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Die Datenerhebung fand von 2011–2013 statt und war von Anfang an durchzogen von Absagen und Verzögerungen, sodass im längsten Fall über ein Jahr zwischen Kontaktaufnahme und tatsächlicher Aufzeichnung eines Gesprächs verstrich. Insgesamt lassen sich allerdings stufenspezifische Unterschiede vermerken. So wurde vonseiten der angefragten Lehrpersonen an Primarschulen sofortiges Interesse bekundet und die Schulleitungen zeigten ebenfalls wenig Bedenken. Das Einverständnis der Eltern wurde von den Lehrpersonen eingeholt und die Bereitschaft sei ebenfalls gross gewesen. Die einzige Skepsis betraf die allfällige Anwesenheit der Forscherin. So wurde die teilnehmende Beobachtung als weitere Erhebungsmethode sehr früh ausgeschlossen.

Anders sieht es jedoch auf den Sekundarstufen I und II aus, wo ich mit der Datenerhebung aus Gründen des ursprünglichen Forschungsinteresses begann. Durch die eigene Ausbildung zur Lehrerin auf gymnasialer Oberstufe sind Kontakte zu Schulen und Lehrpersonen vorhanden, die nun zum Forschungszweck reaktiviert wurden. Auch wurden Lehrpersonen und Mitglieder der Schulleitungen aus dem persönlichen Bekanntenkreis kontaktiert, um so an Gespräche zu kommen. Ich sah mich von Beginn weg konfrontiert mit starker Ablehnung vonseiten vieler Schulleitungen und es war insgesamt eine grosse Herausforderung, die Einverständnisse aller beteiligter Personen zu erhalten. Verschiedene Gründe führten schliesslich zu teilweise sehr kurzfristigen Absagen: In einigen Fällen lag das Einverständnis der Schulleitung vor, jedoch fehlte die Bereitschaft von Lehrpersonen; oder die Schulleitung und eine Lehrperson waren einverstanden, nicht aber die angefragten Eltern sowie in einem Fall der angefragte mitanwesende Schüler; oder schliesslich kam es auch in einigen Fällen zu Absagen, da nach erfolgreicher Anfrage von Lehrpersonen die Schulleitungen ihre Bedenken äusserten und die Aufnahmen verunmöglichten. So waren insgesamt unter den angefragten Personen deutlich mehr potenzielle Teilnehmende, die jedoch aufgrund einer weiteren, fehlenden Einwilligung nicht Teil der Untersuchung werden konnten.

Die Beweggründe, die zu einer Absage oder zu einer zurückhaltenden Einstellung führten, sind sehr unterschiedlicher Natur und sollen mit den folgenden (anonymisierten) Auszügen aus den entsprechenden E-Mails demonstriert werden. Der erste Auszug stammt aus einer Absage auf die schriftliche Kontaktaufnahme mit einem Gymnasium, zu dem keine persönlichen Kontakte bestehen. Es handelt sich folglich nicht um eine blosse Einwilligung, sondern gleichzeitig um eine Anfrage, die Datenerhebung durch das Herstellen von Kontakten zu Lehrpersonen aktiv mitzugestalten. Die Absage gründet auf drei unterschiedlichen Ebenen:

1 Die Schulen stecken mitten in einem Reformprozess, der die Lehrerschaft enorm belastet. Wir müssen mit unseren Kräften haushälterisch umgehen.

2 Wir bekommen fast täglich Anfragen für Studien, Umfragen und Evaluationen, die wir an den Schulen durchführen sollten. Wir müssen uns davor schützen, zu einem Versuchslabor zu werden.

3 Elterngespräche sind etwas enorm Wichtiges und höchst Vertrauliches. Auch wenn alles anonymisiert wird, stört jede Aufnahme und Auswertung den Ablauf der Gespräche sehr. Der Gewinn scheint uns geringer als der Preis.

(Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2012)

Wie hier deutlich wird, geht es bei den ersten beiden Punkten nicht in erster Linie um das aktuelle Forschungsvorhaben, sondern um eine generelle Positionierung der Schule als Institution, die verschiedenen Anforderungen gerecht werden muss. Das regelrechte Überhäufen von Anfragen aus Forschungsprojekten wurde von anderen Schulleitungen in Unterhaltungen bestätigt bzw. ähnlich dezidiert formuliert. So wurde teilweise grosses Interesse am vorliegenden Projekt kundgetan und dennoch keine Einwilligung gegeben, da die Schulen grundsätzlich vor Studien geschützt werden sollten und die Teilnahme nur noch bei erhöhtem Druck ‚von oben’ zugelassen würden, nämlich bei grösseren kantonalen oder nationalen Forschungsprojekten. Im Rahmen dieser Argumentation lassen sich wohl auch die teilweise komplett ausbleibenden Antworten von Schulleitungen interpretieren.

Beim dritten Punkt geht es hingegen um die konkrete Anfrage und die abschlägige Antwort bezieht sich v.a. auf die als Störung empfundene Aufnahme der als vertraulich eingestuften Beurteilungsgespräche. Dass die anschliessende Anonymisierung der Daten die Vertraulichkeit der Gesprächssituation dennoch ermöglicht, wird hier implizit ausgeschlossen. So wird nicht nur die Aufnahme als Störung empfunden, sondern auch die anschliessende Auswertung der Daten. Es wird hier impliziert, dass alleine das Wissen um die zukünftige Auswertung den aktuellen Gesprächsverlauf zu beeinflussen vermag. Ein weiterer Aspekt wird in diesem dritten Punkt angesprochen, nämlich der ‚Gewinn’ oder Nutzen für die Schulen. In erster Linie wurde bei der Anfrage jeweils kommuniziert, dass die Analysen dazu genutzt werden können, die angehenden Lehrpersonen in Bezug auf die Gesprächskompetenz zu schulen, was folglich den Schulen zugute käme. In den Folgegesprächen mit Schulleitungen bot ich zudem an, zu einem späteren Zeitpunkt vor Ort über die Studienergebnisse zu berichten. Überraschenderweise wurde nur vereinzelt der Wunsch einer dementsprechenden Präsentation signalisiert.

Im folgenden Auszug kommt ebenfalls die befürchtete Störung zur Geltung. Vor der Kontaktaufnahme mit der Schulleitung eines Gymnasiums fand bereits ein Austausch mit einer Lehrperson statt, die ihre Bereitschaft zur Teilnahme ankündigte. Mit der Anfrage an die Schulleitung sollte demnach nur noch eine grundsätzliche Einwilligung eingeholt werden, dass an dieser Schule ein Gespräch aufgenommen werden darf:

Lernberichtsgespräche sind aus unserer Sicht zentrale Bestandteile der qualitätsorientierten Kommunikation zwischen Schule und den Familien. Diese Kommunikation soll in keiner Weise durch zusätzliche Erhebungen tangiert werden. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2013)

Auch hier wird die Wichtigkeit der Gespräche hervorgehoben und die Störung zu Forschungszwecken abgelehnt. Interessant bei dieser Aussage ist die Formulierung, dass die Gespräche zur „qualitätsorientierten Kommunikation zwischen Schule und den Familien“ gehören. Vor dem Hintergrund, dass (aus Erfahrung insbesondere auf der Sekundarstufe II) die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen in Bezug auf die Gesprächskompetenz im Kontakt mit Eltern vernachlässigt wird (vgl. z.B. Gartmeier et al. 2011; Lemmer 2011; 2012; Minke & Anderson 2003), stellt sich die Frage, wie denn die Qualitätsorientierung gewährleistet werden kann. Da es zurzeit noch an entsprechender Grundlagenforschung mangelt, scheint kein Weg an dem Dilemma vorbeizuführen, dass mit dem Wunsch nach fundiertem Wissen über die Gespräche eine gewisse ‚Störung’ einhergeht.

