Читать книгу Wie Blüten im Wind - V.C. Andrews - Страница 8
Unsere zweite Chance
ОглавлениеCarrie hatte entschieden. Wir blieben. Selbst wenn sie nicht den Ausschlag gegeben hätte, wir wären wohl trotzdem geblieben. Was hätten wir sonst tun sollen?
Wir versuchten Dr. Sheffield das Geld zu geben, was uns noch übriggeblieben war. Er lehnte ab. »Das Geld behaltet ihr schön für euch selbst. Ihr habt schließlich hart gearbeitet, es euch zu beschaffen, nicht wahr? Ich habe bereits mit meinem Anwalt die Einzelheiten besprochen, so daß jetzt die Formalitäten in die Wege geleitet werden können, um eure Mutter vor das Vormundschaftsgericht laden zu lassen. Ich weiß, daß ihr glaubt, sie wird nicht kommen, aber man kann ja nie wissen. Wenn wir das Glück haben, daß mit der Adoption alles glatt geht, werde ich euch ein wöchentliches Taschengeld geben und ihr könnt an mich die gleichen Anforderungen stellen, wie ihr sie an eure leiblichen Eltern stellen würdet. Niemand kann sich frei und glücklich fühlen, ohne wenigstens ein bißchen Geld in der Tasche zu haben.« Er erzählte uns auch, daß es endlich an der Zeit sei, uns wie ganz normale Teenager einzukleiden und die Sachen zu kaufen, die man für die Schule braucht.
Ein paar Tage vor Weihnachten fuhr er mit uns in ein Kaufhaus, das mit seiner Weihnachtsdekoration, seinen tausend elektrischen Kerzen und den riesigen bunten Girlanden auf mich wirkte wie ein Märchenland. Ich glühte vor Begeisterung. Chris und Carrie ging es nicht anders – und selbst der Doktor war hingerissen. Es bereitete ihm immer ein ganz besonderes Vergnügen, zu sehen, wie wir uns über etwas freuten.
Zunächst wagte ich mir nur sehr zögernd Kleider herauszusuchen, hängte alles wieder zurück, bis Paul schließlich ungeduldig wurde: »Um Himmels willen, Cathy, glaub nicht, daß wir jede Woche so einkaufen gehen können. Ich möchte gerne, daß ihr euch heute ausreichend Kleidung kauft, um damit gut über den Winter zu kommen. Chris, du kannst schon mal in die Herrenabteilung gehen und dich da einkleiden lassen, inzwischen kümmere ich mich um unsere jungen Damen.«
Es entging mir nicht, daß alle jungen Mädchen in unserer Umgebung meinem Bruder nachsahen, als er sich auf den Weg in die Herrenabteilung machte.
Nun waren wir also endlich auf dem Weg, wieder ganz normale Kinder zu werden. Doch plötzlich heulte Carrie los, daß das ganze Kaufhaus in seinen Grundfesten erzitterte! Ihr Geschrei ließ die Verkäuferinnen zusammenzucken. Alle Kunden drehten sich nach uns um.
Chris kam sofort zurückgelaufen, um zu sehen, wer seine kleine Schwester umbringen wollte. Sie stand mit weit gespreizten Beinen da, den Kopf zurückgeworfen. Tränen der Wut und der Verzweiflung rollten ihr über die Wangen. »Was ist denn hier los?« fragte Chris. Dr. Sheffield zuckte nur hilflos die Schultern.
Männer – was wußten die schon? Carrie war ganz klar deshalb außer sich, weil man ihr Babysachen in den üblichen Pastelltönen vorzulegen gewagt hatte. Babysachen! Alles andere war zu groß, und es ließ sich natürlich auch nichts in Rot oder in Purpur finden – nichts, aber auch absolut gar nichts, was Carrie hätte gefallen können! Und dann hatte die herzlose, herausgeputzte Blondine mit den gefärbten Haaren, während sie Paul einladend anlächelte, vorgeschlagen: »Versuchen Sie es doch in der Babyabteilung.«
Carrie war acht! Die Babyabteilung auch nur zu erwähnen, war schon eine Beleidigung für sie. »Ich kann doch in der Schule nicht in Strampelanzügen rumlaufen!« schluchzte sie. Sie preßte ihr Gesicht gegen meinen Bauch und umklammerte meine Hüften. »Cathy, laß nicht zu, daß ich rosa oder blaue Babysachen tragen muß! Alle lachen mich aus! Das weiß ich bestimmt! Ich will purpur und rot – keine Babyfarben!«
Paul versuchte sie zu beruhigen. »Liebling«, tröstete er sie, »ich liebe blonde Mädchen mit blauen Augen in pastellfarbenen Kleidern. Warum wartest du nicht noch mit diesen grellen Farben, bis du ein paar Jahre älter bist?«
Mit solchen bittersüßen Komplimenten war jemand, der so stur sein konnte wie Carry, nicht zu beeindrucken. Sie funkelte ihn an, ballte die Fäuste, holte mit dem Fuß zu einem Tritt aus und hob zu neuem Gebrüll an, als eine dickliche Dame mittleren Alters, die jemanden wie Carrie als Enkelin haben mußte, sich einmischte und mit ruhiger Stimme vorschlug, man könne die Kleider ja auch nähen lassen. Carrie zögerte unsicher, sah von mir zu Paul und zurück, dann zu Chris und schließlich zu der Verkäuferin.
