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Trostlose Entdeckung

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Die Landschaft zieht an mir wie im Nebel vorüber und meine fünf Sinne funktionieren automatisch, soweit ich sie zum Autofahren benötige. Glücklicherweise gibt es wenig Verkehr!

Langsam fahre ich ins Dorf ein. Ich erkenne es wieder. Schönwerder steht auf dem gelben Ortsschild.

Der Hof war, so erinnerte ich das, auf der rechten Straßenseite, kurz vor dem Ortsausgang, dort wo ich vor fast fünf Monaten auf den Abzug eines Jauchewagen gewartet hatte und Claudia dann auf der Rückreise wieder ausgestiegen war.

Ist das der Ort?

Das Wohnhaus ist kaum wiederzuerkennen, es ist zur Hälfte mit hellen Planen abgedeckt und über die Umfassungsmauer ragen schwarz verkohlte Dachgerippe kahl in den Himmel. Ich wende und parke auf der gegenüberliegenden Straßenseite und gehe langsam auf dieses Fiasko zu. Ob dieser Hölle einer entkommen ist? Das Unglück kann noch nicht lange her sein. Der Hof ist mit Schutt bedeckt, verkohltes Heu liegt verstreut herum und es riecht nach modrigem Kalk und verbranntem Fleisch.

Das kleine Stallgebäude auf der rechten Hofseite ist intakt geblieben, aus ihm höre ich leises Schnauben und Scharren von Tieren. Aber keine Menschenseele lässt sich blicken.

Ich gehe hinüber zu den Hauptstallungen beziehungsweise zu dem, was davon noch übrig ist. In einer Art Remise stehen ein ausgebrannter Traktor und einige verglühte, schon mit Flugrost überzogene Feldgeräte.

Was war mit den Tieren in den Ställen geschehen? Das angrenzende Wohnhaus ist erheblich beschädigt. Es hat jetzt nur noch ein Foliendach und zur Straße hin einige intakte Räume. Aber kann man in denen wohnen, vermutlich ist alles mit Ruß überzogen. Soviel weiß ich noch: Die Familie war erst kurz nach der Wende hier wieder eingezogen, hatte ihren Hof zurückbekommen, hatte, überwiegend mit eigenen Mitteln alles wieder ansehnlich hergerichtet. Und nun haben sie nur noch Ruinen.

Ich stehe vor dem Wohnhaus und bin erschüttert über das Ausmaß der Verwüstung. Als meine Augen am Haus mit seinen geschwärzten Fensterhöhlen herunter wandern, bleiben sie an der Eingangstür hängen; in der offenen Tür steht regungslos eine alte Frau. Sie fixiert mich, versucht ein Lächeln. Mit leiser Stimme fragt sie: „Sind Sie von der Versicherung?“ Ich muss sie enttäuschen: „Nein, ich kenne die Claudia ganz gut und will sie besuchen.“

Ich spreche laut und deutlich. Von alten Leuten habe ich immer die Vermutung, sie könnten nicht mehr gut hören.

Nun lächelt sie doch: „Ich höre noch gut! Sie müssen nicht so schreien! Claudia ist im Gasthof, sie wohnt vorläufig mit ihrem Vater dort. Es sind keine hundert Meter. Auf der anderen Seite. Versuchen Sie´s, sie wird sich freuen.“

Sie spricht freundlich zu mir, mit warmer, samtweicher Stimme, wie zu einem, der sich schwer tut, zu verstehen. Und sie geht zurück ins Haus. Da habe ich mir ja für meinen Besuch einen wunderbaren Zeitpunkt ausgesucht. Was für eine Claudia werde ich antreffen, hat sie noch Ähnlichkeit mit der sommerlichen Claudia?

Ich habe viele Zweifel.

Es ist noch einmal warm geworden, die Straße ist staubig und die wenigen Blätter, die sich noch an den Bäumen halten, haben einen grauen Überzug. Ein kleiner Sommer hat noch einmal hereingeschaut, als hätte er vergessen, sich zu verabschieden und als wollte er (Hesse zitierend) das nun nachholen. Man möchte ihm zurufen:

„Mein Lieber, lass dir Zeit und sieh noch mal nach dem Wein und den Rosen...”

Ich gehe zum Gasthof, der sinniger Weise „Zur glücklichen Einkehr“ heißt. Als ich die Gaststube betrete, sehe ich ersteinmal nur Konturen. Meine Augen brauchen einen Augenblick, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Claudia sitzt am letzten Tisch in dem langen Raum. Ich erkenne ihr Profil. Bei ihr ist vermutlich ihr Vater, ein alter Mann in grauer Arbeitsmontur.

