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6. KAPITEL
TONY TATTERTON
ОглавлениеWährend der restlichen Fahrt zum Flughafen schlief ich und erwachte erst, als man mich in das Krankentransportflugzeug brachte. Als mir wieder zu Bewußtsein kam, was geschehen war, war es, als hätte ich einen harten, kalten Schlag ins Gesicht erhalten. Es war kein Traum, es war die grausame Wirklichkeit. Mammi und Daddy waren tatsächlich tot, für immer von mir gegangen. Und ich war ernsthaft verletzt und gelähmt, all meine Träume und Pläne, all die wunderbaren Dinge, die Mammi und Daddy für mich erhofft hatten, waren in einem schrecklichen Augenblick auf einer Bergstraße zerstört worden.
Jedesmal, wenn ich erwachte, kam auch die furchtbare Erinnerung zurück. Ich sah wieder, wie der Regen gegen die Windschutzscheibe schlug, ich hörte Mammi und Daddy streiten und sah schließlich den anderen Wagen auf uns zukommen. Diese Erinnerung ließ mich innerlich aufschreien und erschütterte mich so sehr, daß ich froh war, wenn der Schlaf mich wieder übermannte und mir Linderung verschaffte. Doch wenn ich wieder erwachte, mußte ich der Realität abermals ins Auge sehen und durchlebte die grauenvollen Ereignisse aufs neue.
Ich war dankbar, daß ich wieder einschlief und erst am Bostoner Flughafen erwachte, wo man mich wieder in einen Krankenwagen hob. Jedesmal wenn ich aufwachte, war ich von der autoritären Art beeindruckt, mit der Mrs. Broadfield ihre Anweisungen gab. Das Krankenhauspersonal gehorchte ihr aufs Wort. Einmal hörte ich sie sagen: »Aufpassen, sie ist doch kein Mehlsack!« Drake hatte offensichtlich recht: »Ich war in guten Händen. Wieder schlief ich ein und erwachte erst, als wir das Krankenhaus erreicht hatten. Ich spürte, daß jemand meine Hand hielt. Ich öffnete die Augen und sah Tony Tatterton neben mir.
Einen Augenblick lang glaubte ich zu träumen, denn auf seinem Gesicht lag ein so abwesender, entrückter Ausdruck, daß ich das Gefühl hatte, er wäre in eine andere Welt eingetaucht, während er mich ansah. Als er schließlich bemerkte, daß ich zu ihm aufblickte, glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
»Willkommen in Boston. Ich habe dir ja gesagt, daß ich bei deiner Ankunft hier sein würde, um dich zu begrüßen und mich zu versichern, daß du alles hast, was du brauchst. Ist die Reise gut verlaufen?« fragte er besorgt.
Gestern, als ich ihn an meiner Seite gesehen hatte, war alles so unwirklich gewesen, daß ich mich nur undeutlich an ihn erinnern konnte. Jetzt betrachtete ich ihn zum erstenmal aufmerksamer. Seine Augenbrauen waren sorgfältig in Form gebürstet, und er war glatt rasiert. Auch sein graues Haar war tadellos geschnitten und sah so voll und gepflegt aus, als wäre es von einem Friseur gewaschen und in Form gebracht worden. Er trug einen teuren grauen Seidenanzug mit weißen Nadelstreifen und eine dunkelgraue Krawatte. Seine Kleidung schien nagelneu. Als mein Blick auf seine Hand fiel, welche die meine umschloß, sah ich, daß seine aristokratischen Finger perfekt manikürt waren; die Nägel glänzten. Ja, er war ganz anders als jener Tony Tatterton, den Drake beschrieben hatte. Sein Brief und sein Anruf waren mir nur noch als Erinnerungen aus einer anderen Welt gegenwärtig, in der ich früher gelebt hatte und aus der ich plötzlich in diese kalte, grausame Wirklichkeit vertrieben worden war.