»Das ist die perfekte Lösung!« rief Paul begeistert und atmete sichtbar auf. »Wir kaufen eine Nähmaschine, und Cathy näht dir die tollsten Kleider in deinen Lieblingsfarben. Warte ab, du wirst hinreißend aussehen.«
»Will aber nicht hinreißend aussehen – will nur meine schönen leuchtenden Farben.« Carrie zog noch immer ein Gesicht, brüllte aber nicht weiter. Dafür fiel mir das Kinn herunter. Ich war eine Tänzerin, keine Näherin! »Cathy weiß nicht, wie man schöne Kleider näht«, sagte sie. »Cathy weiß überhaupt nichts, nur wie man tanzt.«
Das war echte Loyalität. Nun, natürlich würde ich mich nicht dagegen wehren, Paul bei den Anschaffungskosten für unsere Kleidung sparen zu helfen. Er hatte schon genug für uns ausgegeben. Trotzdem war mir nicht recht wohl bei der Vorstellung, jetzt für die Familie richtig die Rolle der braven Hausfrau an der Nähmaschine zu übernehmen.
Immerhin hatten wir eine Lösung für das Problem gefunden, die uns eine weitere Szene im Kaufhaus ersparte. Ich konnte mich beruhigt meinen eigenen Einkäufen zuwenden, während Paul und Chris meine Fähigkeiten als Schneiderin Carrie plausibel zu machen versuchten.
Mit Einkaufstaschen beladen machten wir uns endlich auf den Heimweg. Vorher besuchten wir noch einen Friseur, und ich machte einen Ausflug in einen Schönheitssalon; außerdem gingen wir noch in das teuerste Schuhgeschäft der Stadt. Ich besaß danach mein erstes Paar hochhackiger Pumps und ein Dutzend Nylonstrümpfe. Meine ersten Nylonstrümpfe, mein erster BH – und der Gipfel von allem, eine ganze Einkaufstasche voller Kosmetik. Ich hatte eine halbe Ewigkeit gebraucht, sie mir auszusuchen, während Paul hinter mir gestanden und mich mit eigenartigen Blicken gemustert hatte. Chris stand daneben und knurrte vor sich hin, ich würde gar kein Rouge brauchen oder Lippenstifte oder Lidschatten, Wimperntusche und Augenstifte. »Du weißt überhaupt nicht, was es bedeutet, ein Mädchen zu sein«, antwortete ich ihm mit einem seltenen Anflug völliger Überlegenheit. Das hier war mein erster Einkaufstag seit Ewigkeiten, und davon wollte ich mit allem zurückkommen, was ich jemals auf Mammis legendärem Ankleidetisch gesehen hatte.
Kaum hatten wir alles aus dem Auto geladen, da rannten Chris, Carrie und ich schon die Treppe hinauf in unsere Zimmer, um unsere neuen Sachen anzuziehen. Seltsam, daran zu denken, wie oft wir früher teure, neue Kleider bekommen hatten, ohne daß sie uns nur ein einziges Mal so glücklich gemacht hätten wie heute. Was hatten sie uns auch in einem verschlossenen Zimmer genützt, wo niemand uns je darin bewundern konnte.
Trotzdem konnte ich mich nicht dagegen wehren, daß ich mir plötzlich wünschte, Mammi würde mich in meinen herrlichen neuen Sachen sehen. Was für eine Ironie, daß ich mich gerade jetzt nach einer Mutter sehnte, von der ich doch eigentlich wußte, ich würde sie mein Leben lang hassen. Ich setzte mich auf die Bettkante und dachte darüber nach.
