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3. KAPITEL
SCHMERZLICHE KREUZWEGE

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Drake konnte vor Anfang Juni nicht mehr nach Hause kommen, da er seine Semesterabschlußprüfungen am College ablegen mußte. Einige Tage nachdem er den Brief abgeschickt hatte, rief er mich jedoch an, um sich zu vergewissern, daß ich ihn erhalten hatte, und mir mehr über Farthy zu erzählen.

»Tony Tatterton hat mir das Zimmer gezeigt, in dem Heaven gewohnt hat, als sie in Farthy war«, begann er mit leiser Stimme.

»Wirklich?« Mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, daß er dort gewesen war, dort, wo der Ursprung so vieler Geheimnisse unserer Familie lag. Von uns allen war Drake der Antwort auf all die Fragen, die uns quälten, am nächsten gekommen.

»Es war auch das Zimmer deiner Großmutter Leigh. Ich war etwas verwirrt, denn einmal sprach Tony von Leigh und im nächsten Moment von Heaven.«

»Vielleicht ist er ein wenig verwirrt oder sogar senil?« gab ich zu bedenken.

»Das glaube ich nicht. Er leitet noch einen Teil der Geschäfte des Tatterton-Spielzeugimperiums, und als er sich mit mir über meine berufliche Laufbahn und die Wirtschaft unterhielt, wirkte er sehr klar und hervorragend informiert.«

»Wie sieht er aus? So wie auf den Fotos?«

»Heute nicht mehr. Sein Haar ist grau, und als ich ihn gesehen habe, hatte er sich offensichtlich seit einigen Tagen nicht mehr rasiert. Seine Kleidung sah teuer aus, aber sein Jackett und seine Hose hätten aufgebügelt werden müssen, und seine Krawatte war voller Flecken. Meiner Ansicht nach ist der Butler, er heißt Curtis, nicht mehr zu viel nutze. Er sieht offensichtlich nicht sehr gut und braucht eine Ewigkeit, um sich von einem Zimmer ins andere zu bewegen.«

»Gab es keine Dienstmädchen?« fragte ich erstaunt. Ich hatte angenommen, daß ein Mann, der so reich war wie Tony Tatterton, von einem ganzen Stab von Bediensteten umgeben wäre.

»Ich habe keine gesehen, aber ich nehme an, daß es zumindest jemanden geben muß, der die Räume, die er bewohnt, sauber hält. Aber ich habe den Koch kennengelernt, denn er half beim Auftragen des Essens. Sein Name ist . . . nun halte dich fest . . . Rye Whiskey.«

»Oh, ich erinnere mich, daß Mammi diesen Namen erwähnt hat«, flüsterte ich aufgeregt. Als ich diesen Namen hörte, lebten die wenigen Geschichten, die ich aus unserer verbotenen Vergangenheit kannte, wieder auf. »Auch er muß mittlerweile sehr alt sein.«

»Wahrscheinlich, aber ihm sieht man das Alter nicht so sehr an wie dem Butler. Er war offensichtlich froh darüber, einen weiteren Esser am Tisch zu haben, und die Portion, die er auf meinen Teller häufte, hätte für drei gereicht. Ich mochte ihn. Er hat Sinn für Humor, und er kümmert sich anscheinend gut um Tony.«

»Oh, ich wünschte mir, ich wäre auch dort gewesen!« Jeder Augenblick hätte mir ein Geheimnis enthüllt und mir erlaubt, die Vergangenheit der Familie besser zu verstehen, dachte ich. Jene Treppen hinauf zu gehen und das Zimmer meiner Urgroßmutter und meiner Mutter zu betreten! Vielleicht hätte ich etwas gesehen, das sofort das Rätsel gelöst hätte, warum meine Mutter Tony Tatterton nicht mochte.

Aber vor allem wäre ich in Lukes und meine Traumwelt eingetreten. Würde sie unseren Vorstellungen entsprechen? Würde Farthinggale der Ort sein, an dem wir frei und offen miteinander sein konnten? Wären wir dort abgeschirmt und geschützt vor all den häßlichen, grausamen und störenden Dingen, die das Leben manchmal zu solch einer Last machten?

Das Haus so zu malen, wie es wirklich war! Wie aufregend das wäre! In Gedanken ließ ich mich auf der großen Rasenfläche am Eingang nieder, und das mächtige Gebäude lag vor mir.

»Du würdest nicht dort bleiben wollen«, sagte Drake in entmutigendem Ton, »es war traurig. Ich habe Tony versprochen, in Kontakt mit ihm zu bleiben, und ich denke, daß ich ihn in einigen Tagen anrufen werde. Mir gefällt die Vorstellung, in seinem Unternehmen zu arbeiten, in leitender Stellung natürlich. Aber erzähle Heaven nicht, daß ich das gesagt habe.«

»Natürlich nicht.« Und wieder war ich über Drakes Absicht erstaunt, dies alles nicht nur vor meiner Mutter geheimzuhalten, sondern auch seine Verbindung mit Tony Tatterton aufrechtzuerhalten, eine Tatsache, die ihr zutiefst mißfallen würde. Ich fragte mich, was für ein Mann Tony Tatterton wohl war, da er einen so nachhaltigen Eindruck auf Drake gemacht hatte.

»Nun gut, ich werde dich in einigen Wochen wiedersehen. Ich fürchte, ich werde nicht zu Fannys großer Geburtstagsparty kommen können. Es tut mir aufrichtig leid. Sie schrieb mir, daß sie schon eine Band engagiert habe. Sie hat Unmengen von Leuten eingeladen, auch einige Freunde unserer Eltern. Und sie hat sogar eine Firma beauftragt, ihr Haus und ihr Grundstück zu dekorieren. Könntest du dir vorstellen, dich selbst auf so pompöse Weise zu feiern? Ich bin sicher, daß sie nur Publikum für einen ihrer extravaganten Auftritte haben will. Du mußt mir nachher genau erzählen, welche lächerlichen und peinlichen Sachen sie sich diesmal wieder hat einfallen lassen. Ich denke, sie wird all ihre jugendlichen Liebhaber einladen, die sich um sie scharen werden wie Höflinge zu Füßen einer Königin.«

»Für Luke wird das alles sicher nicht sehr komisch«, sagte ich und war traurig, daß selbst Drake sich über Tante Fanny lustig machte. »Er will nicht einmal hingehen, er fürchtet sich richtig davor!« rief ich.

»So?« sagte Drake erstaunlich gleichgültig und kalt. »Sag ihm, er soll sich in seinem Zimmer verstecken. Ich rufe dich an, sobald ich wieder mit Tony gesprochen habe, und werde dir alles erzählen.«

Ich mußte immer daran denken, was er gesehen und erlebt hatte.

»O Drake, du bist der einzige von uns, der dort war. Und kaum bist du zurückgekommen, gehst du schon wieder hin.« Ich weinte wie ein eifersüchtiges kleines Mädchen. Ich konnte nicht anders.

»Durch mich wirst auch du dort sein«, versprach Drake, und seine Stimme war jetzt sanfter und freundlicher, »und es wird kein Märchenspiel mehr sein. Also, bis bald.«

Ich konnte kaum den nächsten Tag und die Mittagspause in der Schule erwarten, um Luke alles über Drakes Anruf zu erzählen. Ich nahm nicht an, daß er so aufgeregt sein würde wie ich. Schließlich hatte seine Familie keine Verbindung zu Farthy, und die Geheimnisse, die die Vergangenheit meiner Mutter umwölkten, betrafen ihn nicht direkt.

Jetzt saß er mir gegenüber, kaute lustlos an seinem Sandwich und hörte zu, doch ich sah, daß er zerstreut war und Kummer hatte. Ich dachte die ganzen restlichen Schulstunden an ihn und bat ihn dann, mit mir nach Hause zu gehen, da ich hoffte, ihn so eingehender befragen zu können.

