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Ein neues Zuhause

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So hat es also angefangen. Wir zogen in das große Haus des Doktor Paul Sheffield ein und in sein Leben. Heute weiß ich, daß wir im Grunde jemand waren, auf den er schon immer gewartet hatte. Wir wurden sein Lebensinhalt, als hätte er überhaupt kein eigenes Leben gehabt, bevor wir zu ihm gekommen waren. Aber er vermittelte uns den Eindruck, daß wir ihm einen Gefallen taten, sein Leben mit ihm zu teilen, daß wir ihm etwas schenkten. Und wir brauchten so sehr jemanden, an den wir glauben konnten. Doch im Grunde hatten wir ihn in jener ersten halben Stunde einfach überrumpelt. Das weiß ich inzwischen auch.

Er gab Carrie und mir ein großes Schlafzimmer mit zwei Betten und vier hohen, nach Süden blickenden Fenstern, durch die der Raum immer hell und freundlich war, und zwei kleinen Fenstern nach Osten. Chris und ich sahen uns an und fühlten einen Schmerz, dessen Gemeinsamkeit furchtbar und erschreckend war. Zum erstenmal nach so langer Zeit würden wir in getrennten Schlafzimmern schlafen müssen. Ich wollte mich nicht von ihm trennen und die Nacht nur noch mit Carrie verbringen, die mich niemals vor meinen Alpträumen schützen konnte, wie er es getan hatte. Ich glaube, unser guter Doktor spürte etwas, das ihm sagte, es wäre besser für ihn, sich jetzt zurückzuziehen, denn er entschuldigte sich und verschwand den Flur hinunter. Erst danach begann Chris zu sprechen: »Wir müssen vorsichtig sein, Cathy. Wir wollen doch nicht, daß er Verdacht schöpft ...«

»Es gibt gar nichts, weswegen er Verdacht schöpfen könnte. Es ist vorbei«, antwortete ich, aber ich sah ihm dabei nicht in die Augen, denn ich fühlte schon damals, daß es niemals vorbei sein würde. Oh, Mammi, was hast du angerichtet, uns vier in einem Zimmer eingeschlossen aufwachsen zu lassen! Von allen Menschen hättest du am besten wissen müssen, was daraus entstehen mußte! »Nie«, flüsterte Chris. »Gib mir einen Gutenachtkuß. Hier gibt es keine bösen Träume, die dich in der Nacht quälen.«

Er küßte mich, ich küßte ihn, wir sagten gute Nacht. Mit Tränen in den Augen sah ich meinem Bruder nach, als er aus dem Zimmer ging und mir schnell noch einen Blick über die Schulter zuwarf.

Kaum hatte sich die Tür geschlossen, begann Carrie laut zu weinen. »Ich kann nicht ganz alleine in einem Bett schlafen«, schluchzte sie, »dann falle ich doch raus! Cathy, warum ist dieses Bett so klein?«

Es endete damit, daß Chris und der Doktor zurückkommen mußten und die beiden Betten zu einem großen Doppelbett zusammenschoben. So gefiel es Carrie schon wesentlich besser, doch blieb zwischen den Betten ein Spalt, und ich merkte im Laufe der Nacht, daß immer einer von uns beiden genau zwischen den Matratzen lag.

Ich liebte das Zimmer, das Dr. Sheffield uns gegeben hatte. Es war wunderschön mit seiner hellblauen Tapete und den farblich darauf abgestimmten Vorhängen. Jede von uns hatte einen bequemen Stuhl mit zitronengelbem Polster, und die Möbel waren alle beige. Genau die Art von Zimmer, die ein junges Mädchen gerne hat, nichts Düsteres, keine Bilder mit Höllendarstellungen an den Wänden. Die Hölle war nur noch in meinen Gedanken, weil ich zu oft an das denken mußte, was hinter uns lag. Mammi hätte eine andere Lösung finden können, wenn sie es nur wirklich gewollt hätte!

»Sie mußte uns nicht in diesem furchtbaren Zimmer einschließen! Es war die Gier nach diesem verdammten Vermögen, das Verlangen nach dem Leben im Reichtum, pure Habgier ... und Cory liegt deshalb jetzt unter der Erde!«

»Vergiß es, Cathy«, meinte Chris, als wir uns zum zweitenmal gute Nacht sagten.