Mein Blick fiel auf Corys Banjo, das an der Wand gegenüber Carries Bett stand, so daß sie es immer sehen konnte. Warum mußten immer wir es sein, die unser Leben lang zu leiden haben würden. Warum erwischte es Mammi nicht? Und da fiel es mir plötzlich ein! Bart Winslow war aus South Carolina! Ich lief sofort hinunter in Pauls Arbeitszimmer und holte mir seinen großen Atlas. Dann lief ich zurück in mein Zimmer, wo ich mich eingehend mit der Karte von South Carolina befaßte. Ich fand Clairmont ... aber ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, daß es die Nachbarstadt von Greenglenna war.
Das war mehr als Zufall, mußte mehr als Zufall sein. Ich starrte zur Decke, während mir die Gedanken durch den Kopf rasten. Gott hatte es so eingerichtet, daß wir irgendwie in Mammis Nähe geblieben waren – falls sie jemals die Heimatstadt ihres Bart besuchte jedenfalls. Gott wollte mir also die Gelegenheit geben, daß ich ihr selbst ein paar kleine Stiche versetzen konnte. Sobald ich Zeit hatte, würde ich nach Greenglenna fahren und mir dort alle Informationen über Bart und seine Familie beschaffen, an die ich herankam. Ich bekam fünf Dollar Taschengeld pro Woche von Paul – das reichte, um eines der Klatschblätter zu abonnieren, in denen ausführlich über die gesellschaftlichen Aktivitäten und soweit wie möglich natürlich auch über das Privatleben der reichen Leute von Foxworth Hall und Umgebung berichtet wurde.
Ja, ich war nicht mehr in Foxworth Hall, aber es würde mir kein Schritt entgehen, den sie in der Öffentlichkeit unternahm. Früher oder später würde Mammi wieder von mir hören, und sie würde erfahren, daß ich niemals vergessen oder verzeihen konnte. Irgendwann und auf eine Art, die ich selbst noch nicht wußte, würde ich es ihr heimzahlen – zehnfach!
Nachdem ich das entschieden hatte, konnte ich zu Chris und Carrie ins Wohnzimmer hinuntergehen und mich von Henny und Paul bewundern lassen. Hennys breites Lächeln strahlte wieder einmal heller als die Sonne. Doch über Pauls Augen legte sich bald ein Schatten, als würde ihn meine Modenschau eher verunsichern. Ich sah weder Bewunderung noch Zustimmung in seinem Blick. Plötzlich stand er auf und verließ das Zimmer mit der wenig überzeugenden Entschuldigung, er hätte noch Schreibarbeiten zu erledigen.
In allen häuslichen Dingen wurde Henny meine Lehrmeisterin. Sie brachte mir bei, wie man Kekse in einer Eisenpfanne backen kann, und versuchte mir zu zeigen, wie man einen Teig locker anrührt.
Henny hat schlechte Augen, stand auf dem Zettel, kann das Nadelöhr nicht mehr finden. Würdest du bitte »Doktor-Sohns« fehlenden Hemdknopf annähen, ja?
»Klar«, willigte ich ohne besondere Begeisterung ein, »natürlich kann ich Knöpfe annähen, ich kann auch häkeln und stricken und sticken. Meine Mutter hat mir das alles beigebracht, damit ich etwas hatte, um mir die Zeit auszufüllen.« Plötzlich versagte mir die Stimme. Mir war nach Weinen zumute. Ich sah Mutters schönes Gesicht vor mir. Ich sah Daddy. Ich erinnerte mich daran, wie Mammi damals die Babysachen für die Zwillinge gestrickt hatte. Ich konnte nicht anders, als meinen Kopf in Hennys Schürze vergraben und laut zu schluchzen. Henny konnte nicht sprechen, aber ihre weiche Hand auf meiner Schulter sagte mir, daß sie mich verstand. Als ich unter Tränen zu ihr aufblickte, weinte sie mit. Dicke Tränen, die ihr über die schwarzen Wangen liefen. »Weine nicht, Henny. Ich werde sehr gerne deine Näharbeiten übernehmen und Dr. Paul seine fehlenden Knöpfe annähen. Er hat unser Leben gerettet, und es gibt nichts, was ich nicht für ihn tun würde.« Sie warf mir einen eigenartigen Blick zu, dann stand sie auf und holte einen Korb mit mindestens einem Dutzend Hemden, an denen Knöpfe fehlten.
Chris verbrachte jede verfügbare Minute mit Dr. Sheffield, der ihm, so gut er konnte, dabei half, sich auf eine besondere Schule vorzubereiten, in der er in einem Jahr einen Abschluß erreichen würde, der ihm den Collegebesuch erlaubte. Unser größtes Problem war Carrie. Sie konnte lesen und schreiben, aber sie war körperlich so zurückgeblieben. Wie sollte sie es schaffen, an einer normalen Schule zurechtzukommen, wo die Kinder sie sicher ständig hänseln würden?