Die nächsten Zitate beziehen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Stellenwert von Beurteilungsgesprächen mit anwesenden Eltern auf der Sekundarstufe II. Die ersten beiden Auszüge stammen von Mitgliedern der Schulleitungen an zwei unterschiedlichen Gymnasien, die mir persönlich bekannt sind. Beide haben sich zunächst für das Projekt interessiert, jedoch nach Absprachen in der gesamten Schulleitung eine Absage erteilen müssen:

Aus Datenschutzgründen lehnt sie [die Schulleitung, VM] die Anfrage ab. Sie erachtet es als nicht zulässig, eine Drittperson in die Gesprächsrunde beizusetzen. Wir wissen auch nicht, wer überhaupt an die Elterngespräche kommt, d.h. man kann die Einwilligung bei den Eltern nicht vorher einholen. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2013)

Wir haben relativ wenig Elterngespräche und viele Kolleginnen und Kollegen sehen bei den Lernberichtsgesprächen die Eltern das erste Mal. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2012)

Im ersten Ausschnitt wird einerseits der Datenschutz hervorgehoben. Dies war durchgehend eine grosse Sorge der angefragten Schulleitungen und es konnte nicht immer erfolgreich versichert werden, dass die Daten vertraulich behandelt und durchgehend anonymisiert werden. Ebenfalls wurde bei der Datenerhebung schon nach den ersten ablehnenden Äusserungen auf die Möglichkeit der teilnehmenden Beobachtung verzichtet und nur ein Aufnahmegerät mitgegeben. Der zweite Punkt in diesem ersten Ausschnitt thematisiert die ethischen Bedingungen einer solchen Untersuchung und zeigt ein Problem auf, das bezeichnend für die Organisation von Kontakten zu Eltern auf der Sekundarstufe II ist. Meist sind keine klassendeckenden Beurteilungsgespräche mehr vorgesehen, sondern es finden Sprechstunden statt, die regelmässig von den Schulen angeboten werden. Die Handhabe ist teilweise so, dass sich die Eltern in eine Liste eintragen und auf diesem Weg anmelden. Im Falle dieser Schule scheint dies jedoch nicht nötig zu sein. Das Problem, welches daraus für die Forschungssituation entsteht, ist nachvollziehbar. Wenn die Gesprächsteilnehmenden in wenigen Sekunden entscheiden müssen, ob sie mit einer Aufnahme einverstanden sind oder nicht, kann dies als unethisch empfunden werden.

Im zweiten Ausschnitt wird zudem darauf verwiesen, dass am Gymnasium kein regelmässiger Austausch zwischen der Schule und den Eltern mehr stattfindet. Die Aussage, dass Lehrpersonen die Eltern bei diesen Gesprächen das erste Mal sehen, impliziert eine Unsicherheit auf der Beziehungsebene oder zumindest eine fehlende Routine in dieser Gesprächskonstellation.

Und schliesslich wird die Schwierigkeit, alle nötigen Einwilligungen auf der Sekundarstufe II zu erhalten auch damit erklärt, dass Beurteilungsgespräche an einigen Schulen nur noch in Problemfällen stattfinden. Dies wird in den letzten beiden Auszügen gezeigt. Im ersten Fall handelt es sich um eine Lehrerin auf Gymnasialstufe, die selber keine Gespräche aufnehmen konnte, da sie zum Zeitpunkt der Anfrage kurz vor der beruflichen Abwendung von der Schule stand. Es ging in ihrem Schreiben um mögliche Kontakte. Im zweiten Fall findet sich eine Erklärung eines Schulleiters, der mit Aufnahmen einverstanden war, sofern sich Lehrpersonen, Eltern und Lernende bereit erklären:

[J]e älter und ‚mündiger’ unsere Schülerinnen und Schüler werden, desto mehr reden wir fast ausschliesslich direkt miteinander, Eltern dürfen ja dann im Normalfall nur noch dabei sein, wenn ihre Söhne und Töchter das erlauben. Im Nicht-Normalfall ist Gross-Krise, vermutlich ohne Tonband… (Lehrerin, persönliche E-Mail, 2012)

