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Die Flucht zurück
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Samantha Willer, Berlin-London, September 2015, Freitag
Als ich gestern endlich meinen Platz im Flieger gefunden hatte, die 14 E hatte ich ausgewählt, begann ich, mich zu entspannen. Dieses Familientreffen nach meinem sehr kurzen Arbeitstag fing erwartet anstrengend an, als mein Vater wieder einmal auf mir herumhackte.
„Guten Tag, kinderlose Tochter. Wie sieht dein Liebesleben aus, endlich fündig geworden?“, nervte er gleich los.
Wie immer bei diesen Nachfragen und Bemerkungen überdachte ich meine Entscheidung, mein Geheimnis meinen Eltern immer noch nicht zu offenbaren. Denn, was er und Mutter nur nicht wussten, war der Umstand, dass ich ihnen nicht erzählt hatte, keine Kinder gebären zu können. Meine Operation, die diesen Umstand auf Grund einer früheren Begebenheit notwendig machte, verkaufte ich damals als Urlaubsreise nach München. Also eine Lüge in einer Wahrheit verpackt. In dieser Zeit waren meine Eltern so sehr mit meiner Schwester, deren Heirat und der Geburt ihres Kindes beschäftigt, dass ich diese positiven Ereignisse nicht durch meine negativen Erlebnisse trüben wollte. Mein Vater fand meine Berufswahl schon abartig, da wollte ich nicht noch den Eindruck erwecken, dass ich unbedingt im Mittelpunkt stehen wollte. Allerdings tröstete mich meine Schwester, nachdem ich ihr meine Unvollkommenheit gebeichtet hatte, vier Jahre nach der Diagnose. Sie verstand mich seitdem viel besser, als ich mir die Reaktion ihrerseits eingeredet hatte. Liebevoll bedachte sie mich immer mit dem Hinweis, mir beizustehen.
Ihre beiden Söhne liebte ich sehr. Der ältere, zwölf Jahre, fragte mich immer wieder nach meinen Kenntnissen in der Informatik aus, während der vier Jahre jüngere meine Vorliebe für Science-Fiction-Literatur teilte. Wie sehr meine Schwester mir vertraute und mich liebte, bewies sie immer wieder, da sie mir die Kinder auch ohne Grund für ein Wochenende überließ. Nach solchen Wochenenden regte sie sich hin und wieder auf, weil ich die kleinen Racker zu sehr verwöhnte. Meine Mutter, die diese Hasstiraden nicht mehr ertragen konnte, wurde plötzlich sehr laut und energisch. Ganz die Lehrerin, wies sie meinen Vater zurecht, dass er doch bitteschön seine Meinung für sich behalten dürfe, denn heute wäre ein freudiger Tag. Mich beeindruckte diese resolute Zurechtweisung zu meinen Gunsten. Nach diesem Statement sprach mein Vater kein einziges Wort mehr mit mir, nur die Verabschiedung nötigte ihm ein „Hab viel Spaß“ ab.
Als ich endlich das Haus verließ, nahm ich einfach ein Taxi, denn ich hatte keine Lust, mich durch die Stadt per Bus und Bahn zu quälen. Dreimal Umsteigen brauchte ich nicht auch noch zu ertragen. In meiner schwarzen Röhrenjeans, der weißen Bluse und dem hellgrünen Parka fühlte ich mich für eine Reise gut gerüstet. Das Kuvert von meiner Mutter und meiner Schwester – vielleicht auch meinem Vater – offenbarte mir auf dem Flughafen zwei Gutscheine für den Tower of London und den Eintritt zur Saint Paul‘s Cathedral. Das fand ich wirklich lieb. Endlich startete das Flugzeug. Von meinem Sitzplatz sah ich hinaus und nahm Abschied von meiner Heimatstadt und meinem Alltagsleben.
Der Herr neben mir schien etwas Flugangst zu haben. Nicht einmal voll besetzt, hoben wir Richtung Westen ab. Das Wetter schob Wolken zwischen die Flugzeugfenster und den Erdboden, deshalb bestaunte ich noch die puderzuckerweißen Wolkenformationen einige Momente und versuchte dann, einfach vor mich hin zu dösen. Dann wurde ich von einer vibrierenden Stimme aus dem Off gefragt, ob ich denn nicht gerne in die puderzuckerweißen Fluten springen wolle. Seltsam. Aber nett. Anscheinend war ich sogar eingeschlafen, denn plötzlich kam die Durchsage, wir würden uns im Landeanflug auf London befinden.