Ich hatte furchtbare Angst, ihm zu erzählen, was ich zu fühlen glaubte. Ich drückte meinen Kopf an seine Brust, so daß ich ihm nicht in die Augen sehen mußte. »Chris, es war Sünde, was wir getan haben, nicht wahr?«

»Es wird nie wieder geschehen«, erwiderte er steif, dann riß er sich von mir los und rannte aus dem Zimmer, als würde ich ihn verfolgen. Ich wollte gut sein, ein gutes Leben führen und niemanden verletzen, besonders nicht Chris. Und trotzdem mußte ich mitten in der Nacht aus meinem Bett kriechen und zu Chris schleichen. Er schlief, und ohne ihn aufzuwecken kuschelte ich mich neben ihn. Aber er wurde wach, als er die Bettfedern quietschen hörte. »Cathy, was, zum Teufel, machst du denn hier?«

»Es stürmt draußen so«, flüsterte ich, »laß mich nur einen kleinen Augenblick neben dir liegen, dann verschwinde ich wieder.« Keiner von uns bewegte sich. Wir wagten nicht einmal zu atmen. Und dann, ohne überhaupt zu begreifen, wie es geschah, lagen wir uns in den Armen, und er küßte mich. Küßte mich mit solcher Leidenschaft, daß ich den Kuß beantwortete, auch wenn ich es eigentlich gar nicht wollte. Es war schlecht und böse! Und doch wollte ich nicht wirklich, daß er aufhörte. Die schlafende Frau in mir erwachte und bestimmte meine Gefühle. Ich wollte das, was er auch so sehr wünschte. Aber ich – der denkende, abwägende Teil meiner Persönlichkeit jedenfalls – stieß ihn zurück. »Was machst du? Ich dachte, du hättest versprochen, daß so etwas nie wieder passieren würde.«

»Du bist zu mir gekommen ...«, sagte er mit rauher Stimme.

»Aber nicht dafür!«

»Wofür hältst du mich, Cathy? Du darfst das nie wieder tun!«

Ich verließ ihn und weinte in meinem eigenen Bett, denn er war weit weg und konnte mich nicht trösten, wenn meine Alpträume kamen. Niemand war hier, der mich in den Arm nehmen konnte, niemand gab mir etwas von seiner Stärke ab. Dann erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter, die mich mit quälenden Gedanken verfolgten – glich ich ihr wirklich so sehr? War ich dabei, die gleiche Art schwache, anschmiegsame Frau zu werden, die immer einen Mann zu ihrem Schutz brauchen würde? Nein! Ich würde selbst mit allem fertig werden, auch mit meinen Alpträumen.

Ich glaube, es war am nächsten Tag, als Dr. Sheffield mir die vier Bilder brachte, damit ich etwas für die Wände in unserem Zimmer hatte, Ballerinas in vier verschiedenen Positionen. Für Carrie brachte er eine Vase aus Milchglas mit vier entzückenden Veilchen. Er hatte bereits Carries Leidenschaft für alles bemerkt, was rosa und purpur war. »Ihr könnt alles tun, um euch in diesem Zimmer zu Hause zu fühlen«, erklärte er uns. »Wenn euch die Tapeten nicht gefallen, lassen wir das Zimmer im Frühjahr renovieren.« Ich starrte ihn an. Im Frühjahr würden wir doch gar nicht mehr hier sein.

Carrie saß auf ihrem Bett und hielt begeistert die Vase in der Hand, während ich mich mühsam aufraffte, das zu sagen, was ich sagen mußte. »Wir werden im Frühjahr nicht mehr hier sein. Wir können es uns nicht leisten, uns in Zimmern zu sehr zu Hause zu fühlen, die wir bald wieder verlassen müssen, auch wenn Sie es uns hier so schön wie möglich machen wollen.

Er stand schon in der Türe, drehte sich aber bei diesen Worten zu mir um und sah mich lange schweigend an. Er war groß, gut 1,80 m, und seine Schultern waren so breit, daß sie den ganzen Türrahmen ausfüllten.

»Ich dachte, es würde dir hier gefallen«, sagte er schließlich in einem herausfordernden Ton, einen eigenartigen Blick in den dunklen Augen.

»Mir gefällt es hier ja auch!«, antwortete ich schnell. »Uns allen gefällt es hier, aber wir können Ihre Hilfsbereitschaft schließlich nicht für immer ausnutzen.« Er nickte, ohne mir zu erwidern, und ging, und ich wandte mich Carrie zu, die mich mißbilligend anfunkelte.

Jeden Tag nahm Dr. Sheffield Carrie mit ins Krankenhaus. Zunächst weinte sie jedesmal und weigerte sich mitzugehen, solange ich nicht auch dabei war. Sie erzählte uns phantastische Geschichten, was man im Krankenhaus alles mit ihr anstellte, und beklagte sich wegen all der bohrenden Fragen, mit denen man sie dort überhäufte.

