Читать книгу In der Schlinge - Victor Ast - Страница 5

Kapitel 1

Оглавление

Der Reiz des Neuen, als einer der ersten Passagiere mit dem Jumbojet der Boeing 747 über den Atlantik zu fliegen, war für David Fastman inzwischen verflogen. Nun kehrte er aus der Gegenwart der Neuen Welt in die Vergangenheit der alten Heimat, nach Deutschland, zurück, und der Gedanke daran schnürte ihm den Hals zu.

Die grell durch das Seitenfenster schießende Sonne hatte ihn hochschrecken und eher instinktiv als bewusst auf die Uhr sehen lassen. Hatte er sie auf mitteleuropäische Zeit umgestellt? Ja doch, kurz nach dem Start. Fast neun Uhr. Er warf einen erschrockenen Blick auf seinen Nachbarn, einen bulligen Typ im blauweiss gestreiften Hemd mit breiten roten Hosenträgern, der schnaufend die Frankfurter Allgemeine las. Ludwig Wenger war Deutschamerikaner und stammte eigentlich aus Kaufering, war aber bereits im Alter von vierzehn mit seinen Eltern nach San Diego gezogen, wo sein Vater die technische Leitung eines graphischen Betriebes übernommen hatte. Dank seines barocken Mitteilungsdrangs, der Fastman allerdings schnell ermüdet hatte, hatte er das Gefühl, jetzt mehr über Ludwig Wenger zu wissen als dieser selbst. So wusste er, dass er in San Diego eine Fleischerlehre absolviert hatte und schon früh mit einer Steakhouse–Kette viel Geld verdiente. Jetzt wollte er auch in Frankfurt ein Steakhouse eröffnen.

„Und am Römerberg tut sich was. Die wollen die historische Häuserzeile wieder aufbauen und eine Fressgass in die Schneise schlagen. Und bei der Messe und beim Flughafen lässt sich auch noch was machen. Wer zuerst kommt, verstehen Sie?“ hatte er grinsend wie ein Breitmaulfrosch getönt, in seine Hosenträger–Takelage gegriffen und die Bänder knallen lassen, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Wozu auch widersprechen? Als Mann des Geistes und der Wissenschaft wusste Fastman, dass man fleischgewordenen Profitkolossen am besten aus dem Wege ging. Aber es war ja nicht möglich: das Los der Reichen hatte ihm in der Businessclas nun mal diesen primitiven, unsympathischen Profitgeier aus Kaufering beschert, und für zehn Stunden war er unausweichlich an seiner Seite.

Der Breitmaulfrosch grinste ihn süffisant an. „Na, Rausch ausgeschlafen? Ist schon alles vorbei. Was sollte ich Sie zum Frühstück wecken? Ich hab’ der Stewardess gesagt: Lass ihn schlafen. Wer weiß, in welch seligen Armen er schlummert. Der frühstückt sowieso in Frankfurt.“

„Danke“, sagte Fastman. Er hatte ja recht.

Mit Bestürzung sah er, dass Wenger die Zeitung zusammenfaltete. In wenigen Minuten würden sie bereits in Frankfurt am Main landen! Er geriet in Panik. Am liebsten wäre er jetzt auf seinem Platz geblieben und wieder zurück nach New York geflogen. Hatte diese Reise überhaupt einen Sinn, oder war es vielleicht doch ein Fehler, hierher zu kommen? War er überhaupt fähig, sich noch einmal der Vergangenheit zu stellen? Wollte er es denn tatsächlich?

Hätte ihm Bill Harley die Fotos von der Europareise nicht gezeigt, und besonders dieses eine Foto nicht, könnte er jetzt noch einige Stunden bequem in seinem Bett schlafen und sich während des Frühstücks in Ruhe überlegen, mit wem er am kommenden Wochenende Tennis spielen wollte. Immer wieder geisterte das Foto vor seinen Augen herum, selbst in seinen Träumen. Es zeigte einen Mann, der wie er Professor der Physik war und an der Frankfurter Johann–Wolfgang–Goethe–Universität lehrte. Es war der Mann, dem sein Besuch galt. Der Mann, der sich jetzt Albert von Riddagshausen nannte und vor sechsundzwanzig Jahren und vier Monaten, im Juli 1943, Hauptmann Heinrich Schulze gewesen war. Das Foto war ja deutlich genug, dass man sein Gesicht eindeutig erkennen konnte! Das große braune Muttermal an der linken Wange und die nachdenklichen blauen Augen unter der hohen Stirn eines Intellektuellen. Nur seine Haare waren nicht mehr so blond wie damals. War es überhaupt möglich, dass dieser Hauptmann Heinrich Schulze und Professor Albert von Riddagshausen ein und dieselbe Person waren? Er rief sich die Telefonate mit Albert von Riddagshausen und besonders das letzte ins Gedächtnis. Wie höflich und sanft, beinahe schüchtern er geklungen hatte, als er ihm vor drei Tagen anbot, über sein Gästehaus zu verfügen. Wie begeistert und geehrt er war, ihn seinen Mitarbeitern und Studenten vorstellen zu können und ihn auch privat im Kreise seiner Familie begrüßen zu dürfen. Das war doch nicht die Stimme eines Mörders, eines Kriegsverbrechers, der ihm zuschrie: „Nutz die Gelegenheit und hau ab! Verdammt noch mal, hau ab, Junge! Worauf wartest du? Verschwinde! Sonst muss ich dich auch erschießen! Tu es mir nicht an, verdammt noch mal! Vergiss deine Überraschung! Vergiss mein Gesicht! Vergiss alles, was du hier siehst, und hau endlich ab!“ Diese Worte hatten ihn mehr als ein Vierteljahrhundert verfolgt, und bis zu dem ersten Telefonat hätte er Stein und Bein schwören können, die Stimme dieses Mannes jederzeit wieder zu erkennen. Aber seitdem fragte er sich: War das wirklich die gleiche Stimme?

„Please fasten your seat–belt, Sir“, bat ihn die Stewardess.

Oh, er hatte sich noch nicht angeschnallt.

„Sorry!“

Sie schenkte ihm ein Lächeln als Antwort.

„He’s been sleeping up till now, you know?“ antwortete Wenger mit verschwörerischem Unterton.

Fastman stutzte. Wengers Stimme erschien ihm mit einem Mal eigenartig fremd, näselnder, eleganter, mehr Florett, nicht dieser in dunklem, tiefem Schlund rasselnde bayerische Säbel. Und dann wurde es ihm schlagartig klar: Albert von Riddagshausen hatte mit ihm ausschließlich Englisch gesprochen! Er konnte ja nicht ahnen, auf deutsch verstanden zu werden! Für ihn war er ja Doktor David Fastman, der berühmte Physiker vom Institute for Advanced Study in Princeton. Für Hauptmann Heinrich Schulze dagegen war er damals, vor sechsundzwanzig Jahren, David Grundman, ein jüdischer Bastard, ein Untermensch gewesen. Und damals hatte er ihn auf deutsch angeschrieen …

Das Dröhnen der im Sinkflug gedrosselten Triebwerke riss ihn aus seinen Gedanken. Die Maschine neigte sich nach links, machte einen großen Bogen und ließ die Stadt an der Ost– und einige Sekunden später an der Nordseite vorbeigleiten, bevor sie auf die andere Seite drehte, um von Osten die Landebahn zu erreichen. Fastman warf einen Blick aus dem Fenster. Deutlich erkannte er die Dächer der südlich des Zentrums gelegenen Ortschaften. Frankfurt, Schicksalsstadt am Main. Hier wurde er vor genau vierunddreißig Jahren und vier Monaten geboren und hier verbrachte er die ersten acht Jahre seines Lebens. Trotzdem würde es nie seine Stadt sein … Da unten lagen seine Mutter, sein Vater und seine beiden kleinen Schwestern Nella und Anita. Kein Grab, das ihren Namen trug, wie Ratten hatte man sie verscharrt. Wieder trat ihm die Szene vor Augen, hörte er die lauten Schüsse, sah die entsetzten Mädchen, Schulzes Gesicht. Warum hat Schulze ihn laufen lassen?