Es war ein schöner Spätsommertag, doch es hätte ebensogut Hochsommer sein können. Dicke weiße Wolken trieben träge über den türkisblauen Himmel. Während Luke und ich durch die Straßen der Stadt gingen, hörten wir immer wieder das Klirren von Eiswürfeln in Limonadengläsern. Alte Leute saßen vor ihren Haustüren und beobachteten neugierig die Straße. Von Zeit zu Zeit hörten wir Ausrufe wie: »Das ist das Stonewall-Mädchen« oder: »Ist das nicht ein Casteel?«

Ich haßte die Art, wie sie den Namen »Casteel« aussprachen; er klang in ihrem Munde wie ein Schimpfwort. Ich wußte, warum die Leute eine so schlechte Meinung von den Casteels hatten. Es lag an dem extravaganten Verhalten meiner Tante Fanny und an der Tatsache, daß die Casteels aus den Willies stammten. Sie waren Bergbewohner, die weniger gut erzogen waren als die Stadtbewohner und nur einen Bruchteil ihres Reichtums besaßen. Die Menschen in der Stadt verachteten die Art, wie sich die Leute aus den Willies kleideten und wie sie lebten, und das war zum Teil auch verständlich. Aber sahen sie Luke nicht an, daß er das alles hinter sich gelassen hatte? Er hatte ganz recht mit seinem Wahlspruch »Strebe nach den höchsten Gipfeln«.

Am meisten liebte ich diesen Heimweg von der Schule im Frühling, wenn alle Bäume und Sträucher an der Straße blühten und die Rasenflächen in saftigem Grün leuchteten, wenn Tulpen, Azaleen und Iris in voller Blüte standen und die Gehwege und Innenhöfe sauber gefegt waren. Sperlinge hockten dann auf den Telefondrähten aufgereiht und beobachteten die Autos und die Menschen unter sich. Rotkehlchen saßen in den Zweigen und spähten neugierig aus dem kühlen, grünen Blattwerk. Von Zeit zu Zeit flog eine Amsel vorbei. Die Energie dieser kleinen Vögel schien unerschöpflich, mochte es auch noch so heiß sein.

Alles wirkte heiter und lebendig.

Fast den ganzen Weg über schwieg Luke und hielt den Kopf gesenkt. Als ich an der Auffahrt von Hasbrouck House stehenblieb, hatte er nicht einmal bemerkt, daß wir zu Hause angekommen waren.

»Willst du dich für einen Augenblick mit mir in den Pavillon setzen?« fragte ich hoffnungsvoll, denn ich wollte mich nicht von ihm trennen, ehe er mir nicht erzählt hatte, was ihn bedrückte.

»Nein, es ist besser, wenn ich nach Hause gehe«, sagte er, und seine Stimme klang traurig.

»Luke Toby Casteel!« rief ich schließlich und stemmte die Hände in die Hüften. »Normalerweise haben wir keine Geheimnisse voreinander, selbst wenn es um schmerzliche Dinge geht.«

Er starrte mich einen Augenblick lang an, als ob er eben gerade erwacht sei und meine Anwesenheit erst jetzt bemerken würde. Dann wandte er den Blick ab.

»Ich habe gestern die Nachricht erhalten, daß ich mit einem Vollstipendium in Harvard angenommen worden bin«, sagte er überraschend gleichgültig und ruhig.

»O Luke, wie wunderbar!«

Er hob die Hand, um mir zu bedeuten, daß das nicht alles war, was er mir zu sagen hatte. Dann senkte er wieder den Blick, um all seinen Mut zu sammeln, während ich spürte, wie ein Kloß meine Kehle zuschnürte.

»Ich habe meiner Mutter nie gesagt, daß ich mich in Harvard beworben habe. Wann immer ich Harvard erwähnte, ließ sie eine Schimpftirade auf diese undankbare Familie los, die sich für etwas Besseres hielte. Sie tobte und schimpfte auf Onkel Keith und Tante Jane, weil sie nie anrufen oder schreiben. Es ärgert sie, daß sie nie nach Farthinggale eingeladen wurde, nicht einmal zur Hochzeit deiner Eltern. Sie wirft alles durcheinander: Harvard, die Tattertons und all jene, die sie als ›verdammte Stadtsnobs‹ bezeichnet.«

»O Luke, das ist so ungerecht dir gegenüber«, tröstete ich ihn.

Er nickte.

»Ich habe ihr also nichts von meiner Bewerbung erzählt«, fuhr er fort. »Gestern kam dann mit der Post die Aufnahmebestätigung, und sie hat den Brief geöffnet. Dann hat sie sich betrunken und ihn zerrissen. Ich habe die Fetzen auf dem Fußboden meines Zimmers gefunden.«

»O Luke, das tut mir leid«, flüsterte ich.

»Das macht nichts. Die Tatsache, daß sie ihn zerrissen hat, wird mich nicht daran hindern, nach Harvard zu gehen. Aber die ekelhaften Dinge, die sie gesagt hat, als sie betrunken war, haben mir sehr weh getan.«

Obwohl er mir nicht erzählte, was sie gesagt hatte, wußte ich doch, gegen wen sich ihre Worte gerichtet hatten.

»Über meinen Vater?« Ich atmete tief durch, um mich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. »Du kannst mir auch das erzählen.« Ich schloß die Augen und bebte innerlich in Erwartung all der Gemeinheiten, die ich nun hören würde.

»Ich werde dir nicht alles sagen, denn einiges war so haßerfüllt und grauenvoll, daß ich mich selbst nicht mehr daran erinnern möchte. Das schlimmste war, daß sie mich beschuldigte, ich gliche Logan mehr als ihr und wäre öfter bei den vornehmen Stonewalls als bei ihr. Aber wirklich, Annie, deine Eltern behandeln mich besser als sie. Sie ist kaum zu Hause und hat nie Zeit, das Essen zuzubereiten. Trotzdem wirft sie mir vor, daß ich so viel Zeit in eurem Haus verbringe. Sie haßt mich dafür.«

»O Luke, sie haßt dich nicht.«

»Sie haßt einen Teil von mir – nämlich, daß ich auch ein Stonewall bin. Daher betrinkt sie sich und zieht mit ihren jungen Liebhabern los. Anschließend ärgert sie sich über mich, weil ich es nicht mag, wenn sie sich betrinkt.«

»Es tut mir so leid, Luke, aber denk nur daran, daß du bald auf das College gehst und all das hinter dir läßt«, tröstete ich ihn, auch wenn mich die Vorstellung erschreckte, daß wir getrennt sein würden . . .

»Sie meint, daß ich sie nicht mag. Aber das stimmt nicht. Ich hasse nur das, was sie sich selbst manchmal antut. Aber sie tut mir auch leid, denn ihr Leben ist ja nicht sonderlich glücklich verlaufen. Also habe ich viel gearbeitet und mich angestrengt, so gut ich konnte, um ihr die Möglichkeit zu geben, stolz auf mich zu sein und mit hocherhobenem Kopf durch die Straßen zu gehen. Aber das tut sie ja sowieso«, fügte er hinzu. Ich lächelte. Tante Fanny würde nicht zögern, jeglichen Erfolg stolz in Winnerrow zur Schau zu stellen.

»Aber statt sich darüber zu freuen, daß ich mit einem Vollstipendium in Harvard angenommen wurde, wirft sie mir vor, ich würde sie im Stich lassen.«

»Sie wird ihre Meinung ändern«, versicherte ich ihm. Armer Luke, dachte ich. Er hatte so hart gearbeitet, damit wir alle stolz auf ihn sein könnten, und seine Mutter hatte diesen Anlaß zum Stolz in Fetzen zerrissen und ihn wie Abfall auf den Boden geworfen. Das mußte ihm fast das Herz gebrochen haben.

Jetzt hätte ich ihn so gerne in die Arme genommen und getröstet. Ich hätte es getan, wenn mich nur . . . wenn mich nur nicht so vieles zurückgehalten hätte . . .

»Ich weiß es selbst nicht. Auf alle Fälle freue ich mich nicht besonders auf ihre Geburtstagsparty. Sie hat alle Männer eingeladen, die sie jemals ausgeführt haben, und auch einige von ihren Freunden aus der Unterschicht. Das hat sie nur getan, um die Familie zu ärgern.« Er schüttelte den Kopf. »Es wird für keinen von uns sehr angenehm werden.«

»Meine Mutter wird das schon in den Griff bekommen«, sagte ich, und der Gedanke an Mammis Geistesgegenwart und Entschlossenheit munterte mich auf. »Sie kann sich in jeder Situation wie eine Dame benehmen. Ich hoffe, daß ich in ihrem Alter ebenso stark sein werde wie sie.«

Luke nickte wissend.