Tony ließ mir Zeit, ihn eingehend zu mustern, während sein sanfter, zärtlicher Blick auf mir ruhte.
»Ich habe fast die ganze Reise über geschlafen«, sagte ich, doch meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Ja, das hat Mrs. Broadfield mir erzählt. Ich bin so froh, daß du hier bist, Annie. Bald werden die Untersuchungen beginnen, die die Ärzte für dich vorgesehen haben, damit sie dich entsprechend behandeln können.« Er tätschelte meine Hand und nickte mit dem Selbstvertrauen und der Sicherheit eines Mannes, der daran gewöhnt war, daß die Dinge nach seinen Vorstellungen abliefen.
»Meine Eltern«, sagte ich.
»Ja?«
»Ihre Beerdigung . . .«
»Nein, Annie, daran darfst du jetzt nicht denken. Ich habe dir schon in Winnerrow gesagt, daß ich mich um alles kümmern werde. Du mußt deine ganze Kraft darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden«, sagte er eindringlich.
»Aber ich müßte dort sein.«
»Nun, Annie, du kannst jetzt nicht dort sein«, erwiderte er, freundlich. »Aber sobald es dir besser geht, werde ich einen weiteren Gottesdienst an ihrem Grab abhalten lassen, und wir werden zusammen daran teilnehmen. Das verspreche ich dir. Aber jetzt mußt du zunächst einmal die Anordnungen der Ärzte befolgen. Dies ist die beste Behandlung, die man für Geld bekommen kann.« Dann wurde er nachdenklich.
»Ich habe deine Mutter sehr geliebt. Und auch deinen Vater habe ich gemocht. Schon als ich ihn zum ersten Mal traf, habe ich gemerkt, daß er das Zeug zu einer leitenden Position hatte, und ich war sehr glücklich, als er meinen Vorschlag annahm und in mein Geschäft eintrat. Die Zeit, als deine Mutter und dein Vater in Farthy lebten, war die glücklichste meines Lebens.« Er seufzte. »Und die Jahre danach waren die traurigsten und härtesten, die ich erlebt habe. Was auch immer ich getan habe, um diese Kluft zwischen uns zu schaffen, ich möchte es dadurch ungeschehen machen, daß ich dir jetzt helfe, Annie. Bitte laß mich alles tun, was in meiner Macht liegt, um meine Schuld ihnen gegenüber wieder gutzumachen. Es ist das Beste, was ich tun kann, um ihr Andenken zu ehren.« Seine Augen waren bittend und von Sorge erfüllt.
»Ich möchte dich nicht unterbrechen, Tony, aber es gibt viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Ich habe seit langem versucht, Mammi dazu zu bringen, über ihre Zeit in Farthy zu sprechen . . . und auch darüber, warum sie schließlich weggegangen ist. Aber sie wollte nicht darüber reden. Immer wieder vertröstete sie mich und versprach, mir bald alles zu erzählen. Erst vor kurzem, an meinem achtzehnten Geburtstag, hat sie ihr Versprechen erneuert. Und jetzt . . .« ich schluckte, »jetzt kann sie es nicht mehr.«
»Aber ich werde es tun, Annie«, sagte er hastig. »Ich werde dir alles erzählen, was du wissen möchtest und mußt. Bitte glaube und vertraue mir.« Er lächelte und lehnte sich zurück. »Letztendlich wird es für mich eine Art Erleichterung sein, wenn du alles erfährst und über mich richten kannst.«
Ich musterte sein Gesicht eingehend. War er aufrichtig? Würde er sein Versprechen wirklich halten, oder sagte er das alles nur, damit ich ihm vertraute?