Aus dem Fenster blickend sah ich? Genau! Wolken. Welche unglaublich einfach vorhersehbare Überraschung. Egal, weg von dem drögen Alltag, den unzähligen Hürden und langweiligen Wiederholungen. Weg vom nörgelnden Vater, dem unzumutbaren Chef und meinen vier Wänden. Selbst bei Schnee käme ich nicht umhin, mich mal anderweitig umzusehen. Bei der Landung glotzte ich wie gebannt aus dem Fenster. Dann die elend langen Gänge und der Zoll. Nun drängte mich die Neugier nach der Tube. Ich holte mir ganz vorsichtig, wie eine Hummel eine unbekannte Blume ausprobieren würde, so eine Oystercard. Na bitte, klappte doch.
Als ich eine Stunde später mein Hotel betrat, welches nördlich des Hyde Parks lag, merkte ich eine furchtbar schnell aufkommende Müdigkeit. Von außen sah das Hotel mit der viktorianischen Fassade merkwürdig aus. Ein kleines Einbettzimmer beherbergte für mich die gesuchte Liege, das Bad ähnelte meinem und der Ausblick ließ sich ertragen. Mein Magen knurrte. Deshalb die frühe Müdigkeit. Kurz vor dem Abflug sandte mir meine liebe Kollegin Maren noch eine Mail, um mir den Urlaub noch schöner zu reden.
Doch nun? Noch mal raus hier. Es regnete. Klar doch. Entschlossen ging ich noch kurz auf die Jagd nach etwas Essbarem und Getränke für morgen benötigte ich ebenfalls. Erschöpft sank ich gegen neun Uhr auf mein Bett und las noch etwas auf meinem Tablet, welches ich mitgenommen hatte. Ach ja, gleich noch den ersten Blog-Eintrag aus England schreiben, fand ich auch noch eine gute Idee. Irgendwann schlief ich einfach ein.
An diesem Freitagmorgen erwachte ich, so gegen sieben Uhr Londoner Zeit, frisch und ausgeschlafen. Ich duschte, nutzte dazu mein Lieblingsduschbad und ging eine Dreiviertelstunde später hinunter zum Frühstücksbuffet. Die Bedienungen, nur Frauen, hatten diese schwarz-weißen, klassischen Kleider an. Seltsam, aber doch gar nicht so ungewohnt, nur altbacken. Ich bestellte mir ein Kännchen English-Breakfast-Tee. Wennschon, dennschon, dachte ich mir. Zwei Scheiben Toast und etwas Butter mit einer Tomate ergatterte ich vom gut gedeckten Buffet. Das reichte mir. Aha, einen Scone wollte ich schon immer einmal probieren. Nach der ersten Tasse Tee breitete sich in mir ein wohliges Gefühl aus. Wärme. Zufrieden betrachtete ich die Gäste um mich herum. Ein Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus. Familien, Geschäftsreisende und zwei ältere Damen gönnten sich ebenfalls ein Frühstück im Souterrain des Hotels.
Es war doch kühl in London. Wie sollte ich den ersten Urlaubstag für mich gestalten? Ach, ich beschloss, nachdem ich mir gestern so famos eine Oystercard gekauft hatte und die Fahrt mit der Tube so einfach und spannend war, in das Herz Londons zu fahren und wie eine typische Touristin einfach nur zu staunen und meinem Fotoapparat ein wenig Arbeit abzuverlangen. Einfach losfahren. Genau. Als ich wieder auf meinem Zimmer ankam, das nicht groß war, aber ausreichend Platz bot, packte ich meine Sachen ein wenig beiseite, platzierte das Pfund-Stück für die Reinigungskraft und blieb bei meiner Kombination aus Tunika und Leggings komplettiert mit einer Biker-Lederjacke. Das sollte heute reichen. Meinen Schirm hatte ich in meiner großen Handtasche verstaut. Im Spiegel sah ich gar nicht so schlecht aus, obwohl mein Gesicht doch abgekämpfte Züge zeigte. Generell fand ich mich dieses Mal mit meinen Unzulänglichkeiten noch ab. Es war schön, am Leben zu sein und beinahe alles selbst im Griff zu haben.