»Das wirst du bestimmt. Du gleichst ihr so sehr!«

»Danke. Es gibt niemanden, dem ich lieber ähnlich sein möchte. Und mach dir keine Sorgen wegen der Party. Ich werde dort sein und dir helfen, falls Tante Fanny die Kontrolle über sich verlieren sollte«, versicherte ich ihm.

»Du hast sie noch nie gesehen, wenn sie wirklich die Kontrolle über sich verloren hat, Annie«, warnte Luke. Dann schüttelte er den Kopf, und seine Miene hellte sich auf. »Auf alle Fälle, vielen Dank fürs Zuhören. Du warst immer für mich da, wenn ich dich gebraucht habe, und es hat mir immer geholfen. Du weißt nicht, wie sehr mir das geholfen hat, Annie. Allein zu wissen, daß du für mich da bist und mich ermutigst, weiterhin zu jenen hohen Gipfeln aufzustreben, um den Blick von dort oben zu genießen. Als ich erfuhr, daß ich in Harvard angenommen bin, habe ich mir gedacht, daß Annie stolz auf mich sein wird. Manchmal habe ich das Gefühl, daß du meine einzig wahre Familie bist. Ich danke dir, Annie.«

»Du brauchst dich nicht zu bedanken, Luke Toby Jr.« Es klang so, als wäre ich nur eine gute Freundin, und das gefiel mir nicht. Ich mußte ihm doch noch mehr bedeuten! »Schließlich hast du dir schon oft genug meine Sorgen angehört.«

Er lächelte, und seine blauen Augen waren so mild und warm wie der sonnenerfüllte Himmel, der sich über uns wölbte.

»Ich werde dich vermissen, wenn du nach Europa gehst, um dort Kunst zu studieren. Aber ich weiß, wie wichtig es für dich ist«, fügte er hinzu, »und ich weiß, wie sehr es dir dabei helfen wird, eine wunderbare Malerin zu werden.«

»Ich werde dir oft schreiben, aber ich bin sicher, daß du schon nach der ersten Woche ein lebenslustiges Mädchen aus der Stadt zur Freundin haben wirst.« Wie sehr wünschte ich mir, ihm zu sagen, daß ich immer seine Freundin bleiben würde, aber wie konnte ich? Wir waren Bruder und Schwester, und es schien, als stünde die ganze Welt zwischen uns und hindere uns daran, das zu tun, wonach wir uns wirklich sehnten. Denn im Innersten meines Herzens wußte ich, daß er ebenso empfand wie ich, und ein Teil unserer Herzen trauerte und sehnte sich danach, daß wir für immer beieinander bleiben könnten. Doch wir mußten so tun, als wäre es ganz selbstverständlich, daß jeder von uns jemand anderen finden würde, obwohl wir doch insgeheim darum beteten, daß es nie geschehen möge.

Sein Lächeln verschwand, und er war plötzlich so ernst wie ein Pfarrer bei der Sonntagspredigt.

»Ich weiß nicht . . . , nachdem du mein ganzes Leben lang meine Vertraute warst, wird das Mädchen, in das ich mich verliebe, vollkommen sein müssen.« Seine leuchtenden blauen Augen richteten sich wieder auf mich. Sein Blick war jetzt voller Wärme und Zuneigung, und es war mehr als nur eine brüderliche Zuneigung. Er betrachtete mich mit solchem Verlangen, daß ich spürte, wie eine heiße Welle in mir aufstieg und meine Wangen rötete. Wir sahen uns an wie ein junges Liebespaar. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Alles in mir verlangte danach, ihn zu umarmen. Ich konnte seine Lippen fast auf den meinen spüren. Er wartete und suchte in meinem Gesicht ein Zeichen der Ermutigung. Ich mußte dem Ganzen ein Ende setzen, ehe wir zu weit gingen.

»Ich werde dich später anrufen«, flüsterte ich atemlos und rannte über die Auffahrt zur Vordertür von Hasbrouck House. Als ich mich umwandte, stand er noch immer regungslos auf demselben Fleck. Er winkte, und ich winkte zurück. Dann huschte ich ins Haus und lief hinauf in mein Zimmer. Mein Herz klopfte so stürmisch wie nie zuvor. Warum mußte Luke, der mir näher stand als sonst irgendein Gleichaltriger, ausgerechnet mein Halbbruder sein? Wir teilten so vieles, unser Glück und unsere Trauer.

