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Ein Essen mit Dessert

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Ein Essen mit Dessert

George Haggerthon, London, September 2015, Freitag

Da saß mir eine Frau gegenüber, der vorhin dermaßen laut der Magen knurrte, dass ich meinte, sie wäre ein Flüchtling oder es wäre gerade eine Neuverfilmung von Alien im Gange. Doch meine Gedanken und eigenen familiären Sorgen umkreisten mich, bis diese Frau sich, trotz all der freien Plätze am Fenster, zu mir setzte. Mich interessierte ihr Beweggrund nicht, bis zu dem Augenblick, als erst ihr Magen ein weiteres Mal furchtbar laut knurrte, ja beinahe sang, und sie einfach begann, zu reden. Und dann auf eine unverblümte und freche Art, die ich nur von Barbara kannte. Hinzukam dieser Akzent, leichtes Deutsch vermutete ich, der nicht richtig zu ihr passte. Eigentlich verlieh dieser Akzent dieser leicht verrückten Frau etwas mehr Seriosität. Auch ein bisschen Amerika hörte ich heraus.

Sie war keines dieser verkannten Models, trotzdem überzeugte sie mit einer wirklich natürlichen, schönen Ausstrahlung. Diese graublauen Augen fixierten mich immer mal wieder. Damit fesselte sie mich, denn eigentlich spielte ich mit dem naheliegenden Gedanken, sie einfach alleine sitzen zu lassen. Hinzukam meine Neugier, warum sie so einen Hunger hatte und weshalb sie sich zu mir Trauerkloß setzte. Engländern traut man Unhöflichkeiten zu. Wenn ich sie jetzt einfach ohne ein Wort sitzen ließe, würde das nicht groß auffallen. In mir hallte immer noch ihre schöne weibliche Stimme nach. Verneinung pur entschied ich bei der Überlegung, ob das eine Masche von Anmache war. Vermutlich ist sie nur eine normale Touristin, mit dem Willen, heute einen guten Tag erleben zu wollen.

Aber ein Monster in ihr? Ein Krümelmonster womöglich, ließ ein wenig Humor aufkeimen. Innerlich sah ich Jason vor mir, fernsehend als kleiner Junge. Schwer vorstellbar als ein futterndes Felltier. Eher nervend, wie ein Tribble. Ich musste immer mehr grinsen. Sie schaffte es, mich abzulenken. Also auf gar keinen Fall ist diese Frau eine normale Touristin. Normale Touristen setzen sich nur in Notfällen zu einem solchen Griesgram, wie ich es bin. Dieser Dialekt, Verhalten und Wortwahl passten nicht so recht in mein Weltbild. Ihre Mimik gefiel mir und ich konnte mein beginnendes Grinsen nicht mehr aufhalten.

Verdammt, was passierte gerade mit mir? Unschlüssig aber froh blickend, sah ich schon wieder fasziniert in ihr Gesicht mit den feinen Linien und tollen Augenbrauen. Diese Augen faszinierten mich immer mehr. Reagierte sie auf mich? Ja. Vermutlich ängstigte sie meine schlechte Laune. Aber jetzt wurde ich ihr immer mehr gewahr. Diese Hände, mit denen sie mir eine Hälfte ihres Muffins anbot, waren schlank und gepflegt. Manikürt. Aber nicht diese auffälligen Nägel, sondern stilvoll zu ihr passend. Ohne großartig nachzudenken, griff ich nach ihrem angebotenen halben Muffin. War das eine Belohnung für mein Einlenken gerade eben? Nun schaute ich sie an, ihre Ohren waren rot angelaufen. Dieses Gesicht fragte ganz offenbar eine Frage, die sie sich nicht traute, an mich zu richten. Nein, diese Frage zu ihrer Erscheinung für mich lautete, schön oder vertraut?