Paul schlug schließlich vor, sie in einer Privatschule unterzubringen, deren Lehrer er kannte und wo man sich besonders um Carrie kümmern konnte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn meine schlimmste Sorge war es gewesen, daß Carrie wegen ihres unterentwickelten Körpers und ihres großen Kopfes Zielscheibe des Klassenspottes werden könnte. Was für ein schönes, gut gewachsenes Kind war Carrie doch früher gewesen, und was hatten diese verlorenen drei Jahre ohne Sonne und frische Luft aus ihr gemacht. Einer würde dafür büßen müssen!
Ich hatte tödliche Angst, Mammi würde doch noch am Tag der Anhörung auftauchen. Aber ich war mir im Grunde sicher, daß sie nicht kam. Es gab für sie nichts zu gewinnen, sie würde nur alles verlieren. Was waren wir für sie schon anderes, als eine gefährliche Belastung? Und dann wartete da vielleicht das Gefängnis, eine Anklage wegen Mordes ...
Wir saßen sehr still neben Paul auf der Bank, in unseren besten neuen Sachen, blickten auf die Tür zum Gerichtssaal und warteten und warteten und warteten. Innerlich war ich zum Zerreißen gespannt und stand dicht davor, jeden Augenblick laut loszuweinen. Sie wollte uns nicht. Wieder hatte sie uns überdeutlich gemacht, wie wenig wir ihr bedeuteten – warum sonst war sie nicht erschienen? Selbst der Richter sah uns mitleidig an, so daß ich mich nur noch elender fühlte – und so verdammt wütend auf sie! Wie konnte sie das ihren Kindern antun – ihre eigenen Kinder verleugnen? Was für eine Mutter war sie überhaupt? Ich wollte das Mitleid des Richters nicht oder das von Paul. Ich hielt den Kopf aufrecht, starrte geradeaus und biß mir auf die Zunge, damit ich nicht doch noch zu weinen begann. Ich wagte kaum einen Blick auf Chris’ Gesicht mit den leeren, erloschenen Augen zu werfen, denn ich wußte, daß sein Herz sich in der gleichen stummen Qual wand wie meines. Carrie hatte sich in Pauls Schoß zusammengekauert, das Gesicht an seiner Brust, während seine Hände sie beruhigend streichelten und er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Es schien mir, als sagte er: »Mach dir nichts draus, es ist alles in Ordnung. Du hast mich als Vater und Henny als Mutter. Solange ich lebe, wird es dir nie an etwas fehlen.«
In dieser Nacht weinte ich. Meine Kissen saugten sich voll mit Tränen um eine Mutter, die ich einmal so sehr geliebt hatte, daß es mir die Seele zerriß, an die Tage zurückzudenken, als Daddy noch lebte und wir ein richtiges Zuhause hatten. Aber am meisten weinte ich um Cory, den seine eigene Mutter auf dem Gewissen hatte. Und als ich an ihn dachte, da hörte ich auf zu weinen und wurde im Inneren kalt und bitter. Böse Gedanken der Rache verdrängten meine Trauer. Wenn man jemanden angreifen und vernichten will, dann versucht man am besten, so zu denken, wie er denkt. Was würde Mammi am tiefsten verletzen? Sie würde nicht mehr an uns denken wollen. Sie würde versuchen, so gut wie möglich zu vergessen, daß wir überhaupt existierten. Nun, ich wollte es sie nicht vergessen lassen. Zu diesem und allen weiteren Weihnachten bekam sie von mir eine Karte, auf der stand: »Von den vier Meißners, die du nicht haben wolltest.« Dann fiel mir noch etwas Besseres ein: »Den drei überlebenden Meißners, die du nicht haben willst, und dem Toten, den du nie zurückgebracht hast.« Ich konnte sie mir direkt vorstellen, wie sie die Karte anstarrte und von sich selbst dachte, ich habe nur getan, was ich tun mußte.
Langsam wurde ich ruhiger. Ich stand auf und ging hinaus auf die obere Veranda, um mir den Mond anzusehen. Am Geländer sah ich Chris stehen, der auch zum Mond hinaufstarrte. Seinen hängenden Schultern, die sonst immer so stolz und gerade waren, sah ich an, daß er innerlich genauso blutete wie ich. Auf Zehenspitzen lief ich zu ihm, damit er mich nicht kommen hörte. Aber als ich näher kam, drehte er sich um und streckte mir die Arme entgegen. Ohne nachzudenken drückte ich mich an ihn. Er trug den warmen, dicken Bademantel, den Mammi ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, auch wenn der längst zu klein war. Er würde einen anderen finden, wenn er dieses Jahr unter den Weihnachtsbaum schaute – einen neuen von mir, in den ich sein Monogramm gestickt hatte – CFS – denn er wollte niemals mehr Foxworth genannt werden, nur Sheffield.
Wir sahen uns tief in die Augen. Zwei Augenpaare, die sich so sehr glichen. Ich liebte ihn, wie ich die bessere Seite von mir selbst liebte, meine hellere, glücklichere Seite.
»Cathy«, flüsterte er und strich mir mit einer Hand sanft über den Rücken, einen feuchten Schimmer in den Augen, »wenn dir nach Weinen ist, dann weine nur, ich verstehe dich. Weine für mich mit. Ich habe gehofft, gebetet, daß Mammi doch noch auftauchen würde und uns irgendwie erklären könnte, warum sie getan hat, was sie getan hat – irgendeine Erklärung, wie unwahrscheinlich sie auch gewesen wäre.«
»Eine vernünftige Erklärung für Mord?« fragte ich bitter. »Die würde ihr im Traum nicht einfallen, dafür ist sie einfach nicht schlau genug. Es gibt keine Entschuldigung für Mord.« Er sah so elend aus, daß ich ihm einfach über die Wangen streicheln mußte. Ich spürte, daß ich noch immer voller Liebe für ihn war, als er sein Gesicht in meinen Haaren vergrub und leise schluchzte. Wieder und wieder murmelte er meinen Namen, so als wäre ich die einzige Person auf der Welt, die wirklich da war und auf die man sich verlassen konnte.
Irgendwie fanden seine Lippen meine, und wir küßten uns, küßten uns mit so viel Leidenschaft, daß sein Verlangen ihn überwältigte und er versuchte, mich in sein Zimmer zu ziehen. »Ich möchte dich nur in den Armen halten, sonst nichts. Bald werde ich fortgehen, um diese Spezialschule zu besuchen, und ich brauche für mein Leben noch etwas mehr, an dem ich mich festhalten kann – gib mir dieses bißchen mehr, Cathy, bitte.« Bevor ich ihm antworten konnte, hatte er mich schon wieder in seinen Armen und küßte mich mit so sehr brennenden Lippen, daß ich Angst bekam – und meine Leidenschaft erwachte wie seine.
»Halt! Nicht!« rief ich, aber er ließ sich nicht aufhalten, streichelte mir die Brüste und zog mein Nachthemd nach unten, so daß er sie küssen konnte. »Chris!« zischte ich aufgebracht. »Du darfst das jetzt nicht, Chris. Wenn du erst einmal von hier fort bist und deine Schule besuchst, dann wird alles, was du für mich fühlst, dahinschwinden, so als ob es niemals etwas zwischen uns gegeben hätte. Wir werden uns beide dazu zwingen, andere zu lieben, damit wir uns wieder sauber fühlen können. Wir dürfen nicht den gleichen Fehler machen wie unsere Eltern, wir dürfen nicht deren Leben wiederholen.«
Er drückte mich noch fester an sich und sagte kein Wort, doch ich wußte genau, was er dachte. Es würde keine anderen geben außer mir. Er würde es nicht zulassen. Eine Frau hatte ihn so furchtbar verletzt und verraten, hatte sein Vertrauen so grausam mißbraucht, als er jung war und so verwundbar. Nun gab es nur noch mich, der er vertrauen konnte.
Er löste sich von mir und trat einen Schritt zurück. In seinen Augenwinkeln schimmerten Tränen. Es war meine Pflicht, jetzt und hier das Band zwischen uns zu zerreißen. Zu seinem eigenen Besten.
Ich konnte nicht einschlafen. Ich hörte ihn nach mir rufen und fühlte, wie er nach mir verlangte. Ich stand auf und schlich den Flur hinunter und kroch noch einmal in sein Bett, wo er auf mich wartete. »Du wirst niemals von mir freikommen, Cathy, nie. Solange du lebst, gehörst du mir und ich dir.«
»Nein!«
»Ja!«
»Nein!« Aber ich küßte ihn, dann sprang ich aus seinem Bett und rannte zurück in mein Zimmer, warf die Tür hinter mir zu und schloß mich ein. Was war los mit mir? Ich hätte niemals in sein Zimmer gehen dürfen und mich in sein Bett legen. War ich wirklich so schlecht, wie die Großmutter gesagt hatte?
Nein, das war ich nicht.
Das konnte ich nicht sein!