzenden neuen Koffer, die Schachtel mit den Puppen auf dem Schoß und starrte mit gequälten Augen zu mir auf, ohne mich wirklich zu begreifen.

»Hast du verstanden, Carrie? Du darfst niemandem erzählen, daß du eine andere Familie hast als Chris, Dr. Paul, Henny und mich.«

Sie nickte, aber verstanden hatte sie nichts. Ich sah es an ihren zitternden Lippen und dem sehnsüchtigen Blick – im Grunde wollte sie noch immer ihre Mammi zurück.

Schließlich schafften wir es doch irgendwie, diesen furchtbaren Tag hinter uns zu bringen, an dem Paul und ich mit Chris zu der zehn Meilen außerhalb von Clairmont liegenden Schule fuhren, um Carrie dort in die Obhut von Miss Dean Dewhurst zu geben. Die Schule machte einen guten Eindruck auf mich, aber auf Carrie offenbar einen verheerenden. Doch sie nahm sich eisern zusammen und schaffte es sogar, uns zum Abschied anzulächeln. »Ich schaffe es schon, Cathy. Am Wochenende holt ihr mich ja wieder nach Hause.«

Und am Tag darauf war dann der Abschied von Chris an der Reihe. Es tat verdammt weh, ihm dabei zu helfen, seine Sachen für das Internat zusammenzupacken. Chris und ich sahen uns den ganzen Tag nicht in die Augen. Wir konnten es einfach nicht ertragen.

Seine Schule lag noch viel weiter entfernt. Paul mußte dreißig Meilen weit fahren, bevor wir vor dem alten Gebäude aus roten Ziegeln ankamen, das in einem weiten Park lag und an der Vorderfront die obligatorische Reihe weißer Säulen aufwies. Paul spürte, daß wir eine Weile allein sein wollten, und murmelte als flüchtige Entschuldigung, er würde sich gerne den Park etwas ansehen. Natürlich waren Chris und ich dann nicht wirklich allein. Wir standen in einer Ecke der Vorhalle, und ständig gingen junge Leute an uns vorbei und warfen uns neugierige Blicke zu. Ich hätte mich so gerne in seine Arme geworfen, seine Wange an meiner gefühlt. Ich hätte so gerne gehabt, daß es ein richtiger Abschied von unserer Liebe gewesen wäre, so ausführlich und vollständig, daß wir beide gewußt hätten, die Sache läge jetzt hinter uns. »Chris«, stammelte ich, den Tränen nahe, »was soll ich nur mit dir machen?«

In seinen blauen Augen schimmerten wechselnde Farben, das Kaleidoskop seiner Gefühle. »Cathy, es wird sich nichts ändern«, flüsterte er heiser und umklammerte meine Hände. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werden wir noch immer die gleichen Gefühle füreinander haben. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben – ob Recht oder Unrecht, ich kann es nicht ändern. An der Schule hier werde ich mich völlig in meine Studien vertiefen, damit ich einfach nicht genug Zeit habe, dich zu vermissen und daran zu denken, was wohl gerade in deinem Leben vorgeht.«

»Und so wirst du am Ende noch der jüngste Arzt, den die Universitätsannalen bisher verzeichnet haben«, versuchte ich ihn aufzuziehen, doch meine Stimme klang so gebrochen wie seine. »Heb dir bitte noch ein bißchen Liebe für mich auf, versteck sie irgendwo tief in deinem Herzen, genau wie ich mir meine Liebe für dich gut aufheben werde. Aber wir dürfen nicht den gleichen Fehler machen wie unsere Eltern.«

Er seufzte tief und ließ den Kopf hängen. Seine Augen waren starr auf den Boden gerichtet. Vielleicht studierte er das Muster der Fliesen, vielleicht hing sein Blick aber auch an meinen hochhackigen Schuhen, durch die meine Beine noch hübscher aussahen.

»Paß gut auf dich auf.«

»Natürlich«, erwiderte ich. »Paß du gut auf dich auf. Arbeite nicht zu viel. Sieh zu, daß du auch ein wenig Spaß hast, und schreib mir wenigstens täglich einmal. Ich glaube, es hat keinen Zweck, wenn wir unser ganzes Geld für Telefongespräche ausgeben.«

»Cathy, du bist einfach furchtbar hübsch. Vielleicht zu hübsch. Ich sehe dich an, und dann sehe ich unsere Mutter vor mir. Du bist ganz sie, die Art, wie du deine Hände bewegst und deinen Kopf auf die Seite legst. Du solltest unseren Doktor nicht zu sehr mit deinem Charme verwöhnen. Ich meine, er ist schließlich auch nur ein Mann. Er hat keine Frau mehr – und du wirst mit ihm jetzt ohne mich im selben Haus leben.« Er sah mich plötzlich scharf an. »Stürz dich nicht in irgendeine andere Geschichte, nur um deinen Gefühlen für mich zu entfliehen. Das ist mir sehr ernst, Cathy.«

»Ich verspreche dir, schön brav zu sein.« Es war ein sehr schwaches Versprechen, nachdem er selbst in mir jene Urtriebe geweckt hatte, die besser noch geschlafen hätten, bis ich alt genug war, mit ihnen umgehen zu können. Jetzt sehnte ich mich nach nichts so sehr, wie nach der Erfüllung als Frau durch jemanden, bei dem ich kein schlechtes Gewissen haben brauchte.

»Paul«, erklärte Chris zögernd, »ist ein großartiger Bursche. Ich mag ihn sehr. Carrie liebt ihn. Was empfindest du für ihn?«

»Die gleiche Zuneigung wie du und Carrie. Dankbarkeit. Daran kann nichts Falsches sein.«

»Er ist dir doch nicht irgendwann mal zu nahe gekommen?«

»Nein, was denkst du von ihm? Du weißt, was für ein anständiger Mann er ist.«

»Aber ich sehe, mit welchen Blicken er dich verfolgt, Cathy. Du bist so jung, so hübsch und so ... lebenshungrig.« Er unterbrach sich und wurde rot, so daß er schuldbewußt zur Seite blickte, bevor er weiterredete. »Es kommt mir häßlich vor, und ich fühle mich sehr elend dabei, dich das zu fragen, nachdem er so viel für uns getan hat. Aber manchmal kommt es mir so vor, als habe er uns nur bei sich aufgenommen, weil er dich haben will.«

»Chris, er ist fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Wie kannst du so was denken?«

Chris sah erleichtert aus. »Du hast recht«, sagte er. »Du bist seine Pflegetochter und viel zu jung. In seinem Krankenhaus muß er genug Schönheiten haben, die hinter ihm her sind und mit denen er zufrieden sein kann. Ich glaube, du bist vor ihm sicher.«

Lächelnd zog er mich dann sanft in die Arme und drückte mir einen weichen, zärtlichen Abschiedskuß auf die Lippen. »Es tut mir leid wegen Weihnachten«, erklärte er, nachdem der Kuß vorbei war.

Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich dann aus seinen Armen zurücktrat, um ihn endlich allein zu lassen. Wie sollte ich leben, ohne ihn in meiner Nähe zu wissen? Das gehörte auch zu den Dingen, die sie uns angetan hatte. Wir waren durch unsere schrecklichen Erfahrungen so voneinander abhängig geworden, wie Geschwister es sonst nie sind. Ihr Fehler, alles war ihre Schuld! Alles, was in unserem Leben falsch war, lag an ihrer unseligen Gier nach dem Erbe von Foxworth Hall.

»Lies abends nicht zu lange, Chris, sonst mußt du bald eine Brille tragen.« Er grinste, versprach es mir und winkte mir in einer zögernden Abschiedsgeste zu. Keiner von uns brachte das Wort »Auf Wiedersehen« über die Lippen. Ich wirbelte auf dem Absatz herum, als ich die Tränen in meinen Augen spürte, und rannte die große Freitreppe hinunter in den hellen Sonnenschein hinaus. In Pauls Wagen kauerte ich mich auf dem Sitz zusammen und weinte los, wie Carrie es tat, wenn sie unglücklich war.

Plötzlich tauchte Paul von irgendwoher auf und setzte sich schweigend hinter das Steuer. Er ließ den Wagen an, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück, um zu wenden. Zu meinen geröteten Augen und dem nassen Taschentuch in meinen Händen sagte er kein Wort. Er fragte mich auch nicht, warum ich so stumm dasaß, wo doch sonst ständig irgendwelche albernen Bemerkungen aus mir hervorsprudelten.

Riesige Bäume säumten die breite Straße, krumme, knorrige Äste reckten sich schwarz in den blauen Winterhimmel. »Das da vorn sind Magnolien«, sagte Paul, »es ist ein Jammer, daß sie gerade nicht blühen, aber es dauert nicht mehr lange. Unsere Winter hier sind kurz. Eines solltest du dir übrigens unbedingt merken: Berühre niemals eine Magnolienblüte, nicht einmal mit deinem Atem. Sonst verwelkt sie sofort und stirbt.«

Er warf mir einen spöttischen Blick zu, so daß ich mir nicht sicher war, ob er das gerade ernst gemeint hatte.

»Bevor du mit deinem Bruder und deiner Schwester kamst, fürchtete ich mich regelrecht davor, in die Straße zu meinem Haus einzubiegen. Ich war immer so alleine, niemand wartete auf mich. Jetzt bin ich fröhlich, wenn ich nach Hause fahre. Es tut gut, sich wieder glücklich fühlen zu können. Ich danke dir, Cathy, daß ihr nach Süden gefahren seid und nicht nach Norden oder Westen.«

Sobald wir zu Hause angekommen waren, ging Paul in sein Büro, und ich lief die Treppe hinauf, um mir die Einsamkeit mit Übungen an meinem Ballettbarren zu vertreiben. Paul kam nicht zum Abendessen; das machte alles noch schlimmer. Auch nach dem Essen tauchte er nicht mehr auf, so daß ich früh zu Bett ging. Ganz allein. Ich war ganz allein. Carrie war nicht mehr da. Mein verläßlicher Christopher Meißner, auch er hatte mich verlassen. Zum erstenmal mußten wir heute nacht unter getrennten Dächern schlafen. Ich vermißte Carrie. Ich fühlte mich elend, verlassen und verängstigt. Ich brauchte jemanden.

Das Schweigen des großen Hauses und die tiefe Dunkelheit der Nacht raunten mir ständig in den Ohren. Allein, du bist allein, allein, niemand kümmert sich um dich, niemand vermißt dich, für niemanden bist du wichtig. Ich mußte an meine Essensvorräte denken. Jetzt tat es mir leid, daß ich sie nicht mehr zur Sicherheit bei mir behalten hatte. Dann fiel mir ein, daß mir etwas warme Milch guttun würde. Warme Milch half schließlich beim Einschlafen – und tiefer Schlaf, genau das brauchte ich jetzt.

Wie Blüten im Wind

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