Die Frisur, sofern es eine war, nein, war es wohl nicht, sah natürlich aus. Ihre dunkelbraunen Haare fielen hinab bis auf ihre elegant wirkenden Schultern, in leichten Wellen. Einfach so weich von der Wirkung, dass ich hineingreifen wollte. Beeindruckender Teint und ihre Oberweite passte perfekt, nicht zu groß und nicht zu klein. Durch den Ausschnitt deutete sie sich an, was mich einen Wimpernschlag verunsicherte. Langsam reckte ich meine Hand nach dem halben Muffin aus. Ich berührte ihre Hand.

Kawumm.

Als fuhr ich aus einem ewigen Tunnel in gleißendes Licht. Geblendet, vollkommen verwirrt, aufgeweckt. Was war das denn? Sie sah unsicher auf meine Hand, die ich nicht fortbewegte. Ein Blitz hatte mich getroffen und in mir erstarrte alles für eine oder zwei Sekunden. Diese Berührungsempfindung übernahm die ganze Kontrolle in mir. Ihre weiche Haut kribbelte in meinem Nervensystem und legte es lahm. Wie ein Virus. Auf meinem Rücken spürte ich etwas Kaltes? Nein, nass war es. Schweißperlen rannen mir den Rücken hinunter, dabei waren es gerade mal neunzehn Grad.

Welcher Wahnsinn schlug in mir gerade die Zelte auf? Das konnte doch nicht wahr sein? Musste mein Leben noch komplizierter werden? Neun Jahre, nichts. Heute Morgen noch mit den schlimmsten Befürchtungen und nun traf mich ein Blitz. Langsam zog ich den halben Muffin lächelnd an mich. Unsere Blicke trafen sich, ihre nun eher blauen Augen waren so klar und tief, dass es mich fesselte. Beobachtete sie mein Tun oder mich? Wenn sie jetzt anzüglich wird, wäre alles vorbei. Oder, falls gar nichts mehr aus ihrem niedlichen Mund käme. Weder noch. Sie biss einfach von ihrem eigenen kleineren Teil des Blaubeermuffins ab und betrachte mich verlegen. Sie schloss just zufrieden ihre tollen Augen, atmete ein, kaute genüsslich und dann atmete sie wieder aus. Mein Blick fiel unweigerlich erneut auf ihren Ausschnitt, der in mir lang vergessene Männerwünsche aufkeimen ließ.. In meinem Kopf hörte ich einen Ton.

Ommmmh.

Es schmeckte ihr sichtlich gut oder sie wollte mich verführen. Manche Frauen provozierten absichtlich uns Politiker, der Macht wegen. Ich kaute auch meinen Bissen und dieser war wirklich lecker und auch noch warm. So schnell es ging, schluckte ich ihn hinunter. Klarheit schaffen.

„Guter Muffin, Danke. Leider kann ich dir nichts anbieten“, versuchte ich, einen ehrlichen Eindruck zu machen.

Sie öffnete ganz langsam ihre Augen und sah mich aufmerksam an. Das war unglaublich sexy. Aber wie. Hallo, war das etwa ein Röntgenblick? Dieser Blick bedarf eines Waffenscheins. Ihre langen Wimpern wirkten wie ein Bühnenvorhang und die dezent geschminkten Lider verliehen ihr eine Grazie, die mir beinahe den Atem raubte. Wenn das so weiter ging, dann brauche ich einen Krankenwagen wegen Herz- und Kreislaufversagen. Einatmen. Bloß nichts anmerken lassen, so etwas kann gefährlich werden. Ausatmen.

Und meine Kinder zu Hause hörte ich wieder stöhnen, wenn ich sie mitbrächte. Als ich der Gegenwart wieder gewahr wurde, reagierte ich ungewollt und schaute auf meine Uhr. Dann kramte ich reflexartig mein Smartphone aus der Tasche. Nun hätte ich mich ohrfeigen können. Mindestens dreimal. Nein, Sadomaso war überhaupt nicht mein Ding, aber bei solchen bescheuerten Aktionen meinerseits, bedurfte es der Züchtigung meiner Selbst. Das iPhone legte ich sofort mit dem Display nach unten auf den Tisch. Hoffentlich verstand sie die Geste nicht falsch.