Wie sehr wünschte ich mir, er wäre irgendein Fremder, der in Harvard studierte. Ich würde Tony Tatterton in Farthinggale besuchen und Luke in Boston kennenlernen. Vielleicht würden wir uns in einem Kaufhaus treffen. Er würde plötzlich neben mir stehen und sagen: »Oh, diese Farbe paßt aber gar nicht zu Ihnen. Nehmen Sie doch den hier.« Und er würde mir einen marineblauen Schal entgegenhalten. »Er betont das Blau Ihrer Augen.«

Ich würde mich umdrehen und in das hübscheste Gesicht blicken, das ich je gesehen hatte. Und dann würde ich mich sofort in ihn verlieben.

»Verzeihen Sie, daß ich so frei bin, aber ich konnte nicht mitansehen, daß sie einen solchen Fehler begehen.«

»Dann muß ich mich wohl bei Ihnen bedanken«, würde ich sagen und kokett die Augen niederschlagen. »Aber zuerst würde ich gern Ihren Namen wissen.«

»Luke. Und Sie heißen Annie. Ich habe mir schon die Mühe gemacht, es herauszufinden.«

»Oh, wirklich?« Ich würde mich geschmeichelt fühlen. Dann würden wir zusammen Kaffee trinken gehen, und wir würden reden und reden. Jedes Mal, wenn ich nach Boston käme, würden wir zusammen zum Essen oder ins Kino gehen. Dann würde er mich auf dem Familienbesitz besuchen, und in dieser prachtvollen Umgebung würden wir uns näher kennenlernen. Aber das Haus würde nicht so sein, wie Drake es beschrieben hatte, sondern so wie Luke und ich es uns vorgestellt hatten: ein Märchenschloß aus dem Stoff, aus dem die Träume waren.

Aber das war unmöglich. Das Leben war wie eine Achterbahn, und wir näherten uns gerade dem höchsten Punkt. Wir würden beide bald unsere Abschlußprüfung machen, und dann würde es in rasend schneller Fahrt hinabgehen in die Zukunft, die jeden von uns in eine andere Richtung leiten würde. Wir würden uns nicht einmal mehr umwenden können, um zurückzuschauen.

Nachdem ich ihm von dem Fenster meines Zimmers aus nachgesehen hatte, wie er davonging, legte ich mich auf mein Bett und starrte durch die weiß und rosafarben gemusterten Gardinen nach draußen. Ich lauschte dem Gesang der Vögel und dem Klopfen meines Herzens. Das machte mich so traurig, daß Tränen in mir aufstiegen. Ich hatte das Gefühl, stundenlang geweint zu haben, als ich die sanfte, besorgte Stimme meiner Mutter hörte.

»Annie, was ist passiert?« Sie kam mit raschem Schritt herein und setzte sich zu mir auf das Bett. »Liebling?« Ich spürte, wie ihre Hand tröstend und teilnahmsvoll über mein langes, dunkles Haar strich. Ich wandte ihr mein tränenüberströmtes Gesicht zu.

»O Mammi, ich weiß es nicht«, schluchzte ich. »Manchmal muß ich einfach weinen und fühle mich so elend. Ich weiß, daß ich glücklich sein sollte. Bald werde ich meinen Abschluß machen und dann zu einer langen Reise nach Europa aufbrechen. Ich werde all die wundervollen Orte sehen, über die die meisten anderen Leute nur lesen oder die sie allenfalls von Bildern kennen. Ich habe so viele Dinge, die andere Mädchen in meinem Alter nicht haben, aber . . .«

»Aber was, Annie?«

»Aber mir kommt es so vor, als würde alles plötzlich zu schnell gehen. Luke wird bald aufs College gehen, und er wird ein ganz anderer Mensch werden. Wir werden uns wahrscheinlich kaum noch sehen«, weinte ich.

»Aber das bringt nun einmal das Erwachsenwerden mit sich, Annie.« Meine Mutter lächelte und küßte mich auf die Wange.

»Und all die Dinge, die mir immer so wichtig und groß schienen, werden plötzlich klein und . . . unbedeutend. Der Pavillon . . .«

»Was ist mit dem Pavillon, Annie?« Das Lächeln schien auf ihren Lippen zu erstarren, und sie wartete, während ich versuchte, die richtigen Worte zu finden.

