Читать книгу Vom Schein zum Sein - Veronika Wlasaty - Страница 12

Wann erheben wir uns?

Оглавление

Die Welt ist weit, ehe wir den Schlüssel umdrehen.“

(Ruth Cohn)

In einem Spiel, das gelegentlich im Rahmen Sozialen Lernens mit Schulklassen zur Anwendung kommt, heißt es beispielsweise: „Alle, die gerne Eis essen…“ oder „Alle, die nicht gerne Hausübung machen… erheben sich und wechseln den Platz!“ Die Kinder nehmen, indem sie sich zu bestimmten Vorlieben und Abneigungen äußern, wahr, wer gleich oder ähnlich tickt wie sie. Sinn der Sache ist, zu erkennen, dass es bei all den Verschiedenheiten und individuellen Besonderheiten doch ganz viele Gemeinsamkeiten gibt, und diese verbinden in der Regel.

Gelegentlich stellen sich – freilich nicht immer erwünschte – Überraschungseffekte ein, speziell dann, wenn man bei jemandem, den man nicht gut kennt oder den man nicht besonders mag, feststellen muss, dass dieser mehr mit einem gemein hat, als man vermutet hatte.

Dass wir, trotz unserer wertvollen Vielfalt und Individualität, allein durch unser Menschsein in vielem verbunden sind, ist beispielsweise dann erkennbar, wenn wir in einer Notlage zusammenrücken oder im Freudentaumel eines beglückenden Ereignisses unseren Gefühlen freien Lauf lassen. In unseren Bedürfnissen sind wir einander ähnlich oder gleich, in der Art und Weise, wie wir diese erfüllen, unterscheiden wir uns, meinte der „Vater“ der Gewaltfreien Kommunikation, Marshall B. Rosenberg. Für viele schwer nachvollziehbar, wenn man in die falsche Richtung schaut. Aber machen Sie sich selbst ein Bild.

Ich lade Sie ein, folgende Sätze auf sich wirken zu lassen und sich gedanklich oder – im Sinn eines ganzheitlichen Leseerlebnisses – tatsächlich vom Stuhl zu erheben und einen anderen Platz und damit vielleicht auch eine andere Perspektive einzunehmen. Die Palette der Aussagen reicht dabei von allgemein bis zu speziell und unterscheidet sich natürlich in der Thematik von der im Schulunterricht üblichen:

Alle, denen der Frieden in der Welt ein Anliegen ist…

Alle, die glauben, dass sie persönlich etwas dazu beitragen können…

Alle, die Gerechtigkeit, Solidarität und Mitgefühl als unverzichtbare Werte des Zusammenlebens sehen …

Alle, die beim Kauf ihrer Kleidung auf Herkunft, fairen Handel und Ökostandards achten…

Alle, die Umweltschutz als wichtig erachten…

Alle, die beim Einkaufen auf die Verpackung achten…

Alle, die ihre eigenen Verpackungen mitbringen (z.B. Papiersackerl, Frischhaltedosen)…

Alle, die Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum als Grundlage von Wohlstand erachten…

Alle, die andere nach Leistung, Erfolg und Einkommen beurteilen…

Alle, die glauben, dass man von anderen nach Leistung, Erfolg und Einkommen beurteilt wird…

Alle, die die Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten als Privileg wahrnehmen…

Alle, die der Meinung sind, die Entfaltung des individuellen Potentials hätte Priorität in der Schule…

Alle, die bei der Berufswahl ihrer Berufung gefolgt sind…

Alle, die das, was sie tun, auch tun würden, wenn sie weniger oder kein Geld dafür bekämen…

Alle, die das Spekulieren mit Geld verbieten würden…

Alle, die danach trachten ihr Geld möglichst gut anzulegen… usw.

Nun würde ich Sie gerne noch zu ein paar abschließenden Reflexionen anregen:

Wie einfach oder schwierig war es für Sie, sich zu positionieren? Haben Sie überlegt, wie andere – Freunde, Bekannte, Menschen in Ihrer Umgebung, die Gesellschaft … – entschieden hätten? Vielleicht dachten Sie, es gäbe nur eine „richtige“ Wahl, wenn man bei Vernunft wäre. Möglicherweise haben Sie aber auch festgestellt, dass die Formulierungen eine eindeutige Positionierung erschwert haben. Vielleicht hätten Sie bei den allgemein gehaltenen Sätzen das eine oder andere Mal eine Einschränkung oder einen Zusatz als Entscheidungshilfe gebraucht. In diesem Fall haben Sie, auf sich selbst bezogen, schon sehr eingehende Überlegungen angestellt und die Stimmigkeit der Sätze geprüft. Vielleicht sind Sie auch zu unter-schiedlichen Bewertungen gekommen, je nachdem ob eine Aussage auf Sie selbst oder „die anderen“ gemünzt war. Zuschreibungen, die für andere gedacht sind, sind oft von eigenen uneingestandenen oder abgelehnten Denk- und Verhaltensweisen beeinflusst (Projektionen). Zudem haben wir uns ja im Lauf des Großwerdens beibringen lassen, die Schuld oder Verantwortung bei den anderen zu suchen. Bewusst wähle ich hier nicht den Begriff Erwachsen-Werden, weil das Erwachsen-Sein für mich alters-unabhängig vor allem mit Selbst-Erkenntnis, Eigenverantwortung und Selbst-Ermächtigung zu tun hat. Allesamt Eigenschaften, die mit dem Sündenbockdenken nicht vereinbar sind und aus der Opferrolle und dem sich hilflos Ausgeliefert-Sein befreien. (Eine Befreiung, die ich von Herzen all jenen wünsche, die – nach der Devise „Was kann ich als einzelne/r schon ausrichten?“ – überzeugt an der Handlungs-Unwirksamkeit des Einzelnen festhalten).

Darüber hinaus mag die eventuelle Entdeckung so mancher Widersprüchlichkeit im eigenen Denken im Zug des Meinungsbildungsprozesses als unangenehm oder aber als hilfreich empfunden werden. Im einen Fall geht sie den bequem(er)en Weg der Verdrängung, im anderen bringt sie einen weiter, so man das möchte. Aber wissen wir eigentlich, was wir möchten?

Vom Schein zum Sein

Подняться наверх