„Einfach nur hierbleiben wäre ein Anfang. Gerade war es doch lustig, oder?“, schmetterte sie mir mit einem sanften Unterton entgegen.

Kann sie Gedanken lesen? Definitiv wollte ich jetzt noch hierbleiben. Am wundervollsten wäre es, wenn es gar nicht mehr endete. Als Zeitschleife, wie bei einem Lieblingssong oder dem Murmeltiertag. Ein spannender Film, den man vor dem Ende nicht verlässt, selbst bei einem Weltuntergang. Mein Smartphone klingelte, verdammter Mist. Der Klingelton verriet mir einen Anruf aus einer der Schulen.

„Entschuldige bitte, ich muss das Gespräch entgegennehmen“, hoffte ich darauf, dass sie nicht aufstand.

Nein, sie setzte interessiert ihre Ellenbogen neben dem Tablett ab, verschränkte ihre Finger und legte ihren Kopf leicht nach vorne auf die Hände. Es schnürte mir meine Blutzufuhr zum Herzen ab. Welcher Anblick mir dargeboten wurde, wusste ich nur zu gut. Am liebsten hätte ich sie fotografiert und das Foto als Poster in mein Büro gehängt. Oder eine Ladung Gips drüber gekippt, um eine Statue zu erhalten. Klar, ich war verknallt. Sonnenklar. Keine zehn Minuten dauerte das Theater hier. Ich nahm ab, ich, das Opfer.

„Haggerthon. Was ist denn passiert?“, fragte ich ungeduldig.

„Lord Haggerthon, es geht um Olivia. Sie wurde angeblich gemobbt und ein bisschen geschlagen. Es wäre angebracht, wenn Eure Lordschaft herkämen und Ihre Tochter Olivia abholten“, erklärte mir eine Stimme.

Was ich schon lange vermutete, aber einfach nicht wahrhaben wollte, war nun nicht mehr abzustreiten. Diese Mischung aus Frustration und Verliebtheit fühlte sich zusammen ungesund an. Also eine Komödie, bei der alle Protagonisten qualvoll starben. Wie Plum und Bacon zusammen. Gefährlich. Moment, ein bisschen geschlagen und angeblich gemobbt? Was sollte das bitteschön heißen? Olivia bastelte sich nie Geschichten zusammen. Nicht ein einziges Mal in ihrem Leben. Jetzt wurde mir bewusst, was ich hier gar nicht mochte. Diese Schnepfe am anderen Ende schien mit der ganzen Situation überfordert. Nicht engagiert genug. Wie viel Geld bezahlte ich doch gleich für diese Schule?

Meine Stirn kräuselte sich und ich fragte erbost zurück: „Meinen Sie nicht, dass ich darüber viel früher hätte informiert werden müssen? Ein bisschen geschlagen? Mobbing und Bullying sollten doch an Ihrer Schule kein Thema sein, oder? Wollten Sie mir damit etwas Bestimmtes mitteilen, was meine Tochter betrifft?“

„Es tut mir leid, aber Ihre Tochter hat nichts gemeldet“, kam ernsthaft zurück.

„Hören Sie mal, haben Sie überhaupt eine Ahnung von Kindern? Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein. So etwas muss präventiv angegangen werden!“, in mir kochte nun diese Verliebtheit ein Chili der etwas schärferen Art.

„Wie hohl sind Sie eigentlich? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Sie eigentlich sagen und treiben?“, hätte ich beinahe gebrüllt.

Diese wunderbare und aufregende Frau war aufgestanden. Nein, nein, nicht doch. Mich musternd, nahm sie mir meine Suppe und meinen leeren Kaffeebecher weg und brachte hoffentlich nur das Geschirr zum Müll. Wenn sie wiederkommt, schwor ich feierlich, ändere ich mein Leben.

„Ja, aber wir können doch nicht alle …“, wollte sich diese blöde Schnepfe von Vertrauenslehrerin mit ihrem rosaroten Blick auf diese Welt rechtfertigen?

„Ich bin fassungslos. Geben Sie mir sofort meine Tochter“, ich wollte nicht meine schlechte Seite zeigen, denn ich fühlte mich hilflos, besorgt, wütend und verliebt auf einmal.

Es knackte. Hoffentlich schaffte es meine innere Achterbahn rechtzeitig, in die ruhige Zone zu gelangen. Wie ich mich gerade fühlte, brächte ich es fertig, den dritten Weltkrieg auszulösen. Wenn mir jetzt jemand ungebeten oder ungestüm in die Quere käme, müsste ich vehement um Contenance kämpfen. Diese Hübsche kritzelte etwas auf ihre Serviette, schob sie mir langsam und bedächtig über den Tisch zum Lesen zu.

Darauf stand nur:

„Frag sie nicht jetzt, geh mit ihr spazieren.“

Ich war etwas konsterniert, weil sie anscheinend alles verstanden hatte. Auf der anderen Seite der Medaille, beruhigte mich das so ungemein, weil sie in dieser Situation erwünschtes Feingefühl bewies. In den Park, statt jetzt ein Verhör zu beginnen, passte mir auch viel besser. Irgendwie ergab das sehr viel mehr Sinn als das übliche „ruhig bleiben und auf Jason warten“-Geplapper von mir. Unvermittelt sah ich sie mit angehobenen Augenbrauen an und sie lächelte mich nicht heiter an, aber zuversichtlich und von einem sehr sanften Nicken begleitet. Ihr folgte ich freiwillig. Hatte sie Erfahrungen mit Kindern? Nein, sie eine Mutter?

Stopp!

Egal.

Sie machte mir Mut. Mit der Vorstellung, sie wäre bei mir, wenn ich diese Situation löste, brachte sie mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Olivia, ich hole dich sofort ab. Bleib bitte, wo du bist, meine Kleine. Ja?“, sagte ich beruhigend, wie ein sich im Wind wiegender Baum.

Sie antwortete überrascht mit einem Schluchzen: „Dad?“, pausierte sie kurz, „Du kommst mich abholen? Das, das ist … Okay. Du hörst dich irgendwie anders an, heute.“

Ohne auch nur nachzudenken, sagte ich sanft: „Ja, mag sein, aber du bist jetzt wichtig, nicht ich. Bis gleich.“

Diese Ratgeberin saß mir doch wirklich noch gegenüber, etwas erregt und mich bohrend ansehend. Neugierig oder besorgt? Bestimmt besorgt. Automatisch stand ich auf, packte meine Sachen zusammen und betrachtete ihre aufmerksamen Blicke. Gleichzeitig erhob sie sich aber auch. Ihre Haltung, als sie vor mir stand, nur zwei Hände breit kleiner ohne Absätze, griff mich nach meinem Herzen und drückte leicht zu. Sie rettete diesen Tag, diese fatale Situation und vielleicht einen kleinen Teil von mir. Eine brünette, deutsche Touristin in einem Sandwichladen. „Pardon, eine so tolle Lady verlassen zu müssen, schmerzt mich sehr“, versuchte ich, Pathos hineinzulegen.

„Wie wäre es denn Montag?“, fragte sie mich zögernd mit leicht angehobenen Augenbrauen.

Jener Mann, der jetzt im Stande wäre, ohne nachzudenken abzulehnen, ist der größte Trottel dieses Universums. Meine Güte, überzeugte sie mich mit dieser Art ihres Wunsches. War sie sich dessen überhaupt bewusst? Wenn ja, dann spielte sie mit mir. In diesen wenigen Momenten infizierte mich diese Bekanntschaft mit Leben. Ihr Gesicht flehte geradezu. Sie mochte mich scheinbar. Und ich wollte sie noch einmal berühren. Solche Gedanken schossen mir seit über neun Jahren nicht mehr durch meinen Kopf. Mein Herz klopfte. Montag. Zweifelsohne wieder ein genialer Einfall ihrerseits.

Zuversichtlich, dass sie mich auch mochte, erwiderte ich: „Manic Monday? Es wäre mir eine große Freude, wirklich. Gleicher Ort und dieselbe Zeit.“

Leicht neigte sie den Kopf nach rechts, mein Gott, das Bild bekäme ich nicht mehr aus meinem Kopf. Dann winkte sie mich weg. Sie entließ mich, ließ mich vom Haken? Ich merkte, was diese Frau angerichtet hatte, in mir lebte es auf. Zum Büro? Es gab nichts mehr für mich, außer meine geschundene verängstigte Tochter. Taxi und zur Schule brüllte es in meinem Kopf. Dreißig Minuten später traf ich dort ein. Dann rannte ich hinein, zwei Teenager spöttelten irgendwas von Helikoptervater. Denen hätte ich nachher näher erläutert, wie falsch sie lägen. So eine Standpauke aus dem Nichts, wenn ich den Heimritt mit Olivia angehe. Als ich eintraf, klopfte ich nicht erst, sondern betrat wild entschlossen das Sekretariat. Olivia saß etwas seltsam auf ihrem Stuhl. Schief.

„Guten Tag, wer sind Sie und …“, fragte mich so eine Bürotante in Kostüm mit einer Besserwissermiene, als wäre das ihr Büro.

Anscheinend vermittelte meine Kleidung ein falsches Bild von mir. Dies nutzte ich zusätzlich als Moment meines Missmuts.

Einfach und direkt meine Gedanken ohne Filter raus, „Mund halten, sonst vergesse ich mich!“, wies ich sie zurecht, bevor ich mich ganz leise und sanft zu Olivia umdrehte: „Olivia, Schätzchen, kommst du?“

Sie sah mich geschockt an, Abschürfungen und blaue Flecke verschandelten meine kleine, liebe, lesewütige und niedliche Tochter. Nein, das kann doch nicht wahr sein! In meinem Kopf rumorte es wie wild. Irgendwas wurde gesagt, aber ich blendete es aus. Wie in Zeitlupe gab Olivia mir ihre Hand, neigte liebevoll lächelnd ihren Kopf und wir verließen diese unheilvolle Schule. Meine kleine Tochter ertrug ihr Erlebnis mit stoischer Fassung oder sie schwebte noch im Schockzustand. Die blöden Jungs vermisste ich nicht mal. Das Taxi wartete noch auf mich. So nahm ich meine Tochter und wir fuhren direkt nach Hampstead Heath. Der Weg von der Underground-Station Hampstead in den Park beruhigte mich keineswegs. Kein einziges Wort wechselten wir beide miteinander. Verzweifelt suchte ich eine geeignete Stelle. Dann setzten wir uns am Hang mit Blick nach Süden in das Gras und ich sagte noch nichts. Am Horizont linker Hand konnte ich The Shard erkennen. Meine Wut auf die Schule und mich selbst überstieg meine Fähigkeit, ruhig mit ihr zu reden, um sie zu beschwichtigen.

„Dad, was ist los?“, fragte mich meine Kleine, als wäre nichts geschehen.

Zuerst umarmte ich sie ganz sachte, dann sah ich ihr in die matten Augen: „Wut ist los, auf die Schule und mich.“

„Nein, das meinte ich aber nicht. Du bist anders“, hakte sie nach und durchbohrte mich mit ihren grünen Augen.

„Wenn es unter uns bleibt?“, blickte ich in die Ferne und hörte ein interessiertes „Okay“ von ihr.