Keine Viertelstunde später saß ich in der Tube und stieg Oxford Circus aus. Die neue Mischung an Mitreisenden empfand ich als so interessant, dass mir das gewohnte Nachdenken über mich und meine Situation nicht einmal im Traum einfiel. Indische Familien und die jungen, feschen Schlipsträger, die ganz anders auf mich wirkten, als daheim, Mädchen und Jungen in ihren Schuluniformen und die typisch britischen Menschen eben. Vom Oxford Circus schlenderte ich in Richtung Picadilly Circus, die Regent Street hinab und bestaunte die fremden Menschenmassen. Die roten Doppeldeckerbusse spuckten hier und da an den Stopps Menschen aus und aßen wiederum eine Traube derer. All die Geschäfte, die entgegen Berlins Art, in vielen Straßenläden untergebracht waren, statt in irgendeiner dieser hässlichen, monotonen und sterilen Einkaufpassagen, wirkten wie Teile eines riesigen, bunten Puzzles.
Diese Vorstellung mochte ich. Sich vorzustellen, wie es hier in den Roaring Sixties zuging, war ein Leichtes. Ich hüpfte also heute von Puzzleteil zu Puzzleteil. Alles wirkte auf mich ein, immer tiefer, bis mir bewusst wurde, dass ich wirklich Urlaub hatte und hunderte Kilometer von zu Hause und dem Job entfernt war. Am Picadilly Circus beschloss ich, mir diesen geschäftigen Platz in der Dunkelheit anzusehen, weil die vielen Lichtreklametafeln, die hier im Übrigen ihren Ursprung hatten, um diese Uhrzeit fade wirkten. Eben tagsüber bei weitem nicht so imposant. Trotzdem versuchte ich, den Brunnen mit Eros obenauf zu fotografieren. Dies gelang mir sogar mit den gerade durchbrechenden Sonnenstrahlen.
Es begann zu nieseln und ich machte mich gemütlich auf, um mir die wichtigste Sehenswürdigkeit anzusehen, das Parliament mit dem Turm und Big Ben darin. Schon von weitem erspähte ich den Waterloo Place mit den beiden Monumenten. Als ich die ganzen viktorianischen, wunderschön in Schuss gehaltenen Häuser erblickte, verführte es mich, mir vorzustellen, wie es vor 130 Jahren hier zuging. Somit zückte ich meinen Fotoapparat und fotografierte wild darauf los. Auch das Licht war perfekt in diesem Augenblick. In mir begann es zu schwärmen. Meine Güte, waren hier aber viele alte, wundervoll verzierte viktorianische Häuser erhalten geblieben. Ganz vorsichtig berührte ich das Monument des Duke of York. Herrlich.
Als ich kurz danach den Saint James‘s Park erreichte, schummelte sich die Sonne für mich wieder durch die Wolken und ich beschloss einfach so, gutgelaunt durch den Saint James‘s Park am See entlangzuwandern. Über die Brücke gehend, befand ich mich in der Nähe vom alten Westminster. Die Vorfreude auf diese weltberühmten Sehenswürdigkeiten motivierte mich umso mehr, meinen Plan, dieses London aufzusaugen, in diese wundervolle erlebnisreiche Realität umzusetzen. Langsam gewöhnte ich mich an den Linksverkehr, auch auf dem Gehweg. In der Tothill Street knurrte mein Magen dann doch so unangenehm, dass sich das Hungergefühl auf meine Wahrnehmung auswirkte. Leichtes Schwindelgefühl erfasste mich bereits. Die ganze Zeit hatte ich Hunger, aber so viele neue Eindrücke verdrängten all die inneren Warnungen. Morgen Früh sollte ich etwas mehr zu mir nehmen. Knurrte mittlerweile dieser blöde Magen bereits lauter als ein Dackel. Es fing an, mir immer peinlicher zu werden, weil sich mitunter Passanten umdrehten oder mich verwundert ansahen. Von weitem sah ich ein Pret-A-Manger und dachte mir, dass für heute auch ein Snack reichen würde.