»Carrie, wir erzählen nie Lügen, das weißt du. Wir drei sagen uns gegenseitig immer die Wahrheit. Aber wir laufen nicht herum und erzählen jedem von dem Leben, das wir auf dem Dachboden geführt haben – verstanden?«

Sie starrte mich mit ihren großen, gequälten Augen an. »Ich erzähle niemandem, daß Cory in den Himmel gegangen ist und mich allein gelassen hat. Ich erzähle niemandem davon, nur Dr. Sheffield.«

»Du hast ihm davon erzählt?«

»Ich konnte doch gar nicht anders.« Carrie vergrub den Kopf in ihrem Kissen und begann zu weinen.

Nun wußte er also von Cory und davon, daß Carries Zwillingsbruder in einem Krankenhaus an Lungenentzündung gestorben sein sollte. Mit traurigen Augen fragte er Chris und mich an diesem Abend nach den Einzelheiten von Corys Krankheit und wollte die näheren Umstände seines Todes wissen.

Wir drängten uns Schulter an Schulter in eine Ecke des Sofas im Wohnzimmer, als er uns erklärte: »Ich freue mich, euch mitteilen zu können, daß durch das Arsen keine bleibenden Schäden an Carries inneren Organen entstanden sind, wie wir alle ja zunächst befürchtet haben. Schaut mich nicht so an. Ich habe nichts von eurem Geheimnis verraten, aber ich mußte dem Krankenhauslabor schließlich sagen, wonach sie suchen sollten. Ich habe ihnen eine Geschichte erzählt, daß ihr das Gift versehentlich zu euch genommen hättet, ein Unfall. Und eure Eltern wären gute Freunde von mir, und ich hätte euch bei mir aufgenommen, um euch behandeln zu können und vielleicht auch zu adoptieren, weil eure Eltern ins Ausland gegangen sind.«

»Carrie wird es also überleben?« flüsterte ich und verging fast vor Erleichterung.

»Ja, sie wird leben – wenn niemand versucht, sie am Trapez zu trainieren.« Er lächelte wieder. »Ich habe für euch beide morgen einen Untersuchungstermin ansetzen lassen, falls ihr nichts dagegen habt. Die Untersuchung übernehme ich natürlich selbst.«

Ich war überhaupt nicht scharf darauf, mich vor ihm auszuziehen und mich am ganzen Körper abtasten zu lassen. Auch wenn Chris mir sagte, daß es albern wäre, auch nur den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, ein Arzt von vierzig könnte auch nur das kleinste erotische Vergnügen daran gewinnen, ein Mädchen in meinem Alter vor sich zu haben. Aber als er mir das erklärte, sah er mir nicht in die Augen, so daß ich nicht sicher sein konnte, was er wirklich dabei dachte. Vielleicht hatte Chris recht, denn als ich auf dem Untersuchungstisch lag, ganz nackt, schien Dr. Sheffield nicht mehr jener Mann zu sein, dessen Augen mir ständig folgten, solange wir uns im privaten Teil seines Hauses aufhielten. Er nahm an mir die gleichen Untersuchungen vor wie an Carrie, aber er stellte mir wesentlich mehr Fragen. Fragen, die mir unangenehm waren.

»Du hast schon seit mehr als zwei Monaten keine Menstruation gehabt?«

»Ich hatte sie auch nie regelmäßig, wirklich nicht. Die erste Blutung kam, als ich zwölf war. Ich habe mir schon Sorgen deswegen gemacht, aber Chris las darüber in einem der medizinischen Bücher nach, die Mammi ihm für sein Studium gekauft hat. Er erklärte mir, daß zuviel Angst und Streß die Periode bei einem Mädchen länger hinauszögern können. Sie glauben doch nicht ... ich meine ... es ist doch alles in Ordnung mit mir, oder?«

»Es gibt jedenfalls nichts Auffälliges. Du scheinst völlig normal zu sein, sieht man einmal davon ab, daß du zu dünn bist, zu blaß und an leichter Blutarmut leidest. Bei Chris ist es genauso, aber als Junge ist bei ihm die Blutarmut nicht so ausgeprägt. Ich werde euch allen dreien Vitamintabletten verschreiben.«

Ich war froh, als es endlich vorbei war und ich mich wieder anziehen und aus der Praxis fliehen konnte, wo mich die Frauen, die für Dr. Sheffield arbeiteten, recht komisch ansahen. Ich rannte direkt in die Küche. Mrs. Beech bereitete gerade das Abendessen vor. Sie lächelte mich strahlend an, als ich hereinkam, ihr Gesicht ein richtiger schwarzer Mond, der freundlich aufging, die Haut so glänzend wie öliges Plastik. Die Zähne, die sie mir dabei zeigte, waren die weißesten, perfektesten Zähne, die ich je gesehen hatte.

»Himmel, bin ich froh, daß es vorbei ist!« sagte ich, ließ mich auf einen Stuhl fallen und griff nach einem Messer, um die Kartoffeln zu schälen. »Ich mag nicht, wenn Ärzte an mir herumfummeln. Ich habe Dr. Sheffield viel lieber, wenn er einfach nur ein Mann ist. Sobald er diesen langen weißen Kittel anzieht, verändert sich irgend etwas mit seinen Augen. Ich kann dann nicht mehr lesen, was er denkt. Und ich bin sehr gut darin, etwas von den Augen abzulesen, Mrs. Beech.«

Sie grinste mich mit spöttischer Komplizenschaft an, zog dann aus ihrer Schürzentasche den ständig griffbereiten Notizblock und schrieb schnell eine der knappen Bemerkungen, die sie so rasant und treffend produzieren konnte. Obwohl sie seit einiger Zeit versuchte, uns die Zeichensprache beizubringen, war noch keiner von uns soweit, daß er mit diesen Taubstummengesten eine fließende Unterhaltung mit ihr hätte führen können. Ich mochte es auch einfach gern, wenn sie ihre meist sehr witzigen Notizen schrieb. Doktor sagt, stand da, junge Leute brauchen viel gutes, frisches Obst und Gemüse, viel mageres Fleisch, aber wenig Desserts und Kohlehydrate. Ihr sollt Formen bekommen, aber durch Muskeln, nicht durch dicke Bäuche.

In den zwei Wochen, in denen wir nun schon Mrs. Beechs köstliche Mahlzeiten zu uns nahmen, hatte selbst Carrie ein wenig zugenommen. Ja, sie aß jetzt mit wahrer Begeisterung, was bei ihr wirklich eine bemerkenswerte Erscheinung war. Während ich die Kartoffeln schälte, setzte Mrs. Beech unsere geschriebene Unterhaltung fort. Elfenmädchen, von jetzt an nennst du mich nur Henny. Keine Mrs. Beech mehr da.

Sie war der erste dunkelhäutige Mensch, den ich näher kennenlernte, und obwohl ich mich am Anfang in ihrer Gegenwart nicht recht wohl gefühlt hatte, war das Gefühl der Fremdheit in den letzten zwei Wochen einem tiefen gegenseitigen Vertrauen gewichen. Ich hatte schnell gelernt, daß sie nur eine einfache Frau mit einer anderen Hautfarbe, aber mit den gleichen Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten war, wie wir sie alle hatten.

Ich liebte Henny, ihr breites Lächeln, ihre riesigen geblümten Kittel, und am meisten liebte ich die Weisheit, die aus ihren kleinen bunten Notizzetteln sprach. Später lernte ich auch, ihre Zeichensprache zu verstehen, obwohl ich darin niemals so gut wurde, wie es ihr »Doktor-Sohn« war.

Paul Scott Sheffield war ein seltsamer Mann. Er sah oft traurig aus, wenn es nach außen gar keinen sichtbaren Grund gab, warum er traurig sein sollte. Dann lächelte er und sagte: »Ja, Gott hat es gut mit Henny und mir gemeint, als er euch drei an jenem Tag in den Bus gesetzt hat. Ich habe eine Familie verloren und lange um sie getrauert, und dann hat ein gütiges Schicksal mir eine neue komplette Familie ins Haus geschickt.«

»Chris«, sagte ich an diesem Abend, als wir uns wieder einmal nur zögernd voneinander trennen konnten, »als wir früher in unserem verschlossenen Zimmer gelebt haben, da warst du der Mann, das Familienoberhaupt sozusagen. Manchmal ist es schon ein komisches Gefühl, Dr. Sheffield hier immer um uns zu haben, ihn alles, was wir tun, beobachten lassen zu müssen. Und bei allem, was wir sagen, hört er zu.«

Er errötete. »Ich weiß, der Doktor ist dabei, meinen Platz einzunehmen. Um ehrlich zu sein«, und er schwieg einen Moment, während sich seine Wangen noch mehr röteten, »es gefällt mir gar nicht, daß er meinen Platz in deinem Leben einnimmt, aber ich bin sehr dankbar für das, was er für Carrie getan hat.«

Irgendwie ließ das, was unser Doktor für uns tat, Mammi im Vergleich nur noch tausendfach schlechter wirken. Zehntausendfach schlechter!

Der nächste Tag war Chris’ achtzehnter Geburtstag, den ich nie vergessen werde. Ich war völlig überrascht über die Geburtstagsparty mit den vielen schönen Geschenken, die Dr. Sheffield für Chris vorbereitet hatte. Geschenke, die Chris’ Augen aufleuchten ließen und die uns dann beiden so eindringlich vor Augen führten, wie tief wir in seiner Schuld standen. Wieviel hatten wir nicht schon von ihm angenommen. Und doch machten wir schon heimlich Pläne, ihn bald zu verlassen. Carrie ging es längst gut genug, die Reise fortzusetzen.

