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3. Spielräume der religiösen Devianz a) Aufklärung, Atheismus und Religionskritik in der Antike?
ОглавлениеVerfallsdiagnosen
Die „echte“ oder „reine“ griechische und römische Religion wurde zumeist in einer historisch nicht fassbaren Frühzeit vermutet. Dies gilt für die Griechen, deren Religion je nach Autor schon bei Homer – also den ersten schriftlichen Zeugnissen! – als verfälscht und verdorben gelten konnten. Ähnlich befand sich für Forscher wie Theodor Mommsen oder Georg Wissowa die römische Religion spätestens seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. in einem Verfallsprozess, der durch das Einsickern unrömischer Kulte bedingt war. Solche Bewertungen entstanden mit dem Wissen über den Sieg des Christentums über die „heidnischen“ polytheistischen Kulte. Eine Schwäche dieser Verfallsdiagnosen besteht darin, dass die paganen Religionen trotz ihres angeblichen Niedergangs über viele Jahrhunderte praktiziert wurden. Seit wenigen Jahrzehnten wurde dieses Dekadenzparadigma abgelöst durch die Erkenntnis, dass Religion, wie Kultur überhaupt, vielfältigen Veränderungsprozessen unterliegt.
Aufklärung?
Ebenso sollte man sich von der Vorstellung verabschieden, dass die Griechen in der Zeit vor dem 5. Jahrhundert v. Chr. in dumpfer Götterfurcht lebten, die seit der Entstehung und Entwicklung der Philosophie durch eine aufgeklärte Haltung abgelöst wurde. Ein ähnliches Modell für Rom, das erst durch die nähere Vertrautheit mit der griechischen Philosophie im 2. Jahrhundert v. Chr. von einer bedrückenden Religion befreit wurde, kann heute auch nicht mehr Geltung beanspruchen. Im Lauf dieses Buches wird sich zeigen, dass die Kulte der Griechen und Römer zumeist von einem starken Pragmatismus geprägt waren. Die Philosophie war weitgehend ein Elitenphänomen mit nur begrenzter Wirkung auf breitere Schichten. Zugleich bedeutet das nicht, dass einer abergläubischen Unterschicht die aufgeklärte Oberschicht gegenüberstand und Religion als Mittel der Herrschaftssicherung einsetzte. In der Antike verlief die Grenzlinie nicht zwischen Religion und Atheismus, sondern zwischen Religion und Aberglaube.
Religionskritik
Kritik an den Göttern, an den Mythen und an prophetischen Aussagen war in der Antike immer möglich. Bei Homer – die Entstehungszeit von Ilias und Odyssee ist höchst umstritten; vielleicht liegen wir nicht falsch, wenn wir sie ins späte 8. Jahrhundert v. Chr. datieren – werden die Götter sehr menschlich geschildert, sie sind getrieben von Rache und Eifersucht, ja sie bieten sogar Anlass für Gelächter. Während Zeus, Athena oder Apollon makellos sind, hinkt Hephaistos, ist Ares ein töricht-rasender Kämpfer und Dionysos ein Trunkenbold. Doch bevor das Feld der antiken Religionskritik ausgemessen werden kann, sind zwei Anmerkungen nötig: Erstens bedeutet Kritik an den Kulten nicht, dass sie vernachlässigt wurden. Andernfalls hätten spätestens im 5. Jahrhundert v. Chr. die Kulte einfach einschlafen müssen. Kritik an einem religiösen System ist ein Teil des Systems, zumal bei polytheistischen Religionen. Zweitens ist es gut möglich, dass Religionskritik nur im literarischen Diskurs verhandelt wurde und wenig Einfluss auf die Kulte entwickelte.
Xenophanes von Kolophon
Xenophanes von Kolophon richtete sich irgendwann zwischen 570 und 467 v. Chr. – den frühen Philosophen wurde gerne ein hohes Alter zugeschrieben – gegen die anthropomorphen Göttervorstellungen. Er mokierte sich darüber, dass die Menschen ihre Götter so darstellten, wie sie selbst waren: Die dunkelhäutigen Äthiopier hatten dunkelhäutige Gottheiten, die Thraker, durchweg rothaarig und blauäugig, dachten sich ihre Götter mit roten Haaren und blauen Augen. Zugespitzt wird dieser Gedankengang in einer gewagten These: Wenn Pferde Bilder malen könnten, so würden sie ihre Götter als Pferde darstellen. Bei Xenophanes sind die Götter den Menschen weder an Körper noch an Geist ähnlich; um Atheismus handelt es sich hier nicht. Ein Buch des Philosophen Protagoras, der ins 5. Jahrhundert v. Chr. zu datieren ist, soll mit dem folgenden Satz begonnen haben: „Was die Götter angeht, so weiß ich weder, dass sie sind noch, dass sie nicht sind; denn viele Gründe hindern uns in dieser Erkenntnis, sowohl die Ungewissheit der Sache wie die Kürze des menschlichen Lebens“ (Diogenes Laertios 9,51). Nach Diogenes Laertios wurde Protagoras wegen dieses Textes, über den sonst keine Informationen vorliegen, aus Athen verbannt.
Wohl im 4. Jahrhundert v. Chr. verfasste Palaiphatos eine Schrift, in der er einige Mythen rational erklärte. Unter anderem widmete er sich dem Mythos um den Jäger Aktaion, den Artemis in einen Hirsch verwandelte und der von seinen eigenen Hunden zerfleischt wurde. In der antiken Überlieferung finden sich unterschiedliche Gründe für den Zorn der Göttin: Zum einen heißt es, Aktaion habe Artemis heiraten wollen, zum zweiten ist von einem Vergewaltigungsversuch die Rede, drittens schließlich soll er die Göttin nackt beim Bad erblickt haben. Palaiphatos äußerte sich folgendermaßen: