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Verkehrte Welt?
ОглавлениеFoto: H. Dietinger
Wir leben, wie wir es für richtig zu halten gelernt haben, und beurteilen andere, von unserer westlichen Mentalität abweichende Lebensweisen als rückständig, unterentwickelt, unzivilisiert oder normabweichend und die sich dieser Lebensweise Bedienenden als entwicklungsbedürftig oder genauer gesagt, unserer Entwicklungshilfe bedürfend. Wir wähnen uns als das Volk, die Nation, die Staatengemeinschaft, die, über jeden Zweifel erhaben, anderen, nach unserem Verständnis Unterentwickelten, den Weg weisen muss. Unseren Weg, den sie ohne unsere „Hilfe“ vermutlich gar nicht suchen würden. Da wir die Parameter, die unseren technischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstand abbilden, als absolute Größen setzen, kommt uns nicht in den Sinn, dass es auch anders herum sein könnte. Nämlich, dass wir diejenigen sein könnten, die „verkehrt herum“ leben. Diejenigen, die Geld, technischen Fortschritt und Wissen mit Höherentwicklung und Wohlstand verwechseln. Diejenigen, die die Schönheit des Weges den schnellen Zielen opfern und sich ihres Tempos brüsten, ohne zu wissen, wo es sie hinführt.
Wir lassen keine anderen Maßstäbe gelten als die unseren und erklären diese zu unumstößlichen Eckpfeilern einer funktionierenden Gesellschaft. Unsere an Wachstum, Wettbewerb und Fortschritt orientierten Werte sind die einzig wahren, die allerorts als verbindlich zu gelten haben.
Was aber, wenn wir irren? Wenn unsere „bessere Welt“ nur besser für uns und schlechter für alle anderen wäre. Und auch für uns bestenfalls nur kurzfristig besser und langfristig schlechter für alle. Und wenn in Reichtum leben nicht Anhäufung von Geld und Gütern wäre, sondern Leben im Einklang mit der Natur unter Würdigung, nicht Ausbeutung ihrer Schätze.
Im Bewusstsein, dass das Geborenwerden in diese Welt jedem von uns die selben Erdenbürgerrechte gleichsam als Geburtsrecht zuteil werden lässt, ist eine gleichberechtigte Teilhabe nichts, worüber uns zu entscheiden zustünde, nichts, was wir anderen gewähren oder versagen könnten. Und doch maßen wir uns an, genau darüber zu entscheiden und bemühen dabei oft noch eine höhere Instanz, um unseren Willen zu legitimieren. Gott steh uns bei, möchte man beten, aber Gott steht nur denen bei, die sich auch beistehen lassen und das Zepter, das sie an sich gerissen haben und umklammert halten, endlich loslassen.