»Ich habe versucht, meine Schuld wiedergutzumachen, wo immer ich konnte. Ich hoffe, daß du meine Geschenke bekommen hast und daß deine Mutter dir erlaubt hat, sie zu behalten.«
»Oh, ja, ich habe sie noch alle . . . all die schönen, wunderbaren Puppen.«
»Das ist gut so.« Seine Augen leuchteten, und er sah auf einmal viel jünger aus. Irgend etwas in seinem Gesicht erinnerte mich an Mammi . . . es war die Art, wie er seine Gedanken und Stimmungen durch ein Augenzwinkern deutlich machte. »Wann immer ich auf Reisen war, habe ich nach einem besonderen Geschenk für dich gesucht. Und da waren diese Puppen genau das richtige. Ich weiß nicht mehr, wie viele ich dir geschickt habe, aber es muß inzwischen eine ganz schöne Sammlung sein, nicht wahr?«
»Ja, sie füllen ein großes Regal, das über die ganze Wand in meinem Zimmer geht. Daddy sagt immer, daß ich bald ein Geschäft eröffnen kann. Jedesmal, wenn er hereinkommt . . .«, ich hielt inne, denn mir wurde bewußt, daß er nie wieder mein Zimmer betreten würde – und ich würde nie wieder diese Worte hören!
»Meine arme Annie«, tröstete mich Tony. »Du hast einen schrecklichen Verlust erlitten. Ich werde nie genug für dich tun können, um deinen Schmerz wirklich zu lindern, aber glaube mir, Annie, ich werde alles Menschenmögliche versuchen. Dies ist ab jetzt die vordringlichste Aufgabe in meinem Leben«, fügte er hinzu, und seine Augen hatten nun denselben entschlossenen Ausdruck, den ich so oft bei Mammi gesehen hatte.
Ich konnte mich nicht so gegen ihn verhärten, wie es Mammi getan hatte. Vielleicht war alles nur ein furchtbares Mißverständnis gewesen. Vielleicht hatte das Schicksal mich dazu auserkoren, es aufzuklären! Ich fühlte mich so ratlos.
»Ich weiß, Annie, daß du nicht anders kannst, als immer noch Mißtrauen gegen mich zu hegen. Und doch bitte ich dich: Vertraue mir! Ich bin ein alter Mann, der ein großes Vermögen hat und sonst nichts. Und darum bin ich so dankbar für die Gelegenheit, im Herbst meines Lebens noch etwas Gutes und Sinnvolles tun zu können. Ich hoffe, daß du mir das nicht verwehren willst«, sagte er sanft.
»Wenn du mir versprichst, mir so bald wie möglich alles zu erzählen«, sagte ich.
»Du hast das feierliche Wort eines Tatterton, der aus einer Linie von ehrbaren Männern stammt, auf deren Wort sich schon viele Menschen verlassen haben«, versprach er, und sein Gesicht war aufrichtig und ernst. Dann wandte er sich an die Krankenträger, die in der Nähe warteten. »Wir sind fertig. Viel Glück, mein Liebes.« Er tätschelte meine Hand, als sie die Bahre in Bewegung setzten.
Sie schoben mich den Gang hinab. Ich hob den Kopf, soweit ich konnte, um Tony zu sehen, der hinter uns zurückblieb. Ich sah den liebevollen und besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht. Was für ein wunderbarer Mensch er war! Ich konnte es kaum erwarten, mehr über ihn zu erfahren. Meine Eltern waren mit allen Informationen, die ihn betrafen, so sparsam gewesen, als ob das wenige, das ich über ihn erfahren sollte, auf mein ganzes Leben verteilt werden müßte.
Natürlich wußte ich, daß er ein einzigartiges Spielzeugunternehmen aufgebaut hatte. Ein Imperium, wie mein Vater sagte, das Millionen von Dollar wert war und sich auf dem nationalen wie auf dem internationalen Markt einen Namen gemacht hatte. »Die Tattertons sind die Könige der Spielzeugbranche«, hatte Daddy zu mir gesagt, als er ausnahmsweise einmal darüber sprach.
»Tonys Spielzeug ist nur für die Reichen«, hatte meine Mutter eingewandt. Ich wußte, wie stolz sie darauf war, daß unser Spielzeug von allen Schichten gekauft wurde. »Tatterton-Spielzeug ist für reiche Leute, die es nicht nötig haben, erwachsen zu werden. Sie müssen nicht versuchen, eine Kindheit zu vergessen, in der sie nichts unter dem Weihnachtsbaum fanden und keine Geburtstagsfeste kannten. Leute wie Tony!« hatte sie hinzugefügt, und ihre Augen funkelten vor Ärger.
Wieder einmal fragte ich mich, warum sie eine so heftige Abneigung ihm gegenüber empfunden hatte. Denn wenn mir auch seine gebieterische Autorität nicht entging, so spürte ich doch auch sein sanftes Wesen und seine Verwundbarkeit. Seine Tränen um meine Eltern und mich waren aufrichtig gewesen.
Den Rest des Tages über war ich ganz von den Ärzten in Beschlag genommen, die mich allen möglichen Tests unterzogen.
Wie Doktor Malisoff vorausgesagt hatte, spürte ich während der Untersuchungen keinerlei Schmerz in meinen Beinen. Ich konnte zwar meinen Oberkörper bewegen, doch meine Beine baumelten leblos wie die einer Stoffpuppe herab, wenn sie mich vorsichtig auf Untersuchungstische und Betten hoben. Manchmal hatte ich das Gefühl, als hätte ich bis zur Taille im eisigen Wasser gestanden, und mein Körper wäre nun von den Füßen bis zu den Hüften betäubt. Meine Reflexe sprachen nicht an, und ich sah angsterfüllt zu, wie Dr. Malisoffs Assistent und der Neurologe Dr. Friedmann eine Nadel in meine Haut stachen. Ich spürte zwar nichts, doch der Anblick der Nadel, die sich in meine Haut bohrte, ließ mich zusammenzucken.
»Annie«, sagte Dr. Malisoff, »es ist so, als hätten wir bei Ihnen eine Spinalanästhesie gemacht, damit Sie bei einer Operation keinen Schmerz spüren. Wir glauben, daß die Entzündung, die durch das Trauma um ihr Rückgrat herum hervorgerufen wurde, die Ursache für Ihre jetzige Lähmung ist. Wir würden gerne noch einige Tests machen, um diesen Verdacht zu bestätigen.«
Ich versuchte, eine kooperative Patientin zu sein. In meinem augenblicklichen Zustand war ich so abhängig von anderen! Ich mußte von einem Ort an den anderen gehoben und auf fahrbaren Betten herumgefahren werden. Es fiel mir sehr schwer, mich aufzusetzen. Die Ärzte versicherten mir, daß ich bald wieder dazu in der Lage sein würde, aber ich hatte das Gefühl, als wäre der untere Teil meines Körpers bei dem Unfall abgestorben.
Dieses Gefühl der völligen Hilflosigkeit verunsicherte mich zutiefst. Wir nehmen so vieles als selbstverständlich hin – laufen, sitzen, aufstehen und hingehen zu können, wohin wir wollen. Meine Verletzung steigerte den Schmerz, der mein Herz zusammenzog, als würde man Salz auf eine offene Wunde streuen. Ich mußte nicht nur mit dem grausamen Verlust meiner Eltern, sondern auch noch mit dieser körperlichen Behinderung fertigwerden. Wieviel kann ein Mensch ertragen? Ich schrie innerlich auf. Warum mußte ich solche Qualen erdulden? Ich hatte alles, an dem ich hing, verloren.
Meine neue Umgebung weckte in mir ein beinahe ehrfürchtiges Staunen. Das Krankenhaus erschien mir riesengroß, die Gänge waren doppelt so breit wie die des Krankenhauses von Winnerrow. Überall eilten geschäftige Menschen mit wichtigen Mienen umher. Schlangen von Krankenbahren, auf denen Patienten lagen, wurden durch die Gänge geschoben. Andauernd war das Geräusch der Piepser zu hören, durch das die Ärzte zu ihrer Station gerufen wurden. Ich erfuhr, daß das Gebäude über zwanzig Stockwerke hatte, in denen, wie es mir schien, ein ganzes Heer von Krankenschwestern und Spezialisten arbeitete. Fast fürchtete ich, daß Tante Fanny und Luke sich verlaufen würden, wenn sie versuchten, mich hier zu finden.