„Ich saß mit einer Frau am Tisch, als die Tippse deiner Schule angerufen hat.“

Sie berührte meine Hand: „Schlimm?“

Meine Mundwinkel zuckten nach oben, weil ich die beeindruckenden drei Gesten der Hübschen vor mir aufblitzen sah. Unglaublich, einfach so. Jedes Detail ihres Gesichtes erschien mir, wie im HD-Fernseher.

„Ganz und gar nicht. Irgendwie hat sie mich berührt“, verriet ich ihr ehrlich.

Dann erwiderte sie etwas, was mich stutzig machte: „Wie lange seid ihr euch schon nahe?“

Nun begann ich zu lächeln und schaute auf die Uhr: „Seit einer Stunde und 21 Minuten.“

„Echt? Wie habt ihr euch kennengelernt?“, wurde sie neugieriger.

„Weil …“, kurzer Aussetzer bei meinem Rückblick, „Weil ihr Magen so laut knurrte, dass ein Hund zurück-geknurrt hätte“, versuchte ich, einfach etwas Humor hineinzulegen.

Olivia kicherte und ich musste sie einfach auf ihren Kopf küssen. Erstaunlicherweise wehrte sie sich nicht wie sonst, sondern lehnte sich vertraut gegen mich. Das tat mir gut und ich hoffte, ihr auch. Ihr Geruch kroch in meine Nase, ihre Haut war warm und vertraut. Ein Gefühl mischte sich unter all meine Regungen heute, der Stolz eines Vaters. Vielleicht gaben mir meine Kinder doch noch eine Chance, ein guter Vater zu sein. Ich muss es jetzt versuchen.

„Wie lange geht es schon gegen dich?“, wollte ich geflissentlich wissen.

Sie holte Luft und flüsterte: „Seit ungefähr drei Jahren. Als ich schlank wurde, weißt du?“

Nein, ich werde nicht erzählen, dass diese hübsche Fee von vorhin diese Idee mit dem Park hatte. Und dieser Rat war wirklich hilfreich und führte genau zu dem gewünschten Ergebnis. Ich betitelte sie einfach mal Mary Poppins. Montag musste ich dringend wieder im Pret-A-Manger essen und ihr das berichten. Das schwor ich mir. Mit Verlaub, ich log mir doch etwas vor, oder? Mary wollte ich wiedersehen und berühren. Doch dieses Wochenende verbrachte ich erst einmal mit Olivia, Jason und auch Jennifer, egal, wie sauer sie wieder auf mich sein würde. Meine Familie durfte nicht noch mehr leiden, als ich. Jason und Jennifer nehmen und meine Mutter besuchen. Das war eine der besten Ideen der letzten Monate, wenn nicht sogar Jahre. Jason fände das sicher super, weil er in aller Ruhe lernen konnte. Der übliche Besuch des High Gate Cemetery fällt aus, wegen unüberbrückbarer Differenzen.

„Nachher auf dem Heimweg holen wir uns ein Eis. Was hältst du davon, am Wochenende Granny zu besuchen?“, horchte ich sie aus.

„Prima, Dad. Da kann ich ja lesen“, antwortete sie wie immer.

„Schade, ich würde lieber mit dir, so wie jetzt, einfach dasitzen und reden. Gerade finde es echt toll mit dir“, sprudelte es von meinem Herzen aus mir heraus.

„Ich auch“, flüsterte Olivia und drückte sich noch etwas mehr an mich.

Das hier, genau das, habe ich so sehr vermisst. Seit meiner letzten „Beziehung“ vor beinahe sechs Jahren suchte ich nach einer Antwort auf meine missliche Lage. Nach einer Weile, die wir beide einfach nur beieinander die Umgebung betrachteten, blickte ich zu The Shard. Plötzlich dachte ich an Mary Poppins, die in meinem Hirn einen Schlafplatz suchte.

Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 1

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