Als ich in den Laden eintrat, sah ich mich kurz um. Rechter Hand befand sich eine Treppe in das Kellergeschoss, wo sicherlich noch mehr Sitzplätze zu finden waren. Linker Hand ein kleiner Tresen mit Barstühlen am Fenster und zwei kleine Tische an der Seite der Treppe vor mir. Auch für diese Zeit war der kleine Laden gut gefüllt mit Gästen. Die Schlange war lang. Also schnappte ich mir schnell ein Buffalo Chicken Baguette, eine Cola und einen Blaubeermuffin. Schnell musste ich bei dem Hunger einfach sein. Mittlerweile tat es auch ein wenig weh. Glück keimte in mir auf, weil es zügig voranging. Wie eine kleine Pflanze, die gerade die ersten Sonnenstrahlen im Frühling genoss, fiel mir ein. Kleine Halluzinationen durfte ich mir genehmigen. Vollkommen entspannt mit einem röhrenden Magen, stellte ich mich an der Schlange an. Nach zwei Minuten passierte ich einen der Tische an der Treppe, an dem ein einsam aussehender schwarzhaariger Mann mit leicht angegrauten Schläfen über seinem Essen nachdachte. Der wirkte so deprimiert und war damit so unscheinbar, dass ich ihn vorhin übersehen hatte. Grummel!
Er sah auf und beäugte argwöhnisch meine Magengegend. Auch in der Schlange vor mir drehten sich zwei Frauen in Bürokleidung nach mir um. Einfach so tun, als käme das gar nicht von mir. Trotzdem starrte dieser Herr in seinem typisch dunkelblauen Anzug immer noch genau auf meinen Bauch. Doch kam er mir im Gegensatz zu allen anderen Menschen hier sehr viel abwesender vor, erschöpft oder gar depressiv. Ein Schlipsträger eben, was aber so gar nicht zu ihm passen wollte. Bitte, an so einem Tag, erschien mir das aber wirklich unpassend zu sein, so eine Niedergeschlagenheit allen hier darzubieten.
Grummelgrummelgrumm!
Wieder ein Donnergrollen aus meinem Bauch. Mir schoss das Blut in den Kopf, obwohl ich intensiv mein Baguette betrachtete. Oder weil ich es betrachtete? Schon war ich an der Kasse. Der Kassierer sagte mit britischer Ironie, dass ich es definitiv sehr nötig hätte und es eine gute Wahl wäre. Vor allem der Blaubeer-Muffin fand noch ein Extralob. Ich legte artig und lieb zwinkernd meinen Zwanziger auf den Tresen und schnappte mir mein Essen und das Wechselgeld. Als ich mich umdrehte, sah ich mich nach einem freien Platz gleich hier oben um. Drei hatte ich zur Auswahl. Aber einer fiel wegen der Nähe zur Tür aus meiner Wahl heraus. Die Barstühle fanden keinen Anklang, weil ich mich bequem hinsetzen wollte. An den Tisch zu einem Bauarbeiter wollte ich aber auch nicht. Meine Stilfragen schienen zwar nicht angebracht, aber bei meiner derzeitigen Situation relevant zu sein. Stattdessen überlegte ich, mich zu dem dunkelhaarigen Mann zu setzen. Was mich etwas überraschte. Wie der aussah, könnte er ein Stück von meinem Glücksgefühl gebrauchen. Interessant, interessant, interessant. Schnell vergrub ich mein Portemonnaie, fasste mein Tablett mit beiden Händen und lief hungrig und entschlossen zu diesem Mann, einsam am Tisch sitzend. Der kannte meinen Magen wenigstens schon.
Grummel!
„Dürfte ich mich auf den freien Platz setzen?“, stotterte ich auf Englisch heraus.
Er sah verdutzt auf. Oh, er hatte grüne Augen. Die waren seegrün und matt. Nicht gut. Matte Augen deuten entweder auf Stress oder Drogen hin. Na gut, ich wollte es nicht anders. Und doch zog mich diese Traurigkeit und das Geheimnis dahinter magisch an.
„Ja, kannst du ruhig“, hörte ich seine etwas desinteressierte Antwort. Ich setzte mich und biss in dieses Baguette.
Meine Güte, hatte ich einen Hunger. Zwei Bissen und ich stellte fest, das schmeckte auch ganz passabel. Aber irgendwie fühlte ich mich beobachtet und schaute auf. Mein Magen grummelte sehr viel leiser als vorhin. Okay, ich legte meinen Fotoapparat neben mein Tablett auf den Tisch und dieser Mann da gegenüber beobachtete mein Treiben. Vor allem musterte er immer wieder meinen Bauch. Noch einen Bissen hinterher. Interessiert studierte ich meine Rechnung, auf der auch ein Code für die Toilettennutzung stand. Sogleich musste ich lächeln. Nun schaute er mir in die Augen und ich bekam so ein ganz komisches Gefühl von Unsicherheit. Als hätte ich vier Liter Wasser in mir, das zu allen Seiten drohte, überzuschwappen. Diese grünen Augen brachten mich zum Nachdenken. Vielleicht habe ich irgendwas im Gesicht. Du kannst mich doch einfach darauf hinweisen.
Hmm, es wurde warm in meinem Kopf. Fehler gemacht, schoss es mir durch mein Köpfchen, das beste Teil an mir, fand ich. Mist, ich bekam gleich rote Ohren. Also lieber schnell irgendetwas sagen.
„Ja, ich werde leiser knurren. Bitte nimm mir das nicht übel. Der Weg vom Oxford Circus bis hierher war wohl doch etwas weit“, versuchte ich, zu erklären.
Doch er neigte nur seinen Kopf und stierte wieder auf seine Suppe. Meine Güte, die roch doch gut und sah frisch aus. Was war bloß los? Unbändige Neugier packte mich.
„Gelaufen? Vom Oxford Circus bis hierher?“, hörte ich die tiefe, angenehme Stimme, die mir schon den Platz offeriert hatte.
Ich nickte, weil ich gerade genüsslich kaute. Sein Hemd deutete an, dass er keine dieser Unterhemden trug, die ich albern fand. Doch er schaute mich gar nicht an, sondern versuchte, meine Schuhe zu identifizieren. My Adidas könnte ich nun Run-D.M.C. zitieren. Mann, ich wurde ungeduldig. Hör auf, mich wie eine Fensterpuppe in Damenunterwäsche anzuglotzen und rede endlich.
Lange hielte sich meine gute Laune nicht mehr aufrecht. Besser, ich stünde auf und verließe den Laden. So geht das nicht weiter. Allerdings bin ich eine deutsche Touristin und darf mich ein klein bisschen daneben benehmen.
„So schlecht kann es doch gar nicht sein. Sogar die Sonne scheint draußen“, säuselte ich in einem echt mädchenhaften hohen Ton.
Was war denn mit mir los? Egal, ich wollte doch wenigstens ein kleines Lächeln auf seinen Lippen sehen. Leider verfehlten meine Worte ihre Wirkung. Aber er hob seine Achseln. Jedenfalls schien er keiner dieser Muckibudenbesucher zu sein. Die mochte ich auch nicht. Am schlimmsten waren Muckibudenschlipsträger, kamen weit vor allen anderen schlimmen Erscheinungen dieser Tage in meiner Looser-Hitparade. Dann eben langsamer. Eine echte Herausforderung für mich. Mein Kopf und mein ungewohnt laut jubilierendes Herz forderten mich heraus, noch mehr zu riskieren. Er trug keinen Ehering, erkannte ich an seinen Händen. Seine Hände und seine Gesten ließen vermuten, dass er eher im Büro arbeitete. Dieser Anzug schien maßgeschneidert zu sein. Wie konnte ich diesen Typen da gegenüber dazu bringen, mir nicht meinen restlichen Tag zu vermiesen? Schwungvoll schlug ich meine Beine übereinander, nahm einen Schluck Cola und wippte mit dem übergeschlagenen Bein.
„Cola ist ungesund“, sagte er mir mit einem strengen Blick frei in mein Gesicht, als wäre er mein Lehrer.
„Besser als Kaffee“, deutete ich auf seinen Becher hin.
„Uuund ein wenig Aufmunterung erscheint mir an unserem Tisch nötig, richtig?“, verdammt, ärgerte ich mich über meinen frechen Spruch, während ich die letzten Worte sprach.
Daraufhin erfolgte eine Reaktion. Er sah mich mit riesigen Augen entgeistert an. Besser, ich versuchte, das zu glätten, bevor ich alleine an diesem Tisch ende, dachte ich mir. Nein, heute ist schlechte Laune ausverkauft! Schon, weil ich keine blöden Mails von faulen oder dummen Kollegen beantworten musste oder meinen Chef erdulden.
„Findest du nicht auch, dass es an der Zeit ist, sich zu entspannen? Ich habe mir Mühe gegeben, mein Monster in mir zu füttern“, fügte ich meiner kleinen Frechheit mit einem charmanten Lächeln eine weitere hinzu.
Moment mal, bin ich eigentlich völlig irre? Ich flirte hier am ersten Urlaubstag mit einem wildfremden, traurigen oder gar depressiven Briten in einem Sandwichladen. Bin ich denn wahnsinnig oder ist das der Irrsinn, der mich meinen Frust abbauen lässt? Da will ich einmal Ruhe haben und dann fange ich hier an, Männer, Schlipsträger auch noch, anzubaggern. Warum drehten sich meine Gedanken um unser beider Beisammensein am Tisch? Hormontwister vielleicht? Nein, diese Periode war gerade vor vier Tagen vorbei. All diese überheblichen Geschäftsmenschen, die vorgaukelten, wahnsinnig beschäftigt zu sein, mochte ich persönlich nicht leiden. Aber der hier war einfach anders. Eine Nuss, die es zu knacken galt.
Mein Magen wird warm. Uuubsi? Nein, ich habe keinen Tee getrunken und auch sonst nichts Warmes zu mir genommen. Oh man, der grünäugige Typ macht mich schwach, oder wie verstehe ich mich da jetzt? Großhirn fragt Kleinhirn, ob alles Roger ist. Ein seltsames Geräusch drang in meine Ohren, zwischen denen in diesem Moment zwei Konzerte stattfanden, ein klassisches und eins mit echtem Rock. Verwirrung stellte sich prompt ein. Das Geräusch hörte sich wie ich unterdrücktes Kichern an. Unwillkürlich sah ich meinen Tischpartner an.
Er lächelte.
Er lächelte?
Meine Güte, beeindruckte mich sein Ausdruck. Schiere warme und niedliche Geste. Das musste doch belohnt werden. Von seiner Suppe fand nicht mal die Hälfte den Weg in seinen Mund. Mittlerweile hatte ich mein Baguette restlos vertilgt, ohne auch nur annähernd satt zu werden. Mein Baguette erwählte ich perfekt, denn es mundete mir hervorragend. Schinken, Parmesan und Rucola zwischen zwei frisch gebackenen Hälften passten einfach gut zusammen.
So, was nun? Ach ja, wenn ich mich schon frech geäußert hatte und mich auch noch danebenbenommen hatte, konnte ich dem Ganzen gleich noch die Krone aufsetzen. Schauen wir mal, wie das ankommt. Nun ordnete ich ein wenig mein Tablett um, weil ich meinen Hauptgang vertilgt hatte. Mir wurde besser, also eigentlich meinem Magen, welcher nun wieder ein wenig Arbeit zu erledigen hatte. Prompt beruhigte sich auch mein Gemüt.
Abstrus empfand ich meine Konversation bis zu diesem Moment. Trotzdem wollte ich, aus welchen Gründen auch immer, ein kleines Happyend erleben. Kurz betrachtete ich meinen Unrat auf dem Tablett und den frischen Blaubeermuffin. Mittlerweile stellte sich bei mir ein lang ersehntes Sättigungsgefühl ein, so dass ich gar keine Pflicht mehr darin sah, den Muffin aufzuessen. Ich teilte meinen Blaubeermuffin mit einem sehr unglücklichen Gesicht, als hörte ich den Muffin laut aufschreien. Einen Teil kippte ich auf mein Tablett und den anderen und größeren Teil bot ich diesem lächelnden, grünäugigen, schwarzhaarigen und echt hübschen Mann an. Inspirativ eine gute Methode, wie mit Kindern und Haustieren auch. Belohnen, wenn etwas gut gemacht wurde. Er, der Lehrer – ich nun seine Lehrerin – bedeutet Remis.