Nach der Geburtstagsfeier saßen Chris und ich auf der Veranda hinter dem Haus und schmiedeten weitere Pläne. Ein einziger Blick in sein Gesicht sagte mir, daß Chris im Grunde nicht den einzigen Mann verlassen wollte, der ihm helfen konnte – und auch würde –, sein großes Ziel zu erreichen, das Medizinstudium.

»Ich mag die Art wirklich nicht, wie er dich ansieht, Cathy. Seine Augen verfolgen dich wirklich die ganze Zeit. Männer in seinem Alter finden Mädchen in deinem Alter oft unwiderstehlich, und du bist ständig hier bei ihm, so unmittelbar in seiner Reichweite.«

Finden Männer Mädchen in meinem Alter unwiderstehlich? Wie faszinierend, das zu wissen. »Aber Ärzte haben doch jede Menge hübsche Sprechstundenhilfen, die sich ihnen gern zur Verfügung stellen«, meinte ich lahm. Wohl wissend, daß ich alles tun würde, um Chris zu helfen, damit er sein Ziel erreichte, fast bis zum Mord. »Erinnerst du dich noch an den Tag, als wir hierher kamen? Er redete damals davon, was für eine Konkurrenz wir beim Zirkus wahrscheinlich zu erwarten haben. Chris, er hat recht. Wir können niemals in einem Zirkus arbeiten. Das war nur ein alberner Kindertraum.«

Er starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen ins Leere. »Das weiß ich auch.«

»Chris, er wirkt so einsam. Vielleicht sieht er mich einfach deshalb ständig an, weil es hier sonst nichts Interessantes anzusehen gibt.« Trotzdem faszinierend zu erfahren, daß Männer von vierzig Mädchen von fünfzehn ausgeliefert waren. Wie wunderbar, über sie jene Macht zu spüren, die meine Mutter immer so meisterhaft zu nutzen gewußt hatte.

»Chris, wenn Dr. Sheffield nun das Richtige sagt, ich meine, wenn er uns wirklich ehrlich bei sich behalten will, würdest du dann bleiben?«

Er runzelte die Stirn und betrachtete eingehend die Hecken, die er vor kurzem so sorgfältig geschnitten hatte. Nachdem er lange überlegt hatte, sagte er langsam: »Stellen wir ihn auf die Probe. Wenn wir ihm sagen, daß wir ihn verlassen wollen, und er sagt nichts, um uns daran zu hindern, dann gibt er uns damit auf seine höfliche Art zu verstehen, daß wir im Grunde für ihn keine so wichtige Rolle spielen.«

»Ist das wirklich fair, ihn so auf die Probe zu stellen?«

»Ja. Das ist eine gute Art, ihm die Gelegenheit zu geben, uns loszuwerden, ohne sich deswegen am Ende noch schuldig fühlen zu müssen. Weißt du, die Leute tun manchmal einfach nette Sachen, weil sie glauben, sie müßten sie tun, und nicht weil sie es wirklich wollen.«

»Oh!«

Als wir am nächsten Abend wieder auf der Veranda saßen, gesellte sich Paul zu uns. Paul. In meinen Gedanken begann ich schon, ihn so zu nennen – wurde vertraut mit ihm, familiär, mochte ihn mehr und mehr. Er sah immer so beiläufig elegant aus, so sauber und adrett, wenn er da in seinem weißen Lieblingskorbstuhl saß und verträumt Zigarettenrauch in die Abendluft blies. Carrie saß vor uns auf der obersten Stufe der Treppe zum Garten. Pauls Garten war phantastisch. Eine Marmortreppe führte neun Stufen tief hinab. Es gab eine kleine japanische Brücke, rot lackiert, die sich über einen Bach schwang. Überall standen nackte Statuen von Männern und Frauen, geschickt, aber unauffällig und unaufdringlich plaziert, die dem Garten eine Atmosphäre des Verführerischen, der Liebe zur weltlichen Schönheit gaben. Sie waren klassische Statuen, oder besser, Kopien klassischer Statuen, graziös und elegant und doch ... ich erkannte diesen Garten, wußte, was er war. Denn ich war schon vorher hier gewesen, in meinen Träumen.

»Meine Rosen, das sind alles altmodische Rosen, bei denen man den schweren Geruch noch nicht weggezüchtet hat«, erklärte Paul uns gerade. »Warum pflanzt man Rosen eigentlich noch, wenn man das besondere Parfüm ihres Duftes nicht mag? Eine Schau. Diese neuen Gartenrosen sind nichts für mich.«

Im schwindenden rötlichen Licht der Abenddämmerung traf sich der Blick seiner schimmernden Augen mit meinen. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Ich fragte mich, wie seine Frau wohl gewesen sein mochte und was für ein Gefühl es wohl sein könnte, von jemandem wie ihm geliebt zu werden. Schuldbewußt wichen meine Augen seinem langen, forschenden Blick aus. Ich wollte nicht, daß er mitbekam, was in mir vorging.