„Sehr geehrte Damen und Herren, hier spricht der Kapitän“, meldete sich der Lautsprecher. „In wenigen Minuten werde ich die Maschine auf der Landebahn des Frankfurter Airports aufsetzen. Im Namen der Pan American bedanke ich mich ganz herzlich für den gemeinsamen Flug und für Ihr Vertrauen.“

Wenige Minuten später berührte die Boeing 747 deutschen Boden, den Boden, den er nie mehr in seinem Leben hatte betreten wollen. Und nun besuchte er ausgerechnet die Stadt, in der er statt einer schönen Kindheit die Hölle erlebt hatte. In dieser Stadt nun sollte er Ehrengast des Mannes sein, der … War er aber wirklich der, für den er ihn hielt? Und das eines einzigen Fotos wegen? Wie würde er sich aus der Affäre ziehen, falls Albert von Riddagshausen tatsächlich jener Hauptmann Heinrich Schulze war? Aber er war ja nicht auf die Zusammenarbeit mit den Europäern angewiesen. Vor allen Dingen nicht mit den Deutschen. Trotzdem: Wenn tatsächlich der damalige Hauptmann Heinrich Schulze vor ihm stünde, dann würde er ihn so verprügeln, dass er keine Kraft mehr hätte, um Gnade zu flehen. Auge um Auge, Zahn um Zahn würde er vergelten. Aber nein. Er schalt sich, als Jude selbst in antisemitische Denkmuster zu verfallen.

„Welcome to good old Germany!“ dröhnte Wenger auf der Gangway und klopfte ihm hart auf die Schulter.

„Danke“, sagte er unsicher. Er blinzelte ihm ins Gesicht. „Und gute Geschäfte.“

„Den frommen Wunsch nehm’ ich auf jeden Fall mit.“ Wenger grinste. „Man weiß ja nie, wofür er gut ist.“

Fastman lächelte verlegen. Dann ließ er ihm den Vortritt, in der Hoffnung, er würde in der Masse der Passagiere verschwinden. Aber dann sah er, dass sie noch in den Shuttle einsteigen mussten, und unglücklicherweise stellte sich Wenger in dem überfüllten Bus direkt neben ihn. Nein, er würde nicht als Racheengel kommen. Er wusste nicht, als was er kam. Als Zerrissener. Dabei hatte er nach so vielen Jahren gehofft, sich endlich von der schrecklichen Vergangenheit befreien und positiv in die Zukunft blicken zu können. Warum, warum also war er nach Deutschland gekommen. Ihm fiel der Satz ein: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Ja, vielleicht hatte ihn der Tod gerufen. Der Tod: Ein Mann namens Heinrich Schulze alias Albert von Riddagshausen. Wie verhielt man sich, dachte er, wenn man beim Tod auf Besuch war?

Am Gepäckband war Wenger endlich enteilt. Nicht dass er ihn verachtete, er mochte ihn bloß nicht, und deshalb war er froh, endlich für ein paar Minuten mit sich allein zu sein.

Als er seinen Koffer vom Band gehoben hatte, wusste er schlagartig, dass er sich völlig unauffällig verhalten würde, so dass Albert von Riddagshausen niemals auf die Idee käme, enttarnt worden zu sein. Er war ja nur vier Tage zu Besuch. Nur bis Montag. Diese vier Tage musste er noch unbedingt überstehen. Erst dann würde sein Plan Wirklichkeit werden … Wie in Trance eilte er durch die arrival hall. Man würde ihn abholen, hieß es. Aber wer? Erst in letzter Minute hatte er von Riddagshausen informieren können, dass er zwei Tage früher kam. Ob von Riddagshausen noch so schnell seinen Plan ändern konnte und selbst kam, um ihn abzuholen? Hoffentlich nicht!

Dr. David Fastman. Welcome to Germany!

Eine mittelgroße, schwarzhaarige junge Frau hielt eine Tafel hoch. Fastman war erleichtert. Als er auf sie zuging und direkt vor ihr stand, hielt er den Atem an. Bevor er etwas sagen konnte, blitzte plötzlich eine Szene vor seinen Augen auf, die er schon einmal gesehen hatte. Wo? In dem Schwarzweißfilm seiner dunklen Gedächtnistruhe, der immer wieder in seinen Träumen aufgeführt wurde? Oder in einer fernen Wirklichkeit? Genau diese junge Frau hatte zu seiner Mutter gesprochen. Er strich sich über das linke Ohr. Wie immer, wenn er sich neben einer attraktiven Frau unsicher fühlte. Und jetzt fühlte er sich sehr unsicher. Aber nicht, weil diese Frau attraktiv war. Sie war es nicht. Oder? Er war nicht in der Lage, die junge Frau mit ihren großen, dunkelblauen und traurig blickenden Augen nach ihrem Attraktivitätsgrad einzustufen. Sie hatte etwas an sich, das ihn faszinierte. Irgendetwas, das er nicht definieren konnte. Er war nur sicher, dass es nicht ihre Schönheit war. Es dauerte eine Weile, bis er ihr ein Handzeichen gab.

