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Beispiele der spirituell-personalen Begegnung

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Wenn dieser Abschnitt nun einige Ausschnitte der Entretiens einer intensiveren Untersuchung unterzieht, dann werden sie also nicht in erster Linie als historische Dokumente gelesen, sondern als Zeugnisse ebenjener interpersonalen Begegnungen und Ereignisse, die sie bezeugen.

Louis Massignon. – Am 05.03.1930 machen sich Guitton und Mounier auf und wollen mit Louis Massignon, dem großen Orientalisten und Mitglied der Académie française, über ein Problem sprechen, das beide bewegt.9 Er ist nicht zu Hause, sie wollen schon wieder gehen, treffen ihn dann jedoch noch am Aufzug. Die Zufälligkeit der Begegnung wird nun zum Ereignis: „[E]in zufälliger Augenblick beschert uns diesen unvergesslichen Besuch. Er strahlt vor Heiligkeit.“ (145) Mounier beschreibt die Situation im Büro Massignons. Letzterer sitzt im „warmen Schatten“ und hat durch sein „feines Gesicht“, seine „Kinderaugen“ eine solche Präsenz, dass Mounier von „Reinheit“ und „jungfräulich“ spricht. Letzteres wird noch einmal durch die Präsenz seiner Stimme hervorgehoben, die manchmal der eines „jungen Mädchens“ gleicht. Massignons Stimme ist distinguiert, ohne gekünstelt zu sein. Er spricht mit Nachdruck, doch nie mit einem Timbre der Leidenschaft. Stirn und Augen Massignons sind Mounier beim Aufschreiben noch so gegenwärtig, dass er es eigens festhält: „Jetzt, eine Stunde nach unserer Rückkehr, sehe ich nichts anderes als diese Stirn und diese klaren Augen.“ (145) Sein und Guittons Gefühl angesichts dieser Präsenz beschreibt er mit „Freude“. Gleichzeitig hat er den Eindruck, dass seine Beschreibung hinter dem Ereignis zurückbleibt.10 Mounier bezeugt hier Massignon als Person im höchsten Sinne des Begriffs: Er füllt das aus, was in Le personnalisme eine „leibhafte“ und „inkarnierte Existenz“ genannt und was gerade auch durch die Beschreibung der leiblichen Präsenz (Gesicht, Augen, Stirn, Stimme: alles Aspekte, die in der Begriffsgeschichte von Prosopon und Person eine wesentliche Rolle spielen) unterstrichen wird.11 Françoise. Stand in der Beschreibung des Gesprächs mit Massignon dessen spirituelle wie intellektuelle Generosität im Vordergrund, so führt uns die zweite Begegnung in einen anderen Bereich der personalen Präsenz: die Konfrontation mit der im Alter von acht Monaten an einer schweren Enzephalitis erkrankten Tochter Françoise (geb. 1938), was schließlich im April 1940 zu einem vollständigen Stillstand ihrer nervlich-mentalen Entwicklung führt. Am 28.08.1940 schreibt Mounier in Montverdun, einem kleinen Ort im Zentralmassiv: „Gegenwart Françoises. Geschichte unserer kleinen Françoise, die über geschichtslose Tage hinzugleiten scheint.“ (593) Allen, die ihm mit dem Spruch „Ein großes Unglück ist auf sie gekommen“ begegnen, entgegnet er: „Jemand ist zu uns gekommen, und es war groß, und das ist kein Unglück.“ (594) In seiner Tochter, die nach menschlichen Maßstäben nichts kann, enthüllt sich ihm noch einmal tiefer die personale Präsenz, die ihn zu einem Vergleich führt, der sakramentale Qualität hat: „Eine lebendige Hostie unter uns, stumm wie sie, strahlend wie sie. (…) Wer weiß, ob von uns nicht verlangt wird, eine Hostie zwischen uns zu bewahren und anzubeten, ohne die göttliche Gegenwart unter einer armen, blinden Materie zu vergessen? Meine kleine Françoise, Du bist mir auch ein Bild des Glaubens. Hier unten erkennt ihr ihn im Rätsel und wie in einem Spiegel (…)“. (594) Dieser sakramentale Vergleich und die Anspielung auf 1 Kor 13,12 sind wohl keine spirituelle Überhöhung der Krankheit seiner Tochter, sondern der Ausdruck des intensiven gemeinsamen Fragens des Ehepaares Mounier angesichts dieser Prüfung, die sie durchmachen: „Wir haben Françoise in unserem Schicksal gelesen. Für Poulette wurde sie das Bild dieses ‚Maßstabes für nichts‘ – dieses Maßstabes für alles (…). Sie ließ für uns beide, mit unserer Elternschaft, die Geschichte unserer Liebe noch einmal neu beginnen, die angesichts des gegenseitigen Verzichts, in der totalen Hoffnungslosigkeit, zurückgewonnen werden musste.“ (594) Die unscheinbare Präsenz Françoises lässt auch Paulette („Poulette“ ist ihr Kosename) und Emmanuel noch einmal ganz anders zueinander finden. Und ihr Leiden verbindet sich auf eine ganz eigene Weise mit den Leiden der Zeit und der Welt, mit den ungezählten Opfern des Weltkriegs. Mounier schließt mit Worten, die ihn in einem Dialog mit seiner Tochter zeigen, der über die Sprache hinausgeht: „[J]etzt, wo es scheint, dass wir auf Dauer zusammen sind, Françoise, meine kleine Tochter, fühlen wir eine neue Geschichte in unseren Dialog eingreifen: den einfachen Formen des mit dem Schicksal geschlossenen Friedens widerstehen; Dein Vater, Deine Mutter bleiben; Dich nicht unserer Resignation preisgeben (…); Dir Dein tägliches Brot der Liebe und der Gegenwart geben; dem Gebet folgen, das Du bist; an unserer Wunde rühren, da diese Wunde die Tür Deiner Gegenwart ist; bei Dir bleiben. Vielleicht muss man uns beneiden wegen dieser tastenden Elternschaft, dieses unaussprechlichen Dialogs, welcher viel schöner ist als die gewöhnlichen Spiele.“ (595) Die andere Person ist nicht nur in der höchsten Vollendung ihrer Möglichkeiten gegenwärtig (Massignon), sondern auch und gerade in der alleinigen Möglichkeit ihres bloßen Daseins, welches schon an Un-Möglichkeit grenzt (Françoise). Besonders in dieser Spannung von Möglichkeit und Un-Möglichkeit des Personseins scheint die Präsenz der Person auf.

Esprit. Den Entretiens IV ist eine Devise vorangestellt, und zwar in Form eines Zitats. Es lautet: „Am 07. Dezember [1930] sprechen G. Izard und ich von der Rue Saint-Placide bis zum Palais Royal über die Revue, die wir benötigen. ‚Und warum kümmern wir uns nicht selbst darum?‘ Wir sind in der Rue de Valois.“ (239) Dieses Initium beschreibt den Impuls, aus dem die Revue Esprit, eine der einflussreichsten intellektuellen Zeitschriften Frankreichs, hervorgegangen ist. Dieses Zitat kann in gewisser Weise stellvertretend für alle Einträge stehen, die Mounier der Gründung von Esprit widmen wird. Ein wichtiger Aspekt der Notizen wie auch dieses Eingangszitats ist das „Wir“, welches in den Mittelpunkt rückt: Mounier geht mit seinem Freund Georges Izard (1903–1973) von dessen Wohnung an einem Sonntag eine halbe Stunde quer durch Paris, diskutierend, und kurz vor Izards Arbeitsplatz stellen sie sich die entscheidende Frage: Warum nicht wir?12 Wieder ist das Intersubjektive der entscheidende Aspekt, doch diesmal schon in die erste Person Plural hineingenommen: Esprit ist das Engagement einer Gemeinschaft. Und Mounier hält das Ereignis (den „inneren Meister“) fest, mit Tag und Ort.

Geist & Leben 3/2021

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