»Du siehst so verwirrt aus, Cathy, warum?« Seine Frage schien mich ein wenig zu verspotten, so als wisse er schon um all meine geheimsten Gedanken. Chris warf mir einen harten, warnenden Blick zu.

»Ach, das ist nur Ihr roter Pullover«, meinte ich dümmlich. »Hat Henny Ihnen den gestrickt?«

Er kicherte leise, dann blickte er auf den hübschen Pullover, den er trug. »Nein, der ist nicht von Henny. Meine ältere Schwester hat ihn mir zum Geburtstag gestrickt und dann per Post geschickt. Sie lebt auf der anderen Seite der Stadt.«

»Warum schickt Ihnen Ihre Schwester ein Geschenk, anstatt es Ihnen selbst zu überreichen?« fragte ich. »Und warum haben Sie uns nicht von Ihrem Geburtstag erzählt? Wir hätten Ihnen auch gerne etwas geschenkt.«

»Nun«, begann er, schlug die Beine übereinander, um sich bequem in seinem Sessel zurückzulehnen, »mein Geburtstag ist gerade gewesen, bevor ihr hier aufgetaucht seid. Ich bin vierzig geworden, für den Fall, daß Henny euch das noch nicht erzählt haben sollte. Seit dreizehn Jahren bin ich Witwer, und meine Schwester Amanda hat kein Wort mehr mit mir gesprochen seit jenem Tag, an dem meine Frau und mein Sohn bei einem Unfall ums Leben kamen.« Seine Stimme wurde immer leiser, bis er schließlich schweigend, düster und abwesend ins Leere starrte.

Tote Blätter raschelten auf der Wiese. Eine leichte Brise wehte sie mir vor die Füße, wo sie wie braune, vertrocknete, tote Mäuse liegen blieben. Meine Gedanken kehrten unwillkürlich zu einer gewissen verhängnisvollen Nacht zurück, als Chris und ich so verzweifelt gebetet hatten, während wir uns auf dem kalten Schieferdach umklammert hielten, und der Mond auf uns herabgesehen hatte wie das zornige Auge Gottes. Würden wir nicht für diese eine furchtbare Sünde einen Preis bezahlen müssen? Die Großmutter hätte gesagt, ja! Ihr verdient die schlimmste Bestrafung! Eine Satansbrut seid ihr! Ich wußte es schon immer!

Und während ich noch so mit meinen düsteren Gedanken saß, meldete Chris sich zu Wort. »Dr. Sheffield, Cathy und ich haben darüber mehrfach gesprochen, und wir glauben, daß Carrie sich inzwischen soweit erholt hat, daß wir Sie wieder verlassen können. Wir sind Ihnen zutiefst verpflichtet für alles, was Sie für uns getan haben, und wir werden Ihnen alles bis auf den letzten Cent zurückzahlen, auch wenn wir ein paar Jahre dafür brauchen werden ...« Seine Hände griffen schnell nach meiner Hand und drückten sie fest, um mich zu warnen, jetzt nichts anderes zu sagen.

»Nun warte mal, Chris«, unterbrach ihn Dr. Sheffield, richtete sich in seinem Stuhl gerade auf und setzte beide Füße fest vor sich auf den Boden. Ganz offensichtlich wurde es jetzt ernst. »Du solltest keinen Augenblick glauben, ich hätte nicht gewußt, daß dies kommen würde. Jeden Abend habe ich mich vor dem nächsten Morgen gefürchtet, weil ich Angst haben mußte, ihr wärt dann vielleicht verschwunden. Ich habe mir inzwischen die gesetzlichen Bestimmungen genau angesehen, die ich beachten müßte, wenn ich euch offiziell adoptieren wollte. Dabei fand ich heraus, daß es gar nicht so kompliziert ist, wie ich mir vorgestellt habe. Es scheint, daß die meisten Kinder, die von zu Hause fortlaufen, behaupten, sie wären Waisen. Deshalb müßt ihr vor Gericht nachweisen, daß euer Vater wirklich tot ist. Falls er noch lebt, benötige ich seine Zustimmung und natürlich auch die eurer Mutter.«

Mir stockte der Atem! Die Zustimmung unserer Mutter? Das bedeutete, wir mußten sie Wiedersehen! Und ich wollte sie nicht Wiedersehen, nie!

Er sprach weiter, während seine sanften Augen meine Abneigung gegen diese Vorstellung deutlich zu erkennen schienen. »Das Gericht würde eure Mutter zu einer Anhörung vorladen. Wenn sie in diesem Staat lebte, müßte sie innerhalb von drei Tagen erscheinen, aber da sie in Virginia wohnt, wird man ihr drei Wochen Zeit lassen. Falls sie sich in dieser Zeit nicht meldet, wird das Vormundschaftsgericht meine vorübergehende Vormundschaft über euch in eine permanente umwandeln – aber nur, wenn ihr dem Gericht erklärt, daß ihr mit meiner Betreuung einverstanden seid.«

»Sie sind wunderbar!« rief ich. »Aber unsere Mutter wird nicht vor Gericht erscheinen. Sie will uns vor der ganzen Welt geheimhalten, denn wenn etwas über unsere Existenz herauskommt, verliert sie ihr Vermögen. Selbst ihr Mann würde sich wahrscheinlich von ihr abwenden, wenn er wüßte, auf welche Art sie ihre Kinder jahrelang versteckt hat. Sie können jede Wette darauf eingehen, daß sie eine permanente Vormundschaft über uns zugesprochen bekommen, wenn Sie sie beantragen – aber es könnte Ihnen am Ende leid tun, das getan zu haben!«

Chris Finger drückten meine Hand noch fester, und Carrie sah mit großen, besorgten Augen zu mir auf.

»In ein paar Wochen ist Weihnachten. Wollt ihr mich jetzt alleine lassen, damit ich wieder meine Feiertage so einsam verbringen muß wie bisher? Ihr seid jetzt schon über drei Wochen bei mir, und ich habe den Nachbarn erzählt, daß ihr Kinder von Verwandten seid, die kürzlich verstorben sind. Henny und ich haben über die Sache lange nachgedacht. Sie hat dabei die gleichen Gefühle. Sie findet wie ich, daß ihr drei gut zu uns paßt. Wir wollen beide, daß ihr bei uns hier im Haus bleibt. Junge Leute machen aus diesem Haus erst wieder ein richtiges Zuhause. Ich fühle mich durch eure Anwesenheit gesünder und glücklicher, als ich mich seit Jahren gefühlt habe. Seit dem Tod meiner Familie habe ich mich nie richtig daran gewöhnen können, als Junggeselle leben zu müssen.« Seine Stimme klang noch überzeugter und entschlossener. »Ich fühle, das Schicksal hat mich dazu bestimmt, euch in meine Obhut zu nehmen. Ich akzeptiere die Tatsache, daß ihr von Gott gesandt seid, um mir die Gelegenheit zu geben, die Fehler wieder gutzumachen, die ich in der Vergangenheit begangen habe.«

Puh! Von Gott gesandt! Ich war schon mehr als zur Hälfte überzeugt. Ich wußte, daß die Menschen immer einen Grund dafür finden, wenn sie etwas unbedingt haben wollen; nur zu gut wußte ich das. Und trotzdem stiegen mir Tränen in die Augen, als ich Chris fragend ansah. Er hielt meinem Blick stand und schüttelte verwundert den Kopf, als könne er nicht begreifen, was ich wollte. Sein Griff um meine Hand wurde eisern, noch immer sah er nur mich an und nicht Paul.

»Es tut uns leid, daß Sie Ihre Frau und Ihren Sohn verloren haben. Aber wir können sie Ihnen nicht ersetzen, und ich weiß auch nicht, ob wir richtig gehandelt haben, als wir Ihnen drei Kinder aufbürdeten, die nicht Ihre eigenen sind. Sie sollten darüber auch nachdenken und es so sehen, wie ich es gerade gesagt habe. Sie werden es verdammt schwer haben, jemals eine neue Frau zu finden, wenn Sie in eine neue Ehe gleich drei Adoptivkinder mitbringen.«

»Ich habe nicht vor, wieder zu heiraten«, antwortete Paul mit einer seltsamen Betonung. Dann fügte er etwas vage hinzu: »Meine Frau hieß Julia und mein Sohn Scotty. Er war erst drei Jahre alt, als er starb.«

»Oh«, stöhnte ich, »wie schrecklich, einen so jungen Sohn zu verlieren und die Frau noch dazu.« Ich konnte den Schmerz dieser schlecht verheilten Wunde förmlich spüren und fühlte seine Trauer, als wäre es meine eigene. »Starben sie bei einem Autounfall wie unser Vater?«

»Einem Unfall«, erwiderte er scharf, »aber nicht in einem Auto!«

»Unser Vater war erst sechsunddreißig, als er starb, und wir hatten gerade für ihn die Geburtstagsfeier vorbereitet mit Geschenken, Kuchen und Überraschungen ... aber er kam nie an, statt dessen kamen zwei Polizisten ...«

»Ja, Cathy«, sagte er sanft, »du hast mir davon erzählt. Erwachsen zu werden ist für niemanden einfach, und wenn man jung ist und dann auch noch auf sich allein gestellt, ohne eine angemessene Erziehung, mit wenig Geld, ohne Familie, ohne Freunde ...«

»Wir sind nicht allein. Wir haben einander!« unterbrach ihn Chris schroff, um ihn noch weiter auf die Probe zu stellen.

