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Der letzte Tag

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Der letzte Tag

Samantha Willer, Berlin, September 2015, Donnerstag

Meine Augenlider öffneten sich nur schwer. Ein Glück, dass ich auf dem Rücken lag und die Sonnenstrahlen es mir leichter machten, meine Augen zu öffnen. Die Zimmerdecke schwebte da über mir, schien mir viel zu nah und trotz alledem unerreichbar zu sein. Sekunde um Sekunde entfernte sie sich. Heute Morgen brummte oder gar schrie wenigstens nichts in meinem Kopf. Meine lebhaften Träume der letzten Nächte hallten immer noch eine Weile, wie ein Bergecho, nach. Ziemlich wirre Episoden, die eigentlich in einen Film oder ein Buch gehörten. Trotzdem war dieser Morgen nicht wie sonst, weil ich heute Abend nach London flog. Vor einem halben Jahr hatte ich mich entschieden, diese Stadt besuchen zu wollen. Zahlreiche Bücher und Filme pflanzten etwas namens Neugier in mein Köpfchen. Meine Familie, wie ich sie lapidar nannte, überredete mich, nachdem sie mich immer öfter mit Büchern über London erwischt hatten, meinen Urlaub in dieser Stadt zu verleben. Bis hierhin dachte ich immer, ich liebte Berlin zu sehr, um meine Heimatstadt zu verlassen und mich aus meinem Schneckenhaus zu bewegen. Den ganzen Stress, den die Arbeit mit sich brachte, kompensierte ich in den letzten sechs Jahren mit Heimurlaub, Voyage de Balkonie. Dieser neue Job, dem ich seit mittlerweile drei Jahren nachging, brachte mir zwei neue Themen in mein bis dahin sehr tristes und ödes Dasein: einen furchtbar egoistischen und uneinsichtigen Chef, aber auch zwei liebe, ebenfalls leidende Kolleginnen. Es war schon seltsam und auch bedenklich, dass in der Informatik um ihn herum nur weibliche Angestellte diesem Chef zuarbeiteten. Immer wieder redeten wir drei in unserer Mittagspause, die wir überwiegend außerhalb der Firma verbrachten, über unsere Situation. Entlohnt wurden wir schon recht ordentlich, doch das Pensum wurde immer wieder durch seltsame Einfälle und Anfragen arg bedrängt. Innerlich brachte mir das immer wieder ein wenig Motivation, die ich auch heute dringend benötigte, um nicht vollkommen diesen letzten Tag zu verreißen. Waren wir drei gut drauf, schlussfolgerten wir bei unserer Bewältigung der Missstände am Ende, es ginge um fehlende geschlechtsbezogene soziale Interaktion bei unserer Arbeit. Andererseits schoben wir es auf sadistischen Sexismus und zu viel Testosteron bei den ganzen Schlipsträgern. Egal, wie wir es auch drehten, dieser Chef hatte eine gehörige Macke, nur kannten wir den Grund seines seltsamen Gebarens nicht. Allenthalben gab er mit uns auch vor seinen Freunden an. Die Firma lief gut, es gab reichlich zu tun, denn die Vorgänger, ja das waren „leider“ Männer, hatten hier und da einen kleinen Haufen Chaos hinterlassen. Meine Kollegin Maren, die mit mir die Verwaltung all der Daten und Rechentechnik vor ungefähr drei Jahren übernommen hatte, hielt immer zu mir, wann auch immer unser Chef wieder irgendwo einen Haken suchte, an dem er uns aufhängen wollte. Dafür dankte ich ihr oft, indem ich das ebenfalls für sie tat. Rita, die Dritte im Bunde, beschäftigte sich mit Steuern und Buchhaltung der hiesigen Dependance. Ihr Gespür für die richtigen finanziellen Entscheidungen brachte unsere Firma weg vom Rand des finanziellen Chaos. Alles in allem stand meinem Job eine Drei zu, wenn ich Zensuren vergeben würde. Also ging es mir eigentlich mit ein bisschen Murren nicht wirklich schlecht. Ich schluckte – genug der versuchten Motivation, heute zur Arbeit zu fahren. Dann schwante mir der eigentliche Unbill des Tages. Kurz vor dem Abflug berief meine Mutter noch ein Familientreffen ein. Huch? Meine Arme bewegten sich, ich schien wirklich wach zu sein. Da! Die Beine auch. Klasse. So richtig wach also.

