Читать книгу Inspiration 3/2021 - Verlag Echter - Страница 13
In der Masse
ОглавлениеDie Begleitete ist nicht nur eine in Verbindung zu einem anderen, sie ist nicht nur eine in einem Team, in der Kirchengemeinschaft, in der Menschheitsfamilie – sie ist immer wieder auch eine in der Masse. Auch das Zeitalter des extensiven Individualismus und der »Erosion der Gemeinschaft«17 ist von Massenphänomenen geprägt. Medien und Moden kitzeln die Bedürfnisse der Einzelnen und »vergesellschaften« sie. Die eingeredeten und eingebildeten Freiheiten der Menschen werden zunehmend uniformer, durchaus auch in der Abgrenzung zu anderen. Kapitale Interessen, Werbung und Medien tendieren dahin, die Selbstständigkeit und Widerständigkeit des Einzelnen zu untergraben. Eine Gemeinschaft von Gleichgeschalteten ist eine »illusorische Gemeinschaft«18. »Vermassung kommt (allerdings) nicht nur von außen, sondern auch von innen, vom kollektiven Unbewussten. Der Mensch in der Masse sinkt unbewusst auf ein niedriges moralisches und intellektuelles Niveau; auf das Niveau, das immer da ist unter der Schwelle des Bewusstseins. Hier ist das Unbewusste immer bereit loszubrechen, sobald es durch die Bildung einer Masse unterstützt und hervorgelockt wird.«19 Neuerlich aufkommende Fundamentalismen und Nationalismen belegen dies.
Im Gegensatz zur allgemeinen Anpassungs- und Vermassungstendenz sieht geistliche Begleitung die Einzelne in ihrer je eigenen Geschichte. Damit fördert sie Selbststand und ermöglicht Widerstand. Nur aus solchem Selbststand und Widerstand kann die Einzelne »sich selbst verantwortlich fühlen« und »sich der Verpflichtung zur Gemeinschaft bewusst«20 werden. Nur so kann sie – sich ihrer selbst bewusst – eine von allen und für alle werden. Die Kurzformel des Arbeiterpriesters Hermann Daniel könnte für sie eine Orientierung werden: »Für alle da, aber nicht mit allen verbündet.« Oder wie der Prophet Jesaja Gott sprechen lässt: »Ich mache dich zum Bund mit dem Volk« (Jes 42,6).
1Vgl. »Nie war einer allein vor dir«, Silja Walter, Gesamtausgabe Bd. 8, Freiburg Schweiz, 2003, 535.
2Zur besseren Lesbarkeit wähle ich hier die weibliche, für die begleitende Person die männliche Form.
3Jean Paul Sartre, Geschlossene Gesellschaft, Hamburg 39 2002, 61.
4Ebd.
5C. G. Jung, Mensch und Seele. Aus dem Gesamtwerk ausgewählt von Jolande Jacobi, Olten 1971, 168.
6Vgl. Christian de Chergé in seinem Testament, in: Iso Baumer, Die Mönche von Tibhirine, München 32012, 101.
7Vgl. Georg Lauscher, Angekratzt. Spirituelle Zwischenrufe, Aachen 2021,
8Dazu: Elisabeth Lukas, Reinhardt Wurzel, Pandemie und Psyche. Wege zur Stärkung der seelischen Immunität, München 2020, 81 f.
9Christian Bauer, Draußen zuhause, in: Christ in der Gegenwart 21/2015, 233.
10Papst Franziskus, Enzyklika Laudato si’ über die Sorge für das gemeinsame Haus, Nr. 202.
11Ebd. 210.
12Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, München 191983, 19. 28.
13Ebd. 79 f.
14Georg Lauscher, Lebenskrisen und ihre Botschaften, Franziskanische Akzente Bd. 28, Würzburg 2021.
15C. G. Jung, ebd. 175.
16Marie Luise Kaschnitz, Dein Schweigen – meine Stimme, Düsseldorf 21981,25.
17Byung-Chul Han, Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin 42019, 7.
18Marc Augé, Die illusorische Gemeinschaft, Berlin 2015.
19C. G. Jung ebd. 180. 182.
20Ebd. 185.