Doch selbst in dieser Umgebung, die mir so unübersichtlich und anonym erschien, spürte ich, wie Tony Tattertons Einfluß und sein Geld arbeiteten. Ich war von einem Team von Ärzten und Spezialisten umgeben, die bei mir blieben, bis man mich schließlich wieder in mein Zimmer brachte. Dort erwartete mich Mrs. Broadfield.
Um mich in mein Bett zu heben, mußte sie die Krankenbahre direkt daneben rollen und dann vorsichtig zunächst meine gelähmten Beine und schließlich den Rest meines Körpers hinüberziehen. Sie verrichtete ihre Arbeit schweigend und ohne das geringste Zeichen von Anstrengung. Nachdem sie mich bequem gebettet hatte, gab sie mir ein wenig Saft zu trinken. Dann zog sie den Vorhang um mein Bett herum zu, damit ich schlafen konnte, und sagte mir, daß sie sich an die Tür setzen würde, für den Fall, daß ich etwas brauchte. Von den Untersuchungen erschöpft, schlief ich sofort ein und erwachte erst wieder, als ich Stimmen hörte. Ich sah auf zu Dr. Malisoff, der sich über mich beugte. Neben ihm stand Tony Tatterton.
»Hallo. Wie geht es Ihnen?«, fragte der Arzt.
»Ich bin müde.«
»Natürlich. Das ist auch Ihr gutes Recht. Nun, wir sind schließlich zu einer endgültigen Diagnose gekommen, Annie. Der Stoß, den ihre Wirbelsäule direkt unterhalb des Kopfes erlitten hat, hat zu einer Entzündung geführt, die jetzt die Lähmung auslöst. Es ist schon eine zwar kleine, aber doch deutliche Besserung zu verzeichnen, so daß wir Sie nicht operieren müssen, um jeglichen Druck auf die Verletzung zu vermeiden. Statt dessen haben wir eine Medikamententherapie für Sie zusammengestellt, die nach einer gewissen Zeit von einer physikalischen Therapie ergänzt werden wird.«
»Eigentlich müßten Sie die ganze Zeit über im Krankenhaus bleiben«, fügte er hinzu und lächelte über mein bestürztes Gesicht. »Glücklicherweise aber ist Mrs. Broadfield auch eine erfahrene Krankengymnastin, und so wird sie Ihr Rehabilitationsprogramm in Farthinggale Manor durchführen können. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
»Ich werde also wieder gehen können?« fragte ich hoffnungsvoll.«
»Ich sehe nichts, was dagegen spricht. Es wird nicht über Nacht geschehen, aber doch in angemessener Zeit. Und ich werde regelmäßig dort draußen nach Ihnen sehen.«
»Wann wird diese Benommenheit aufhören?«
»Das kommt durch die Gehirnerschütterung. Auch das wird eine Weile dauern, aber es wird Ihnen von Tag zu Tag besser gehen.«
»Ist das alles, was ich habe?« fragte ich argwöhnisch.
»Alles?« Der Arzt lachte, und Tony kam einen Schritt näher und lächelte mir liebevoll zu. »Manchmal vergesse ich, wie wundervoll es ist, jung zu sein«, sagte Dr. Malisoff zu ihm. Tony nickte.
»Ja, das ist wunderbar. Und es ist schön, jemanden, der so jung und hübsch ist wie Annie, um sich zu haben, wenn man selbst nicht mehr jung ist.« Ein kleines, spitzbübisches Lächeln spielte um seinen Mund.