Paul redete unbeeindruckt weiter. »Wenn ihr mich nicht haben wollt und das, was ich euch geben kann, euch nicht genug ist, dann geht nach Florida und habt meinen Segen dazu. Werft von mir aus alles weg, was ihr euch schon erarbeitet habt – Chris für sein Medizinstudium, Cathy an Balletttraining und Carrie, sie würde hier ein glückliches und gesundes Leben führen können. Glaubt nicht, daß ihr es in Florida schaffen werdet, ohne in Abhängigkeit von irgend jemand anderem zu geraten. Also überlegt es euch, wollt ihr bei mir bleiben und mir helfen mein Leben auszufüllen, um auch eure Ziele erreichen zu können? Oder wollt ihr es in der harten, unbekannten Welt dort draußen versuchen?«

Ich saß auf dem Verandageländer, so nahe an Chris gedrängt wie möglich, meine Hände in seinen Händen. Ich wollte bleiben. Ich wollte das haben, was Paul Chris geben konnte, ganz zu schweigen von dem, was er Carrie und mir bot.

Alles hier gefiel mir, nahm mich gefangen, begeisterte mich – die selbst im Spätherbst noch warme, weiche Luft und der sanfte Schimmer in Pauls Augen. Selbst das Geklapper von Hennys Töpfen und Pfannen wurde für mich zu einer magischen Musik, und mein Herz, auf dem so lange eine schwere Last gelegen hatte, begann sich zum erstenmal seit Jahren leichter und freier zu fühlen. Vielleicht gab es doch Vollkommenheit, auch hier in der wirklichen Welt, nicht nur in Märchenbüchern. Vielleicht waren wir doch gut genug, um aufrecht und stolz unter Gottes blauem Himmel zu leben. Vielleicht waren wir doch keine vergifteten Pflanzen, die aus bösem Samen in verbotener Erde gewachsen waren.

Und mehr als alles, was der Doktor gesagt hatte oder was seine vertrauenerweckenden, schimmernden Augen mir versprachen, waren es, glaube ich, die Rosen, die hier immer noch blühten, obwohl der Winter längst hätte hier sein müssen – es war der Duft dieser Rosen, der mich mit seinem süßen Parfüm überwältigte und mir sagte, daß ich hier nicht mehr fortgehen würde.

Aber letzten Endes trafen nicht Chris und ich die Entscheidung. Carrie war es. Plötzlich sprang sie von der Treppe auf und lief Paul in die ausgestreckten Arme. Sie klammerte sich an ihn und schlang ihm ihre dünnen Arme fest um den Nacken. »Ich will nicht Weggehen! Ich liebe dich!« rief sie wie verrückt. »Ich will nicht nach Florida und in den Zirkus! Ich will überhaupt nirgendwo anders hin!« Und dann schluchzte sie los, heulte und weinte, ließ all den Schmerz endlich frei heraus, den sie seit Corys Tod in sich angestaut und den sie so lange unterdrückt hatte. Paul hielt sie auf dem Arm und setzte sie dann auf seinen Schoß, während er ihr die feuchten Wangen küßte, bevor er begann, ihr mit seinem Taschentuch behutsam die Tränen abzuwischen.

»Ich liebe dich auch, Carrie. Ich wollte immer schon ein kleines Mädchen wie dich mit blonden Locken und großen blauen Augen haben.« Aber er sah dabei nicht Carrie an. Er sah mich an.

»Und ich möchte auch Weihnachten noch hier sein«, schluchzte Carrie. »Ich habe noch nie den Weihnachtsmann gesehen, kein einziges Mal.« Natürlich hatte sie schon einmal den Weihnachtsmann gesehen, vor vielen Jahren, als unsere Eltern die Zwillinge mit zum Weihnachtseinkauf in das große Spielwarengeschäft genommen hatten, und Daddy die beiden fotografierte, während ein riesiger Weihnachtsmann sie auf den Knien hielt. Aber das hatte sie sicher vergessen.

Ich fühlte mich glücklich darüber, daß ein Fremder so einfach in unser Leben getreten war und uns viel Liebe schenken wollte, nachdem unsere eigenen Verwandten uns nichts anderes als den Tod gewünscht hatten.

Wie Blüten im Wind

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