Kaum dachte ich über den Tagesverlauf und meine Stolperfallen nach, hatte sich mein Körper, wie beinahe jeden Tag, in meiner Wohnung in mein weiß gefliestes Bad bewegt. Also heraus aus dem gemütlichen Schlafzimmer, über den ungemütlichen Flur, ins helle Bad. Die tiefstehende Herbstsonne brüllte mich gnadenlos an. Schnell unter die Dusche hüpfen und dann die üblichen Versuche, mein Alter hinter mehr oder minder geschicktem Makeup zu verbergen, zeugten von eingefleischter Alltagsroutine. Wieder so ein komisches Wort, Alltagsroutine. Falsch, Routine ist Alltag und umgekehrt. Kopf geschüttelt, damit ich noch ein wenig mehr meiner Selbst Herrin wurde. Mit meinen zweiundvierzig Jahren beklagte ich noch nicht so sehr viele altersbedingte Kollateralschäden in meinem Gesicht. Deshalb gelang es mir ohne künstlerisches Talent, mich immer wieder irgendwie genießbar herzurichten. Mir kam es so vor, als stünde seit zehn Jahren die Zeit still. Vielleicht war die Batterie vom Spiegel leer. Allerdings wusste ich, dass die beiden vorherigen Jobs mich richtig gefordert und auch innerlich beinahe aufgefressen hatten. Seitdem gewöhnte ich mir einen Arbeitsstil im Schatten an. Oder ich wollte einfach keine öffentlichen Rechenschaften mehr ablegen, weshalb ich wann, was und womit erledigt habe. Doch heute fragte ich mich, warum ich mich eigentlich jeden Tag schminkte. In den letzten drei Jahren war es sehr still in meinem Privatleben geworden. Nicht nur ein bisschen, sondern so richtig still. In mir löste sich die Wehmut und kroch – besser – rannte durch meine Brust, was mit einem kleinen Stich honoriert wurde. Direkt in meinem Kopf gebar es und kam als Seufzer auf die Welt. Sie hatte eigentlich keinen Sinn, meine morgendliche Schminkübung. Keinen rationalen zumindest, wahrscheinlich aber einen tieferen emotionalen Grund. Eben noch wollte ich mich nicht aufgeben und schon waren wieder die leicht depressiven Tendenzen spürbar. Somit folgte noch ein Seufzer. Der wiederum kam nur vom Kopf und fand ziemlich schnell den Weg nach draußen. Einer ist keiner. Oder nimm zwei. Von Zeit zu Zeit liefen mir optisch ansprechende Menschen mit dem gewissen Etwas zwischen den Beinen über den Weg, doch sobald ich auch nur länger als dreißig Sekunden hinsah, kam in mir die Alarmsirene, dass ich gar keinen Grund hätte, mich opfern zu müssen. Meine letzten Erfahrungen schüttelten mich dann immer durch. Neulich mit einem Schüttelanfall, als hätte ich reale Malaria-Fieberschübe. Welchen Grund es dafür gab? Keine Ahnung. Alles verdrängt. Vermutlich stimmte es, was mir meine Schwester Patrizia immer mal wieder zu bedenken gab. Es drehte sich meistens um nicht bewältigte Jugendtraumata und das gemeinsame Geheimnis. Nun gut, nach der kleinen, aber geglückten Schminkübung war doch mal ein erster Pluspunkt heute für mich erstritten worden. Nun zog ich an diesem Donnerstag bequeme Kleidung für die Reise an. Frühstück? Nein! Danke. Schon gar nicht alleine. Also schnappte ich mir elegant meinen kleinen Rollkoffer. Doch bevor ich loslief, prüfte ich noch einmal alle notwendigen Utensilien. Schminktasche, samt Miniapotheke, Dokumente, Fotoapparat, Handy, Tablet mit Zubehör und all das, was eine Frau ohne Ambitionen noch so herumschleppte, wenn sie die Wohnung für zehn Tage hinter sich ließ. Gestern und vorgestern arbeitete ich meine Reiseliste ab und erarbeitete mir somit für diesen Morgen des Monats September die notwendige Ruhe für diesen unerquicklich erscheinenden Donnerstag. Auch wenn ich Religionen ziemlich belastend fand, Halleluja. Es begann zu regnen. Falsch, passender musste es lauten, es pladderte gegen die Fensterscheibe, die ich gleich nach meiner Wiederkehr putzen wollte. Gute Einstimmung, emotional und geografisch, fand ich. Londons nachgesagtes Lieblingswetter entsprach so gut meinem inneren Gefühlschaos, dass es mich seltsamerweise beruhigte. Sieh da, der Welt geht es ähnlich wie mir. Ich musste einfach über meine Erkenntnis lächeln.