»Aber ich werde eine solche Last für dich sein«, wandte ich ein. Es war etwas anderes, wenn man Menschen zur Last fiel, die man liebte und von denen man geliebt wurde; aber die Vorstellung, unter diesen Umständen bei einem Fremden zu wohnen, beunruhigte mich. Wie sehr ich Mammis und Daddys Trost und Liebe jetzt gebraucht hätte! Doch das Schicksal hatte beschlossen, daß ich sie nie wiedersehen sollte.
»Nicht für mich. Niemals. Außerdem habe ich Hausangestellte, die sich langweilen, weil sie jetzt so wenig zu tun haben. Und dann wird ja auch Mrs. Broadfield bei dir sein.«
»Wir sehen uns später draußen«, sagte Dr. Malisoff leise und verließ das Zimmer. Tony blieb und sah liebevoll auf mich herab.
»Ich werde zweimal am Tag kommen«, versprach er. »Und jedes Mal werde ich dir etwas mitbringen.« Sein Ton war unbeschwert und fröhlich, als wäre er immer noch ein Kind, das man mit Spielzeug und Puppen aufheitern konnte. »Gibt es irgend etwas Besonderes, was du gerne hättest?«
Mir fiel nichts ein, denn ich war noch immer viel zu benommen von den tragischen Ereignissen.
»Das macht nichts. Dann werde ich dich jedesmal überraschen.« Er beugte sich zu mir herab und küßte mich auf die Stirn. Einen Augenblick lag seine Hand auf meiner Schulter. »Ich bin so froh, daß du wieder gesund werden wirst, Annie. Und es ist so wunderbar, daß du bei mir bleiben wirst und ich dir helfen kann!« Sein Gesicht war jetzt dicht über mir, und ich spürte, wie seine Wange die meine streifte. Dann küßte er mich noch einmal und verließ das Zimmer.
Mrs. Broadfield kontrollierte meinen Blutdruck und wusch mich mit einem Schwamm und warmem Wasser. Dann lag ich mit geöffneten Augen wie in einem Traum da und kämpfte gegen meine Tränen an. Schließlich schloß ich die Augen und verfiel in einen leichten Dämmerschlaf.
Drake kam am nächsten Tag wieder, um mich zu besuchen. Ich war so glücklich, ihn zu sehen. Ich war an einem fremden Ort, weit von zu Hause entfernt, doch ich hatte meine Familie in der Nähe! Er kam an mein Bett und küßte mich; dann drückte er mich so vorsichtig an sich, als wäre ich so zerbrechlich wie eine kostbare Porzellanpuppe.
»Du hast heute etwas mehr Farbe. Wie fühlst du dich?«
»Sehr müde. Ich schlafe immer wieder ein und träume wirre Dinge. Und jedesmal, wenn ich aufwache, muß ich mir klar machen, wo ich bin und was geschehen ist. Mein Gehirn will die Wahrheit noch nicht akzeptieren. Es ist ständig bemüht, alles zu verdrängen.«
Er lächelte, nickte und strich mir über das Haar.
»Wo warst du? Was hast du gemacht?« fragte ich besorgt, denn ich wollte erfahren, wie er mit den tragischen Ereignissen und seinem Kummer fertig wurde.
»Ich habe mich entschlossen, auf dem College zu bleiben und das Semester zu beenden.«
»Oh?« Ich hatte geglaubt, die Welt müßte nach dieser Tragödie für eine Zeit stillstehen. Wie konnte es irgend jemanden geben, der noch arbeitete, lebte oder womöglich gar glücklich war?«
»Meine Dozenten wollten mich freistellen, aber ich hatte das Gefühl, daß ich vor Kummer wahnsinnig würde, wenn ich mich nicht mit irgend etwas beschäftige«, sagte er, nachdem er einen Stuhl an mein Bett gezogen hatte. »Ich hoffe, du hältst mich deshalb nicht für zu hart oder gleichgültig. Aber ich kann einfach nicht nur so herumsitzen.«
»Du hast das Richtige getan, Drake. Ich bin sicher, genau das hätten sich Mammi und Daddy gewünscht.«
Er lächelte mir dankbar zu und war froh über mein Verständnis. Doch ich glaubte tatsächlich, daß das, was ich sagte, der Wahrheit entsprach. Niemand verstand es so gut, mit Schicksalsschlägen umzugehen wie Mammi. Daddy hatte immer behauptet, sie sei aus Stahl. Eine echte Casteel, hatte er gescherzt. Was würde ich nicht darum geben, noch einmal seine Scherze zu hören!