[A]us meiner Optik dünkt mich die Sache recht heikel, da der Anlass solcher Gespräche nicht immer erfreulich ist und mit der Anwesenheit einer Drittperson die Situation eine andere wird. […] Zudem finden immer seltener Elterngespräche statt, da bei Volljährigkeit die Lernenden unsere direkten Ansprechpartner sind. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2012)

In beiden Auszügen wird betont, dass die SchülerInnen selbst als primäre Ansprechpartner gelten und es nur in Krisenfällen zu Elternkontakten kommt. Folglich sind diese Gespräche auch „nicht immer erfreulich“ oder „heikel“ und somit als sensibel einzustufen. Es überrascht nicht und deckt sich auch mit mündlichen Aussagen von anderen Schulleitungen und Lehrpersonen, dass gerade in diesen Fällen, die für eine Untersuchung interessant wären, die Einwilligungen für eine Aufnahme eher nicht zustande kämen. Dass es auch bei Gesprächen auf der Primarstufe zu heikleren Settings und Krisengesprächen kommen kann, ist zwar nicht auszuschliessen. Was aber insbesondere die Gespräche auf der Sekundarstufe II problematischer erscheinen lässt, ist einerseits der Umstand, dass erst bei vorhandenen Schwierigkeiten überhaupt ein Gespräch veranlasst wird. Andererseits ist die Gesprächssituation ungewohnter, wenn es zwischen den Beteiligten nicht zu einem regelmässigen Austausch kommt. Dies widerspiegelt sich in der zitierten Aussage, dass die Lehrpersonen häufig bei diesen Gesprächen das erste Mal den Eltern gegenüberstehen.

Auch wenn es sich bei den Ausführungen um allgemeinere Eindrücke und Einzelbetrachtungen von schriftlichen Aussagen handelt, die nicht systematisch eingeholt wurden, sind sie in Bezug auf die soziale Praxis des Beurteilungsgesprächs aufschlussreich. Die Beobachtungen zur Kooperation respektive Zurückhaltung von angefragten AkteurInnen zeigen ein allgemeines Unbehagen der Beteiligten mit der Gesprächssituation. Gleichwohl wird diesem Umstand in Ausbildungsgängen nicht genügend Rechnung getragen. Gerade wenn im Bereich der Sekundarstufe II die Beurteilungsgespräche in der Häufigkeit abnehmen und nur in Problemfällen geführt werden, bestärkt dies m.E. die Notwendigkeit einer Untersuchung genau solcher Gespräche, um eine entsprechende Vorbereitung von angehenden Lehrpersonen gewährleisten zu können.

Abschliessend stellt sich noch die Frage, inwiefern die Gespräche heikel sind und weshalb in vielen Fällen nur sehr zögerlich auf das Forschungsvorhaben reagiert wurde. Besonders im Hinblick auf die inzwischen lange Forschungstradition der Arzt-Patienten-Kommunikation erscheinen die potenziell heiklen Themen in einem schulischen Beurteilungsgespräch verschwindend klein und die Datenschutzfrage bei gewährleisteter Anonymisierung geklärt zu sein. Spekulativ lässt sich die Vermutung anstellen, dass es nicht so sehr um sensible Informationen zum Kind oder weiteren Beteiligten geht, sondern dass die am Gespräch Beteiligten in Bezug auf die Gesprächspraktiken und die Beziehungsebene unsicher sind. Gerade deswegen ist es wichtig, die Forschungsfragen dieser Arbeit anzugehen: Was geschieht in diesen Gesprächen? Welche Praktiken und Ressourcen werden von den Gesprächsteilnehmenden verwendet? Welche Ziele werden von den einzelnen Beteiligten verfolgt und auf welche Weise? Und wie positionieren sich die Beteiligten in den Gesprächen, wie handeln sie ihre Rollen aus? Die Reflexion des Erhebungsprozesses zeigt einerseits, in welchem Umfeld die Studie angesetzt ist und welche AkteurInnen involviert sind, andererseits lassen sich durch den Einbezug dieses Kontextes erste Fragen an das Datenmaterial entwickeln.

Beurteilungsgespräche in der Schule

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