Ich zögere, noch hat sie mich nicht entdeckt; ich könnte unerkannt wieder gehen, könnte wegfahren und hoffentlich alles schnell vergessen. Irgendjemand ruft in mir auch überlaut: Hau ab!

Aber ich erwähnte es schon, die Ratio hat bei mir nicht immer das letzte Wort. Ich gehe also auf Claudia zu, berührte ihren Arm und sie sieht zu mir auf, erhebt sich langsam und sieht mich fragend an. Genau das habe ich befürchtet.

Dann huscht ein leises Lächeln über ihr Gesicht: „Du kommst gerade richtig.” Sie hält ihren Kopf schräg und hebt die Schultern, ihr Gesicht spricht Bände. „Darf ich dir meinen Vater vorstellen?“ Und sie stößt den alten Mann an. Der sieht nur kurz auf und knarzt ein „Tach“ heraus.

„Du musst es ihm nicht übelnehmen. Es geht ihm nicht gut. Übermorgen beerdigen wir meine Mutter. Sie ist noch in derselben Nacht gestorben, ihr Herz hat nicht mehr mitgemacht. Dabei war sie eine so starke Frau. Sie war immer zupackender als mein Vater.“

Sie spricht stockend, mit leiser Stimme, wendet ihr Gesicht ab und ich ahne, dass sie weint. So was macht mich immer hilflos. Nach kurzem Zögern nehme ich sie in die Arme und halte sie fest an mich gedrückt. Ich merke, wie sie sich quasi fallen lässt und sich Schleusen öffnen.

All ihr Kummer will nun endlich heraus, sonst würde der sie vermutlich ersticken. Immer muss sie die Starke sein, jetzt lässt sie sich fallen. Ich bin nun doch froh, dass ich gekommen bin.

Ich habe das Gefühl, als hätte mich einer geschickt. Denn warum bin ich gerade heute hier aufgetaucht? Und hier die richtige Frage: Wozu soll das gut sein? Wir setzen uns und sie rückt ihren Stuhl dicht an mich heran, hält meinen Arm umklammert.

Bisher hat mir keiner gesagt, wie es zu dieser Katastrophe gekommen ist. Ich will es endlich wissen: „Bitte, erzähle mir doch, was passiert ist.“

„Es ging nachts los. Wach geworden bin ich vom Schreien der Rinder und vom Rauch und Gestank.“ Sie kann nur stockend berichten, die Erinnerung macht ihr zu schaffen. „Fast der ganze Hof stand in Flammen. Als ich runter rannte, kam gerade die Feuerwehr. Die konnte aber nicht mehr viel retten. Fünf Kühe und ein Pferd standen noch im Stall. Wir konnten keines retten, die Stalldecke mit dem brennenden Heulager ist auf sie gefallen. Es war schrecklich. Den Gestank habe ich heute noch in der Nase. Ein Glück war nur, dass wir eine Woche vorher die Kälber verkauft hatten.“

„Und warum ist deine Mutter gestorben?“

„Ich weiß es doch nicht!“ Sie sagt es fast wütend. „Mutter lag plötzlich neben mir auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Wir haben sofort Wiederbelebung versucht und sie ins Krankenhaus gebracht. Aber was heißt sofort, es hat eine halbe Stunde gedauert, bis wir ankamen. Sie ist nicht mehr aufgewacht, ich war bei ihr, die ganze Nacht, bis zum Schluss.“ Sie fängt wieder an zu weinen und legt ihren Kopf auf meinen Arm, der langsam feucht wird.

„Die Kriminalpolizei hat sie gerade zur Beerdigung freigegeben. Am Montag wollen wir sie begraben. Kannst du solange bleiben?“ Sie sieht mich wieder an.

„Und was wird aus eurem Hof?“

„Hör doch auf! Wie soll ich das wissen. Ist das wichtig? Die Polizei untersucht doch noch. Es war vermutlich Brandstiftung, denn das Feuer ist an zwei Stellen ausgebrochen. Deshalb brannte auch alles so schnell. Nur, bevor das nicht geklärt ist, macht die Versicherung weder Zusagen, noch zahlt sie etwas.“

„Und dein Vater?“

„Was fragst du! Wie soll ich das alles wissen. Irgendwas ist seit dem anders mit ihm.“

Sie greift nach der Hand ihres Vaters, der regungslos mit am Tisch sitzt: „Vater, was ist, willst du weitermachen, wenn sie uns das Geld geben?“

Er schüttelt fast unmerklich seinen Kopf.

Claudia rückt ganz dicht an mich heran, sagt aber keinen Ton. Wir sitzen eine Weile stumm beieinander. Ich bilde mir ein, dass sie sich noch weicher anfühlt, als vor einem halben Jahr. Ich genieße ihre Nähe und meine Vorbehalte vergehen wie der Frühnebel an einem Sommertag.

Schön kitschig solche Gedanken.

Um diese Zeit sind wir die einzigen im Gastraum, nicht einmal der Wirt lässt sich blicken. Ich halte Claudia fest im Arm und sie lehnt ihren Kopf an mich.

Was habe ich mir vor der Reise alles ausgedacht und erhofft! Jetzt ist alles anders, wirklich alles und völlig anders!

Wir sind eine Weile eine sehr schweigsame Gesellschaft. Jeder geht seinen Gedanken nach. Durchs Fenster sieht ein bäuerlicher, junger Mann, presst sein breites Gesicht an die Scheibe und hat offensichtlich Mühe, etwas zu erkennen. Ich stoße Claudia an: „Schau mal, da glotzt einer durchs Fenster, kennst du den?“

Als wir wieder hinsehen, ist er verschwunden. Ich bin ratlos: „Wer kann das gewesen sein, der sich da für uns interessiert?“

„Weiß ich doch nicht, wie sah er denn aus?“

„Ach, lass es, so genau habe ich ihn auch nicht gesehen. Wir werden ihm bestimmt noch einmal begegnen.“ Ich habe jetzt keine Lust, mich mit Beschreibungen anzustrengen. Claudia erhebt sich, reckt sich und verkündet: „Ich suche jetzt den Wirt, er hat noch freie Zimmer. Du bleibst doch?“

„Aber ja! Warte, ich komme mit.“

„Bleib bitte einen Augenblick bei meinem Vater. “ Sie lächelt! Lächelt sie? Sie hat damit Mühe. Schatten von Trauer, Furcht vor dem was noch kommen kann und der Wunsch, mich zu halten, all das ist in ihrem Anflug von Lächeln. So deute ich es jedenfalls.

Ich springe spontan auf und laufe ihr ein paar Schritte nach, nehme sie fest in die Arme und halte sie so ein paar Sekunden. Sie küsst mich heute zum ersten Mal und atmet dann beim Weggehen schnaufend aus.

Ich hoffe so sehr, dass ihre Burschigkeit und Schlagfertigkeit wieder zu ihr zurückkehren.

Und während ich mir grüblerische Gedanken um tausend Dinge mache, lässt Claudia es einfach geschehen. Und sie hat recht, denn wir können die Folgen unserer Handlungen und allen Geschehens höchstens im Ansatz erahnen, das hatte ich inzwischen auch gelernt. Und sie fühlt einfach, was im Augenblick richtig und nötig ist. Ich beneide sie. Warum habe ich bloß so lange gewartet mit meinem Besuch? Ich gebe ja zu, dass es neben der Sehnsucht des Herzens ausreichende Kopfeinwände gibt, die mir bisher Zurückhaltung empfahlen.

Und nun geschieht exakt das, wovor ich mich bisher scheute: ich beginne sie zu lieben. Sie fängt an, ein Teil von mir zu werden. Sollen ihre Probleme auch meine sein?

Wenn man sie ein wenig kennt, ist es leicht, sie zu begehren. Das verändert noch nicht viel, aber nun? Erst jetzt beginnt bei mir die liebende Zuneigung, jetzt in diesen Augenblicken. Dabei ist es mit der Liebe so eine Sache, mir ist bis heute noch keine plausible Definition gelungen.

Alle reden und singen von der Liebe, aber keiner kann mir erklären, was das ist. Ich weiß nur, dass Gott von sich sagt, er sei die Liebe. Das lässt den Schluss zu: Wenn wir wissen, was Liebe ist, dann könnten wir auch Gott erklären und beschreiben.

Aber ist das möglich?

Wir haben es schon schwer genug, uns untereinander zu beschreiben. Frau und Mann wurden so unterschiedlich geschaffen, dass es ihnen eigentlich nicht möglich ist, sich auf eine gemeinsame Wirklichkeit zu einigen.

Dagegen steht, dass es am Anfang der Überlieferungen heißt: Gott schuf Mann und Frau, den Menschen. Aber vielleicht ist das alles kein Widerspruch und ich komme noch dahinter.

Zu diesen grundsätzlichen Erschwernissen kommen bei uns noch ein paar spezielle hinzu: Der Altersunterschied, ich schätze, es sind so um die zwanzig Jahre, hinzu kommt das Umfeld: Land und Großstadt und die Herkunft zwischen bürgerlich und bäuerlich. Das könnte Zündstoff für herrliche Beziehungsdramen sein.

Auf was will ich mich hier gerade einlassen?

Und im selben Augenblick plärrt wieder diese Stimme in mir los: Hau ab! Sieh zu, dass du das Weite findest, sonst ist es mit deiner Ruhe und dem angenehmen Leben vorbei! Ich praktiziere und nicht selten zu meinem Nachteil selektives Hinhören, auch bei mir selbst.

Außerdem bilde ich mir ein, jederzeit einen geordneten Rückzug antreten zu können.

Claudia kommt zurück: „Alles klar, mein Lieber? Du hast Zimmer 104.“

Dann etwas leiser hinterher: „Ich habe 105. Das Bad ist auf der anderen Flurseite, wir müssen uns also abstimmen.“

Sie grinst und zwinkert mir zu. „Papa wohnt in Zimmer 102, er schnarcht etwas, er hat einen tiefen Schlaf.“

Den Rest kann ich mir denken.

Ein wenig schimmert die alte Claudia schon wieder durch, ich kann also hoffen. Sie neigt sich zu ihrem Vater hinunter und streichelt seinen Stoppelbart mit dem Handrücken. Er verzieht keine Miene; die letzten Tage haben ihn versteinern lassen.

„Vater, soll ich uns jetzt etwas Schönes zum Abendessen bestellen? Das mache ich jetzt, und dann gehen wir beide noch einmal rüber zum Hof, und du wartest hier auf uns, oder willst du mit zu Tante Berta gehen?“

Er schüttelt den Kopf. „Vater, das ist keine Antwort. Ich habe nach Entweder-Oder gefragt. Also gut, ich bestelle das Abendessen und gehe dann schnell mit Micha zum Hof und zu Tante Berta, einverstanden?“

Der Vater fängt fast unmerklich an zu zittern.

„Beruhige dich doch, wir sind gleich wieder da, versprochen.“ Claudia ist sehr besorgt um ihren Vater; sie legt ihre Hand auf seinen Kopf und streichelt seine kurzgeschnittenen Haare. Dann geht sie in die Küche.

Ich kann eigentlich schon lange zwischen meinem, deinem und unserem Problem unterscheiden. Aber so allmählich mischen sich hier die Unterscheidungsmerkmale. Was soll ich machen? Es gibt das Problem mit dem Hof, das lässt sich vermutlich regeln und ich kann mich hoffentlich aus Details heraushalten.

Was fängt man aber mit dem Vater an und was ist los mit ihm? Alles an ihm ist grau, auch seine Haut. Und wie er da hockt, sehen seine Seele und der Verstand vermutlich nicht viel anders aus.

Soviel ich verstanden habe, hat Vater Menzel seinen Hof von der LPG zurückerhalten und in kurzer Zeit mit viel Energie wieder aufgebaut und leistungsfähig gemacht. Es hat zumindest die Familie ernährt.

Nun ist er über Nacht zu einem Greis geworden. In ihm ist etwas zerbrochen, das Drama hat seinen Verstand gelähmt und seinen Willen sterben lasen. Diesen Eindruck macht er auf mich.

In unserem Strafrecht werden nur die verfolgt und verurteilt, die jemanden körperlich verletzt und getötet haben. Was ist aber mit den vielen Zombies, deren Seele so zerstört wurde, dass sie entweder über kurz oder lang an dieser Krankheit sterben oder als Halbtote nur noch ein elendes Dasein fristen, unfähig zur Liebe und zum Vertrauen oder wenn´s halbwegs „gut” geht, nur noch irgendwie funktionieren, um nach außen den Schein zu wahren. Vater hat alles verloren: Seine Frau, seine Lebensaufgabe, seine Existenz, seine Zukunft und seine Hoffnung. Nichts ist ihm geblieben, außer seiner Tochter. Aber die ist kein Ersatz.

Er hat Glück gehabt mit ihr, würde sie aber jetzt noch bei ihm bleiben? Ich kann seinen Lebensunmut fast verstehen. So sieht also ein Mensch aus, der alle Hoffnung verloren hat, der aufgegeben hat. Er erinnert mich an Hiob. Es ist der trostloseste Anblick, den ich seit langem erlebt habe. Mir wird plötzlich bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht viel jünger bin als er, allenfalls geschätzte fünf bis acht Jahre. Ich habe ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, meine Frau verloren, nur ist in mir nicht die Hoffnung gestorben. Das ist der lebenserhaltende Unterschied.

Denn ich bin auf dem besten Weg, noch einmal neu zu beginnen.

Begehren hat´s eilig - Liebe wächst langsam

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