»Ich werde fürs erste nicht nach Winnerrow zurückkehren«, fuhr Drake fort. »Es wäre zu schmerzlich für mich, jetzt in das große, leere Haus zu kommen, und außerdem hat Tony Tatterton mir ein phantastisches Angebot für die Sommermonate gemacht.«
»Was für ein Angebot?« fragte ich. Es war erstaunlich, wie rasch Tony Tatterton unser Leben in die Hand genommen hatte.
»Er läßt mich als Juniorchef in seinem Büro arbeiten, kannst du dir das vorstellen? Ich habe noch nicht einmal das College abgeschlossen, und er will mir trotzdem schon jetzt Verantwortung übertragen! Er hat hier in Boston sogar bereits eine Wohnung für mich gefunden. Ist das nicht wunderbar?«
»O ja, Drake. Ich freue mich so für dich.« Ich wandte mich ab. Ich wußte, daß ich ungerecht gegenüber Drake war, aber Fröhlichkeit schien mir in diesem Moment unangebracht. Die gesamte Welt sollte um meine Eltern und um mich trauern, dachte ich. Der dunkle Schleier, der sich über alles gebreitet hatte, hielt mich noch immer gefangen. Wie blau der Himmel auch in Wirklichkeit sein mochte, mir erschien er grau.
»Du klingst nicht sehr glücklich. Ist es wegen der Medikamente, die du nimmst?«
Wir blickten uns für einen Augenblick an, und ich sah wieder die Trauer in seinem Gesicht. »Nein«, fuhr ich fort, »ich habe nur viel über Tony nachgedacht. Ich kann nicht anders als mich fragen, warum er so plötzlich in unser Leben getreten ist und sich so selbstlos um uns kümmert. Die ganze Zeit über hat unsere Familie ihn so behandelt, als wäre er Luft. Man könnte annehmen, daß er uns eigentlich hassen müßte. Verwundert dich das nicht auch?«
»Was ist daran merkwürdig? Eine furchtbare Katastrophe ist geschehen . . . und er gehört ja schließlich zur Familie; ich meine, er war mit deiner Urgroßmutter verheiratet, mit der Großmutter meiner Stiefschwester. Und er hat doch sonst niemanden. Sein jüngerer Bruder hat Selbstmord begangen, weißt du«, fügte Drake flüsternd hinzu.
»Sein jüngerer Bruder? Ich habe nie von ihm gehört.«
»Nun, Logan hat mir einmal von ihm erzählt. Anscheinend war er ein sehr introvertierter Mensch, der sich gern absonderte und in einer Hütte hinter einem Irrgarten lebte.«
»Hütte? Hast du Hütte gesagt?«
»Ja.«
»So eine, wie meine Mutter sie in ihrem Zimmer hatte – die kleine Spieluhr, die sie mir an meinem Geburtstag geschenkt hat?«
»Nun, darüber habe ich nie nachgedacht . . . aber ja, ich denke schon. Warum fragst du?«
»Ich träume immer noch davon und erinnere mich an die Musik und wie Mammi mich früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, von Zeit zu Zeit hineinsehen ließ. Manchmal, wenn ich aus einem kurzen Schlummer aufwache, denke ich, ich wäre wieder zu Hause. Und dann sehe ich mich nach meinen Sachen um, lausche ob ich Mammis oder Daddys Stimme hören kann, und will nach Mrs. Avery rufen. Aber dann . . . fällt mir alles wieder ein. Eine kalte dunkle Welle überspült mich und treibt mich zurück in die furchtbare, grausame Wirklichkeit. Bin ich dabei, den Verstand zu verlieren, Drake? Ist das ein Teil meiner Krankheit, von dem mir niemand etwas sagen will? Bitte, du mußt es mir sagen. Ich muß es wissen!«
»Du bist jetzt nur ein wenig verwirrt«, sagte er, und seine Stimme klang beruhigend. »Deine Erinnerungen vermischen sich. Das ist nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, was du durchgemacht hast. Du hättest nur den Unsinn hören sollen, den du erzählt hast, als ich dich im Krankenhaus von Winnerrow besucht habe.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Was für einen Unsinn?« fragte ich erschrocken. Sollte Drake meine geheimsten Gedanken erraten haben? Meine Gedanken über Luke?