Endlich in der Firma mit meinem Koffer, Handtasche und Rucksack angelangt, musste ich blöderweise meinem Chef, Herrn Stratter, über den Weg laufen. Bei meinem durchnässten Anblick grinste er breit und betrachtete interessiert meinen Koffer. So viel Pech konnte ich doch gar nicht haben. Trotzdem setzte sich ein breites Grinsen in meinem Kopf durch, weil ich im Gegensatz zu meinen letzten drei „Urlaubserlebnissen“ nicht erreichbar sein würde. Gleich käme eine Spitze von diesem, für mich nervigen, Mann und irgendetwas Anzügliches meinen Koffer betreffend. War mir echt egal. Super Gefühl, die Lockerheit oder Vorfreude auf London diktierten mein Gefühlsleben. Stopp, keinen Fehler machen. Pokerface konnte ich mittlerweile sehr gut. Der Typ ging mir einfach auf die Ketten. Wie eigentlich alle Männer in letzter Zeit, die ich auf Datingportalen oder in meinem Büro erdulden musste. London schwirrte mir wie ein Schwarm Hummeln im Kopf herum. Beruhigend summend und die Neugier mit Honig fütternd. Das erste Mal in die Stadt von Sherlock Holmes, Gwendolyn Shepherd, Olivia Silber, Lord Nelson, der Queen, Oliver Twist und einer Historie, wie sie hier in Berlin mitunter auch zu finden war. Der Big Ben und die Burg – Tower of London genannt – diese roten Doppeldeckerbusse auf der falschen Straßenseite fahrend, dunkle Pubs, ein Meer an Straßen, das an Parks brandete, die vielen Kirchen und die alten viktorianischen Häuser. Ertappte ich mich gerade rechtzeitig doch noch beim Lächeln, überhörte ich, was der Chef wieder in seinem vermutlich blöden Männergestammel von sich gab. Huch, da landete ich schon in unserem Büro, beengt, weil eigentlich nicht für drei Personen gedacht, sah ich Maren bei meinem Eintreffen. Endlich den ersten Punkt meiner heutigen Reise erreicht. „Hallo Maren. Puh, bisschen feucht, wahrscheinlich genau das englische Wetter zum Vorkosten“, grüßte ich die liebe Kollegin, die mir gegenüber saß.

„Hey, Sammy. Ja stimmt. Vorhin war der Chef hier und wollte mich über dich ausfragen, ob du in der Stadt bleibst. Hab ihm an den Kopf geworfen, dass ihn das ein Scheiß angeht, weil du seit zwei Jahren keinen zusammenhängenden Urlaub länger als eine Woche erlebt hast“, flötete sie mir mit einem diabolischen Grinsen zu.

Meinen Parka hatte ich einfach über meine Stuhllehne gehängt und den Koffer unter das Fensterbrett gestellt. Ach, Maren war ein Schatz, da bot ich ihr für ihre Anteilnahme und den Schutz meiner Privatsphäre ein Highfive an. War unter uns drei Kämpferinnen so üblich, denn sonst bekamen wir von den überwiegend männlichen Mitarbeitern nur Nörgeleien zu hören. Auch zu lesen. Zumeist ging daraus ihre eigene Dummheit hervor. Daran war allerdings die Frau Stratter, die Personalrätin des Unternehmens, maßgeblich schuld. Während Herr Stratter hübsche Damen bevorzugte, wählte sie milchbubige Yuppies aus. Als wäre ein Wettstreit zwischen beiden entbrannt.

„Komm, Patschehändchen. Find ick echt knorke von dir“, sagte ich ruhig und noch vornüber gelehnt.

„Wow. Toller Ausschnitt hat dein neues Top. Gefällt mir, Große“, erwiderte sie mein Highfive immer noch grinsend.

So mochte ich meinen Tagesbeginn, setzte mich hin, schaltete den Monitor an und fand in meinem E-Mail-Postfach zuerst eine Nachricht vom Chef, in der er ernsthaft fragte, warum ich meinen PC über Nacht angelassen hatte. Heute ließ ich mich natürlich nicht mehr ärgern. Copy and Paste war einfacher, denn ich kopierte einfach die Statistik des Datenbankreports meiner dringend benötigten Aufräumarbeit. Kurz hielt ich inne und fing an zu kichern. Gleich kopierte ich einfach sämtliche Reportstatistiken der letzten zwei Wochen. Summarisch glatte 5905 Minuten Laufzeit und gleich noch den benötigten Speicher, weil der Arsch von Chef mir aus Kostengründen keinen neuen Rechner dafür genehmigen wollte. Ärgern? Kann ich definitiv besser. Währenddessen hatte ich es den Hummeln in meinem Kopf gleichgetan und angefangen zu summen. Dafür besaßen die Herrschaften da draußen im Anzug alle einen Rechner, einen Laptop, ab und an auch zwei, plus ein Handy. Je „härter“ sie drauf waren, auch einen Dienstwagen. Zurück zu meiner kleinen Rache. Ohne jede Erklärung, jedoch mit der Überschrift: Arbeitspensum Datenbankverwaltung zur Vorbereitung auf erwünschte, nicht dringend benötigte Zusatzmodule

Ich drückte ohne Gruß auf Absenden. Vorsorglich hatte ich noch Maren mit einer Kopie bedacht. Eine Minute später vernahm ich das laute Lachen Marens, die sich beinahe nicht mehr einkriegte. Irgendwie schaffte sie es mit ihrem klaren melodischen Lachen, mich aufzumuntern. Dass ihr Ex immer noch heulte, weil sie ihn vor einem Jahr, nach zwei dummen aufgedeckten Affären, in die Wüste geschickt hatte, konnte ich nachvollziehen. Da ich reichlich überarbeitet war, sogar der Betriebsrat bestand auf meinem Urlaub, ging mir mein gutes Benehmen mittlerweile völlig am Popo vorbei. Eben eine freche Hummel, hierhin und dahin fliegen, eine Blume hier probieren und eine andere da. Hätte ich den Popo etwa auch sicherheitshalber schminken sollen? London wartete. Doch leider stand mir noch das ungeliebte Familientreffen bevor. Die nächste E-Mail in meinem Postfach ließ ich liegen und holte mir einen großen Pott Earl Grey. So ließ es sich leben. Wir hatten uns eine eigene Minibar hergerichtet, weil die ewigen Diskussionen mit jeder von uns und den Schlipsträgern in der Küche einfach zu viel Zeit kosteten. Meistens verstanden diese Herren einfach nicht, dass wir nicht für jeden der Mutterersatz sind. Alle dachten, wir wären „ihre“ persönlichen Assistentinnen, zuständig für ihre Extras. Kaffee sollte ich sogar mal bereiten. Seitdem war ich rigoros. Soweit kommt das noch, studierte Informatikerin als Saftschubse. Die spinnen, die Römer, hallte es in meinem Köpfchen.

Vorurteile, die auch noch geschürt wurden, empfand ich als beleidigend. Servicekraft bin ich gerne, aber nicht auf Kosten meiner Reputation. So empfand ich meine Widerborstigkeit als gerechtfertigt, wie Rita und Maren eben auch. Eine meiner Erfahrungen der früheren Anstellungen lautete, Extras nur für extra liebe Kollegen. Wie ein Hundeleckerli. Nach dieser Erkenntnis, denn der Support, in dem die meisten Frauen arbeiteten, befand sich zwei Etagen unter uns, bedankte ich mich mit in einer E-Mail mit Bildchen. Damals rauften wir drei uns zusammen und erstritten uns dieses gemeinsame Büro. Die Schikane folgte in Form der Größe des Büros. Der Konter kam prompt, denn für Aktenordner und anderen Bürokram war einfach kein Platz mehr vorhanden. Rita jubelte immer wieder darüber, weil sie damit ungeliebte Arbeiten, das Stöbern in alten Papieren und Heftern, nicht mehr nebenher erledigen konnte, sondern in den Keller, in unser Register, expedieren musste. Kaum saß ich, öffnete sich die Tür und glücklicherweise für meine, ein klein wenig wankelmütige Laune, trat Rita ein. Mit ihrer schlanken Figur, dem jugendlichen Gesicht und den dunkelrot – nein, Hot Chili hieß das – gefärbten Haaren, sah sie für eine junge Mutter wirklich schön aus. Was aber viel wichtiger war, in unserer Runde fühlte sie sich pudelwohl und ergänzte unser Büro hervorragend in Farbe, Form und Wissen. Jedes Mal, wenn sie das Büro verließ, flüchteten einige der Kollegen in ihre Büros. Denn Rita konnte so richtig austeilen. Zurecht musste sie das können. Statt sich hinzusetzen, kam sie mit ausgebreiteten Armen zu mir. Ich stand auf und wir umarmten uns.

„Ach Sammy, ich freue mich so sehr, dass du mal nicht hier sein wirst. Wir haben dir auch etwas mitgebracht, weil du uns in den letzten Monaten so oft geholfen hast“, sagte sie und gab mir einen Umschlag.

Als ich den öffnete, fand ich einen Gutschein für The Shard darin. Das berührte mich unvermittelt, weil auch noch eine Karte, auf der ganz viele Kollegen unterschrieben hatten, beigelegt war. Der Support, der gesamte Wareneingang und der Empfang hatten diese Glückwunschkarte koloriert, als hätte ich einen runden Geburtstag. Doch kannte niemand außer der Personalabteilung diesen Tag, meinen Geburtstag. Glücklicherweise kannte ich den zuständigen Mitarbeiter und er versprach mir, nachdem ich ihm das dritte Mal aus einem ernsten Problem geholfen hatte (Löschen ist manchmal eben nicht wirklich weg), niemandem etwas zu verraten.

„Ihr seid doch verrückt. Oder seid ihr froh, mich mal nicht ertragen zu müssen?“, frotzelte ich.

„Wir wollen, dass du mal rauskommst. Denke an uns, mehr wollen wir nicht“, erwiderte Maren sehr ernst.

„Danke, klar denke ich an euch“, antwortete ich sofort.

„Wehe, wenn du das tust. Urlaub heißt, nicht an uns Kolleginnen zu denken“, fuhr mir Rita in meinen Zuspruch.

„Dann gebt mir eure privaten Mailadressen oder wir verbinden uns endlich mal übers Netz“, kämpfte ich gegen diese Abschottung an.

Prompt piepte es auf meinem Handy. Zwei Anfragen per Instagram von den beiden vor mir sitzenden.

„Nee, jetze, oder?“, tat ich pikiert.

„Klar doch! Du gehörst doch zu uns“, kicherten mir beide entgegen.

Viel schöner konnte dieser Tag eigentlich nicht mehr werden. Eine ganze blühende Sommerwiese um mich herum und das Summen. Das reichte mir und meine gute Laune erkämpfte sich die Vorfahrt. Noch eine E-Mail, von einem der Schlipsträger drei Türen weiter. Der wollte von mir eine Auflistung aller verkauften Produkte zwischen Januar und Februar … Ich stöhnte.

„Sammy, der Chef wollte unbedingt wissen, ob du zu greifen bist, während du im Urlaub bist, weil er der Meinung ist, länger als drei Tage hält die Datenbank nicht durch“, stammelte Rita immer weiter in den Monitor kriechend zu mir.

„Was für ein Idiot!“, grummelte ich. „Der Chef oder deine Schlipsträger?“, fragte Maren zurück, die diese Mails auch lesen konnte.

I am not amused. Antwort: „Tut mir leid, aber alle Bezüge länger als sechs Monate zurück bedürfen eines ausgefüllten Formulars, wegen des Datenschutzrechts, in dreifacher Ausführung. Der Chef muss dies unterzeichnen und selbst prüfen, ob die Anfrage rechtens ist.“

Egal, ich schlürfte noch einmal einen guten Schluck Earl Grey. Herrlich. Hoffentlich nimmt mir Maren diesen Streich nicht übel. Heute erwachte und blubberte in mir eine Schelmine. Die Vorfreude auf London führte zu einem inneren Sonnenschein und einer Leck-mich-doch-Stimmung. Solche Stimmung, daran konnte ich mich nur schwach erinnern, erlebte ich zuhauf noch während meines Studiums. Weil der Chef sich nicht bewegte, seine Schafe zu einer Schulung zu drängen, trugen die Schlipsträger alles auf unseren Rücken aus. Frauen sind zum Kaffee kochen und als Sekretärinnen gedacht, hörte man Stimmen von Geistern im Flur öfter rufen. Irgendwann beschloss ich in den letzten beiden Jahren, dass ich einfach zu teuer dafür bin.

„So, ich denke, mehr werde ich heute nicht mehr tun. Meine fünf Lieblinge streicheln und dann ab zum blöden Familientreffen. Flugzeug hebt in fünf Stunden ab“, kommentierte ich kurz meine Vorhaben.

Maren lachte sich regelrecht in einen Rausch, Rita fuhr auf dem Stuhl zu mir und las meine Antwort. Dann fing sie auch noch an. Hmm, ungewohnt, dass ich solche Seiten mal offenbarte. Das war sehr laut, was dazu führte, dass der Chef hereinplatzte. Das führte bedingungslos zu einem erneuten Lachen meiner beiden Bürofreundinnen. Meine Mundwinkel wurden unweigerlich wie an Marionettenstrippen nach oben gezogen. Nur so ein süffisantes Bisschen. Die Tränen in Marens Augen liefen schon die Wange herunter und Rita krümmte sich. Verstand ich ihre Ausgelassenheit, oder hatte ich unwillkürlich einen überbordenden Humor? Da ich mit dem Herrn Halbgott ohne Talent partout nicht reden wollte, entschied ich mich für einen letzten Rundgang durch den Serverraum. Zuerst führte mein Weg wortlos am Chef vorbei, der mich ahnungslos anstarrte und meine Antwort meiner heutigen ersten E-Mail bereits ausgedruckt hatte.

„Ich wusste gar nicht, dass Web 4.0 noch mit ausgedruckten Mails funktioniert“, raunte ich doch noch ganz nebensächlich beim Vorbeigehen dem immer noch glotzenden Herrn Stratter zu.

Buzzwording par Excellence genügte mir, mich zu entschuldigen. Gestern frotzelte mein Chef über mich vor den Yuppies, nur hatte ich es brühwarm mitbekommen. Glücklicherweise setzte ich durch, dass er absichtlich keinen Zutritt zum Serverraum bekommen hatte, wohin es mich gerade zog. Wäre ich erblindet, könnte ich hier ohne weitere Probleme weiterarbeiten. Keine Hand auf meiner Schulter. Die beiden lachten noch lauter im Büro hinter mir. Einer dieser blauäugigen, dunkelhaarigen und dreißigjährigen Möchtegernyuppies in seinem tief dunkelblauen Anzug mit gelber Krawatte schritt mir mit weiten männlichen Schritten auf dem typischen Bürokorridor entgegen. Schlank war er ja, aber diese Köpfe funktionierten irgendwie meist nicht richtig. Zumindest wusste ich, dass dieses Exemplar eine gleichaltrige Freundin seit circa sieben Monaten ausführte oder hofierte. Ich musterte ihn eingängiger, um eventuelle neue Anhaltspunkte zu sammeln. Der „Kollege“ sah mich an und blieb auf der Stelle, wie angewurzelt, stehen. Mein musternder Blick schien ihn zu verwirren. Oder zu verunsichern. Ignoranz funktionierte immer und ich öffnete die Tür zum Serverraum. Rein da. Feine 18 Grad erwarteten mich. Kaum war ich drinnen, sah ich die Schränke und begann, wie in den letzten Monaten, mit meinen Schätzchen zu reden und wollte ihnen guttun. Als ich vor meinen Drillingen stand, Athos, Aramis und Porthos nannte ich sie, hielt ich inne. Kniete mich hin und sah sie mir genauer an.

„Also meine drei Haudegen, schlagt euch wacker. Wir haben uns doch lieb, oder? Ich bin in London für ein paar Tage. Seid stark miteinander und lasst euch nicht ärgern“, beruhigte ich mich.

Seitdem ich diese Arbeit von einem Typen übernommen hatte, der anscheinend keine Ahnung von gut funktionierender Rechentechnik hatte, lief es in dieser Firma viel besser. Keine Abstürze seit über vierzehn Monaten. Darauf war ich stolz. Allerdings vertraute mir hier in der Firma niemand, außer den ganzen lieben Menschen, die mir auf meiner Karte einen tollen Urlaub wünschten. Okay. So alleine fühlte sich das wirklich nicht an. Natürlich entschloss ich mich, ihnen dafür auch eine Ansichtskarte zu schreiben. Um mich herum zwirbelten sich Kabel und surrte, na summte, viel Technik. Vor zwanzig Jahren hätte ich niemals vermutet, so viel Verantwortung für Technik ganz locker auf mich zunehmen. Noch einmal sah ich meine Rechner an und sie schienen mir zu zuzwinkern:

Mach ruhig Urlaub. Ich lächelte. Streichelte noch einmal über das Gehäuse jedes einzelnen Rechners, ging dann zum Telefon und rief die Nummer der Netzwerkabteilung an. Kurzer Report meinerseits und ich bekam sehr erfreut zu hören, ich solle mich ruhig auf den Weg machen. Die Jungs da unten mochte ich nicht nur wegen ihrer Anerkennung. Oft standen sie mir bei, wenn es darum ging, ordentliche Lösungen für unsere Probleme zu finden. Eigentlich war doch alles gut. Komm schon altes Mädchen, geh einfach zurück, nimm deine Sachen und verschwinde von hier. Genau, ich hatte einfach keinen Bock mehr auf den Irrsinn. Als ich mich verabschiedete, umarmten mich Rita und Maren. Beide freuten sich wirklich für mich. Der Chef war einfach wieder verschwunden, nachdem ich ihm diesen Schlag in die Magengrube erteilt hatte. Als ich am Empfang vorbeiging, um meinen Schlüssel zu hinterlegen, saß eine der lieben Unterzeichnerinnen vor mir und sortierte Post. Ganz leise legte ich meinen Schlüssel und die ID-Karte auf den Tresen. Kurz blieb ich stehen, betrachtete noch einmal das vertraute Bild. Beinahe so, als verabschiedete ich mich für immer. Mein erster Urlaub seit drei Jahren.

Nun aber schnell weg hier, Samantha. Vermissen werde ich dich auf jeden Fall. Erhole dich gut. Und einfach anrufen. Ich verlängere für dich, verlasse dich darauf“, sagte sie zu mir.

„Nett, echt nett von dir, Simone. Danke für das tolle Geschenk. Und nun, bis denne. Kopf hoch, ja?“, munterte ich sie auf. Ihr Lächeln strahlte so viel Zufriedenheit aus, dass all die befürchteten Bauchschmerzen verflogen. Ich wandte mich meinem Urlaub zu. Ach nein, da war ja noch das leidige Familientreffen. Vor dem Fahrstuhl rang ich mit mir, das nicht einfach abzusagen, doch zwei Stunden vor dem Boarding auf dem blöden, langweiligen Flughafen herumzusitzen, würde mir kräftig meine Laune vermiesen. Es öffnete sich die Fahrstuhltür, leer. Damit verließ ich für vierzehn Tage diese kleine Welt.

Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 1

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