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PROLOG

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Solange ich denken konnte, gab es nur einen Menschen, mit dem ich meine tiefsten Geheimnisse teilen konnte, und das war Luke Casteel Jr. Mir war es, als wäre ich nur wirklich lebendig, wenn er mich ansah, und tief in meinem Innersten wußte ich, daß er ebenso empfand, auch wenn er nie gewagt hätte, es mir zu sagen. Ich sehnte mich danach, meinen Blick für immer tief in seine dunklen, saphierblauen Augen zu senken und ihm zu sagen, was ich wirklich fühlte. Aber solche Worte waren verboten, denn er war mein Halbbruder.

Dennoch gab es einen Weg, wie ich ihn längere Zeit ansehen konnte, ohne daß wir befürchten mußten, einem Außenstehenden unser Geheimnis zu enthüllen: Ich malte ihn. Er stellte sich mir immer gerne als Modell zur Verfügung. Wenn die Staffelei zwischen uns stand, diente mir die Kunst als eine Art Fenster, und ich konnte sein wunderschön geformtes, braungebranntes Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der widerspenstigen, tiefschwarzen Haarsträhne, die ihm immer wieder in die Stirn fiel, nach Belieben betrachten.

Luke hatte das Haar meiner Tante Fanny geerbt, doch die dunkelblauen Augen und die gerade Nase hatte er von meinem Vater. Die Form seines Mundes und seines markanten, glattrasierten Kinns verriet Charakter. Auch mein Körperbau glich dem meines Vaters; die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen den beiden überraschte mich immer wieder, wenn mir seine hohe, schlanke Gestalt entgegentrat. Diese Ähnlichkeit betrübte mich, denn sie erinnerte mich ständig daran, daß Luke nicht nur mein Halbbruder war, sondern daß er einem leidenschaftlichen Verhältnis zwischen meinem Vater und meiner Tante Fanny, der Schwester meiner Mutter, entstammte. Natürlich vermied man es in unserer Familie, über diesen Umstand zu sprechen. Er wurde einfach übergangen, und wir versuchten, einen Mantel des Schweigens darüber zu breiten, obwohl wir selbstverständlich wußten, daß die Leute in Winnerrow über uns redeten und klatschten. Denn wenn unsere Familie auch zu den angesehensten von Winnerrow gehörte, so war sie doch recht ungewöhnlich. Luke Jr. lebte bei seiner Mutter, die zweimal verheiratet gewesen war. Ihr erster Mann war wesentlich älter als sie gewesen und gestorben; der zweite war um einiges jünger als sie und hatte sich von ihr scheiden lassen.

Jedermann in Winnerrow erinnerte sich an die Verhandlung, in der entschieden werden sollte, ob die Vormundschaft über ihren Halbbruder Drake meiner Mutter oder Tante Fanny zugesprochen wurde. Ihr Vater Luke und seine zweite Frau Stacy waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Drake war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Man hatte sich schließlich gütlich geeinigt: Meiner Mutter wurde die Vormundschaft zugesprochen, und Tante Fanny erhielt eine beträchtliche Geldsumme . . . Drake war es zuwider, wenn man in seiner Gegenwart von dieser Sache sprach; und in der Schule hatte er sich mehr als einmal geprügelt, weil ihn die anderen Jungen damit neckten, daß er »gekauft« worden sei. Nach Mutters Ansicht hatte Drake ohnehin das Wesen ihres Vaters geerbt. Er war hübsch, muskulös und sehr sportlich, heiter und zugleich entschlossen. Jetzt studierte er am Harvard Business College Betriebswirtschaft. Auch wenn er eigentlich mein Onkel war, sah ich in ihm eher einen Bruder. Mammi und Daddy hatten ihn stets wie ihren eigenen Sohn behandelt.

Fast jeder in Winnerrow kannte die Geschichte meiner Mutter und wußte, daß sie in den Willies geboren und aufgewachsen war, daß ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war und daß sie eine schwere Jugend gehabt hatte. Später war sie fortgezogen und hatte eine Zeitlang bei den Tattertons, der reichen Familie ihrer Mutter, gelebt.

Damals wohnte sie in dem herrschaftlichen Haus der Tattertons, in Farthinggale Manor oder »Farthy«, wie sie es zumeist nannte, wenn ich sie einmal dazu bewegen konnte, über diese Zeit zu sprechen. Doch das geschah nicht sehr oft.

Aber Luke und ich sprachen darüber, sooft wir allein waren. Farthinggale Manor . . . In unserer Vorstellung war es ein verwunschenes Schloß, ein magischer Ort, der Tausende von Geheimnissen barg. Und immer noch wohnte der mysteriöse Tony Tatterton dort, jener Mann, der meine Urgroßmutter geheiratet hatte und das riesige Tatterton-Spielzeugimperium leitete, das heute nur noch lose mit unserer Spielzeugfabrik in den Willies verbunden war. Aus Gründen, die meine Mutter nicht preisgeben wollte, vermied sie jeden Kontakt mit ihm, obwohl er nie vergaß, uns allen Geburtstags- und Weihnachtskarten zu schicken. So lange ich mich erinnern konnte, hatte er mir zu jedem Geburtstag eine Puppe aus einem fremden Lande geschickt. Immerhin erlaubte meine Muter mir, sie zu behalten. Es waren wertvolle kleine chinesische Puppen mit langem, glattem, schwarzem Haar, Puppen aus Holland, Norwegen und Irland, die bunte Kostüme trugen und lebendige, strahlende Gesichter hatten.

Luke und ich wollten gerne mehr über Tony Tatterton und Farthy erfahren. Denn es gab so viele Fragen, auf die wir keine Antwort wußten. Was hatte meine Eltern bewogen, der glanzvollen Welt von Farthinggale Manor den Rücken zu kehren? Warum hatte meine Mutter unbedingt nach Winnerrow zurückkehren wollen, wo man hochmütig auf sie herabsah, weil sie eine Casteel aus den Willies war?

So viele Geheimnisse lauerten hinter den Schatten, die uns umgaben! Soweit ich zurückdenken konnte, hatte ich immer das Gefühl gehabt, daß es etwas gab, was ich wissen sollte – doch niemand sagte es mir, weder mein Vater noch meine Mutter, noch mein Onkel Drake.

Ich wünschte mir, ich könnte vor einer klaren, sauberen Leinwand sitzen und mit meinem Pinsel die Wahrheit auf die weiße Fläche zaubern. Vielleicht war dies der Grund, warum ich so leidenschaftlich gern malte.

Nacht über Eden

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