»Es ist jetzt nur ein ganz gewöhnlicher Pavillon«, sagte ich.

»Nun, Annie, er war nie etwas anderes.«

»Nein, es war mehr«, beharrte ich. Viel mehr, dachte ich. Er war unser Traumhaus gewesen, und nun entschwanden unsere Träume allzu rasch.

Sie schüttelte den Kopf.

»Du durchlebst etwas, was jeder junge Mensch in deinem Alter durchmachen muß, Annie. Das Leben kann sehr schwierig sein, wenn man an diesen Kreuzweg kommt. Bis jetzt warst du ein kleines Mädchen, das geliebt und behütet wurde, und jetzt erwartet man, daß du erwachsen wirst und Verantwortung übernimmst.«

»War es bei dir genauso?« fragte ich.

»Ich fürchte, schon viel eher als bei dir.«

»Weil dein Vater dich und deine Brüder und Schwestern verkauft hat?«

»Sogar noch früher, Annie. Ich hatte nicht viel Gelegenheit, ein kleines Mädchen zu sein. Ehe ich begriffen hatte, was geschah, mußte ich Keith und Jane eine Mutter sein.«

»Ich weiß. Und Fanny war leider keine Hilfe.«

»Nein.« Sie lachte. »Wohl kaum. Fanny war immer in der Lage, ihre Probleme abzustreifen wie ein Kleidungsstück. Aber dein Onkel Tom war eine große Hilfe. Tom war wunderbar, er war stark und sehr reif für sein Alter. Ich wünschte, du hättest ihn kennengelernt«, fügte sie nachdenklich hinzu. Ihre Augen, die den meinen so sehr glichen, nahmen einen abwesenden Ausdruck an.

»Aber später, nachdem du dich entschlossen hast in Farthy zu leben, ist dein Leben doch um vieles leichter geworden, nicht wahr?« erwiderte ich in der Hoffnung, daß sie mir mehr erzählen würde. Sie schreckte aus ihren Gedanken auf.

»Nicht sofort. Vergiß nicht, daß ich ein Mädchen aus den Willies war und nun plötzlich in einer verrückten, raffinierten, luxuriösen Welt leben sollte. Ich wurde in eine Eliteschule geschickt, auf die nur reiche, eingebildete Mädchen gingen, die auf mich herabsahen.« Bei dieser Erinnerung verhärtete sich ihr Gesicht.

»Reiche Mädchen können sehr grausam sein, denn ihr Geld schützt sie wie ein Kokon. Sei nie geringschätzig oder unfreundlich gegenüber denen, die weniger besitzen als du, Annie.«

»Oh, bestimmt nicht«, beteuerte ich. Meine Mutter hatte mir das eingeschärft, seit ich sprechen konnte.

»Nein, ich nehme auch nicht an, daß du so werden wirst.« Sie lächelte zärtlich. »So sehr dein Daddy sich auch bemüht hat, es ist ihm nicht gelungen, dich zu verziehen«, sagte sie, und ihr Blick ruhte liebevoll auf mir.

»Mutter, wirst du mir jemals erzählen, warum du Tony Tatterton so sehr haßt?« Ich schluckte hastig und biß mir auf die Zunge, um ja nichts von Drakes Brief und seinem Besuch in Farthy zu erzählen.

»Ich hasse ihn nicht so sehr, wie ich ihn bemitleide, Annie«, sagte sie, und ihre Stimme klang fest. »Er mag einer der reichsten Männer der Ostküste sein, aber für mich ist er ein armer Mensch.«

»Aber warum?«

Sie starrte mich an. Konnte sie in meinem Gesicht lesen, was mir Drake geschrieben und am Telefon erzählt hatte? Ich mußte die Augen senken, doch eigentlich sah sie mich gar nicht an, sondern durch mich hindurch auf ihre eigenen Erinnerungen. Sie preßte die Lippen zusammen, und ihre Augen wurden schmal.

»Mammi?«

»Annie«, begann sie schließlich, »vor langer Zeit hat mir einmal jemand gesagt, daß man sich manchmal selbst täuscht, indem man Wünsche und Bedürfnisse mit Liebe verwechselt. Er hatte recht. Liebe ist etwas sehr Wertvolles, aber auch etwas sehr Zerbrechliches. So zerbrechlich wie . . . eines der kleinen, komplizierten, handgefertigten Spielzeuge. Wenn man es zu fest hält, zerbricht es, hält man es nicht fest genug, so kann ein Windstoß es auf den harten Boden blasen. Höre immer auf die Stimme deines Herzens, Annie, aber du mußt dir ganz sicher sein, daß es wirklich dein Herz ist, das zu dir spricht. Wirst du immer daran denken, Annie?«

»Ja. Aber warum sagst du mir das? Hat es mit deinem Leben in Farthy zu tun?« Ich hielt den Atem an.

»Eines Tages werde ich dir alles erzählen, Annie. Ich verspreche es dir. Laß mir nur etwas Zeit. Bitte, hab Vertrauen.«

»Ich vertraue dir, Mammi. Mehr als irgend jemand anderem auf der Welt.« Ich war enttäuscht. Seit wieviel Jahren hörte ich dieses Versprechen schon? Wann war die Zeit endlich gekommen? Ich war schon achtzehn Jahre alt und eine erwachsene Frau. Sie hatte mir ihre wertvollsten Diamanten geschenkt und mir die kleine Spielzeughütte anvertraut, die ihr so teuer war wie nichts auf der Welt. Wann würde sie mir endlich die Geschichte ihres Lebens anvertrauen?

»Meine Annie, meine liebe, liebe Annie.« Sie nahm mich in die Arme und preßte ihre Wange an die meine. Dann seufzte sie und stand auf. »Ich habe noch kein Geburtstagsgeschenk für deine Tante Fanny gekauft. Möchtest du mir beim Aussuchen helfen?«

»Ja. Luke ärgert sich so sehr über ihre Pläne für die Party.«

»Ich weiß. Es ist mir ein Rätsel, warum sie uns dabeihaben will. Aber unterschätze deine Tante Fanny nicht. Sie redet zwar wie ein Hinterwäldler, aber sie ist nicht dumm. Sie vermittelt uns schon Schuldgefühle, ehe wir uns ablehnend verhalten können. In ihrer Art ist sie einmalig«, fügte sie hinzu und schüttelte belustigt den Kopf.

»Sprich mit ihr über Luke, Mutter. Erklär ihr, daß sie aufhören muß, ihm Harvard zu verderben.«

»Er ist angenommen?« Ihre Stimme klang freudig.

»Ja, und er hat ein Vollstipendium bekommen.«

»Wie wunderbar.« Sie richtete sich stolz auf. »Ein weiterer Nachkomme von Großvater Toby Casteel geht also nach Harvard«, verkündete sie, als würde sie zu der ganzen Stadt sprechen. Dann wurden ihre Augen sanft. »Mach dir keine Sorgen wegen Fanny. Glaub mir, im Innersten ihres Herzens ist sie stolz auf Luke. Ich bin sicher, daß sie irgendeinen Grund finden wird, um ihn zu besuchen und über den Campus zu stolzieren wie eine Königin.«

Sie verschränkte die Arme unter der Brust, wie es Tante Fanny zu tun pflegte, und warf den Kopf zurück. »Na ja, mein Sohn besucht das College, also hab ich mir gedacht, ich kann über den Campus gehen, wann immer es mir paßt!«

Wir lachten beide, und dann nahm sie mich wieder in die Arme.

»So ist es schon besser. Jetzt bist du die Annie, die du sein solltest: glücklich, fröhlich und lebendig. So wie ich gerne gewesen wäre«, sagte sie zärtlich. Die Tränen, die jetzt über meine Wangen liefen, waren Freudentränen.

Wie schnell meine Mutter die dunklen Wolken meiner Schwermut vertreiben konnte! Meine Welt war jetzt plötzlich wieder von hellem, goldenem Sonnenschein erfüllt, und der Gesang der Vögel schien mir nicht länger traurig. Ich umarmte und küßte sie. Dann ging ich in das Badezimmer, um mein tränenverschmiertes Gesicht zu waschen, damit wir in die Stadt gehen und ein Geschenk für Tante Fanny aussuchen konnten.

Nacht über Eden

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