»Nur dummes Zeug. Mach dir deshalb keine Gedanken«, sagte er und winkte ab. »Und mach dir keine Sorgen wegen deiner Behandlung. Ich werde den ganzen Sommer über in deiner Nähe sein und dich an den Wochenenden in Farthinggale Manor besuchen. Ich bin jetzt für dich verantwortlich, Annie. Und ich habe vor, mich wirklich um dich zu kümmern. Aber ich muß auch an meine berufliche Laufbahn denken. Mir liegt die Unabhängigkeit im Blut. Ich will mir alles selbst erarbeiten und allein meinen Weg gehen«, sagte er stolz.
Dann erzählte er mir von seinen Aufgaben in Tony Tattertons Unternehmen, doch seine Worte schienen von weit her zu kommen, und schließlich folgte ich seinen Ausführungen nicht mehr. Die Augen fielen mir immer wieder zu. Nach einer Weile bemerkte er, daß ich ihm nicht zuhörte.
»Jetzt sitze ich also da und rede dich in den Schlaf, ohne es zu merken«, sagte er lachend. »Vielleicht können sie mich hier zur Behandlung von Schlaflosigkeit anstellen.«
»Es tut mir leid, Drake, ich wollte ja zuhören. Ich habe das meiste, was du erzählt hast, gehört, und . . .«
»Alles in Ordnung. Ich bin wahrscheinlich sowieso zu lange geblieben.« Er erhob sich.
»O nein, Drake, ich bin so froh, daß du hier bist«, rief ich.
»Du brauchst jetzt viel Ruhe, Annie. Ich besuche dich bald wieder. Versprochen. Adieu, Annie«, flüsterte er, während er sich über mich beugte, um mich auf die Wange zu küssen. »Mach dir keine Sorgen, ich bin immer in deiner Nähe.«
»Danke, Drake.« Es beruhigte mich, ihn in meiner Nähe zu wissen. Aber ich konnte es nicht ändern, ich hätte auch Luke gerne bei ihr gehabt, wäre gerne mit ihm nach Farthy gegangen, damit er mir helfen konnte, wieder auf die Beine zu kommen.. Ich malte mir aus, wie ich mit Luke in dem großen Pavillon in Farthy sitzen würde, wie er mich im Rollstuhl herumfahren oder an meinem Bett sitzen und mir vorlesen würde . . .
Als Drake ging, kam Mrs. Broadfield an mein Bett und drückte den Knopf, so daß sich der Kopfteil meines Bettes hob und ich in eine sitzende Position kam.
»Es ist Zeit, daß Sie etwas Nahrhaftes zu sich nehmen«, verkündete sie.
Ich schloß die Augen, damit sich der Raum nicht mehr um mich herum drehte, doch diesmal erhob ich keine Einwände. Das wichtigste war jetzt für mich, gesund zu werden und aus diesem Krankenhaus herauszukommen, wo ich in jeder Hinsicht von anderen abhängig war. Und ich wollte vor allem so bald wie möglich das Grab meiner Eltern besuchen.
Ich mußte Abschied von ihnen nehmen.