„Are you Doctor Fastman?“ fragte sie ihn mit einer Stimme, die ihn erneut aus der Fassung zu bringen drohte. Er hatte das Gefühl, diese Stimme schon ewig zu kennen.

„Yes, my name is Fastman, David Fastman“, sagte er und fügte schnell hinzu: „Wir können uns aber auf Deutsch unterhalten.“

„Oh, Sie sprechen Deutsch? Das wusste ich gar nicht. Ich bin Sara Riddagshausen“, sagte sie lächelnd. „Mein Vater bittet um Entschuldigung und Verständnis dafür, dass er Sie nicht persönlich auf dem Flughafen begrüßen kann. Er musste um neun einen Vortrag halten und bat mich, ihn so lange zu vertreten. Spätestens um zwölf kommt er direkt nach Hause.“ Sie gab ihm die Hand. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, bis dahin mit meiner Mutter und mir vorlieb zu nehmen.“

„Nein, ganz und gar nicht“, sagte er lachend, erleichtert, dass nicht von Riddagshausen ihn abholte.

Er entdeckte einen Blumenladen wenige Meter vor sich. „Darf ich Sie für eine kurze Weile verlassen?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, ließ er sie stehen.

Ein paar Minuten später stand er mit zwei großen Blumensträußen vor ihr.

„Der eine ist für Sie.“

„Und der andere für meine Mutter, nehme ich an“, sagte sie und übernahm lächelnd den für sie bestimmten Strauß. „Danke. Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.“

Er war froh, dass es ihm gelungen war, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. „In welche Richtung müssen wir eigentlich jetzt?“

„Hierhin.“ Sara deutete mit dem Blumenstrauß nach links auf einen Baustellenzaun, hinter dem neben einem Kiosk ein Fotogeschäft der Porst–Kette lag.

Hannsheinz Porst als Sowjetspion entlarvt!

Neben der Bild–Schlagzeile stach ihm noch eine andere in die Augen:

moralisches Desaster: Massaker amerikanischer Soldaten in My Lai!

Er musste spontan an das Foto denken, das ihm den Anstoß gegeben hatte, nach Deutschland zu fliegen. Er verglich das Gesicht auf diesem Foto mit Sara. Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Heinrich Schulze alias Albert von Riddagshausen. Ihre Haare waren pechschwarz und ihre Haut dunkel. Eher ein südländischer Typ. Und deutscher als Heinrich Schulze auszusehen war einfach unmöglich. Vielleicht war Saras Mutter Italienerin oder Spanierin – wenn ihr Vater tatsächlich Heinrich Schulze war.

„Sie werden sich in unserem Gästehaus mit Sicherheit sehr wohl fühlen“, sagte Sara. „Es ist ein sehr bequemes kleines Häuschen und liegt auf dem gleichen Grundstück, keine fünfzig Meter von unserer Villa entfernt.“

Da war sie wieder, diese Unsicherheit. Sie ging eindeutig von ihr aus. Die junge Frau verunsicherte ihn total. Warum? Er war ihr doch zum ersten Mal begegnet. Und doch hatte er das merkwürdige Gefühl, dass er sie schon zeit seines Lebens kannte.

„Waren Sie schon mal in den Staaten?“ fragte er, um sich abzulenken.

„Nein. Ich bin aber ziemlich sicher, dass ich es irgendwann nachholen werde.“ Ihr Gesicht wirkte ratlos, als ob sie sich schuldig fühlte, noch nicht dort gewesen zu sein. „Meine Freundin versucht schon seit längerer Zeit, mich zu überreden. Sie fliegt öfter hinüber. Ich wollte schon längst mit, aber es kam immer etwas dazwischen. Gerade am Dienstag, also vorgestern, ist sie wieder geflogen. Beinahe hätte ich sie begleitet.“

„Und wieso haben Sie nicht?“ wollte er wissen und schob schnell hinterher: „Ich bin natürlich froh, dass Sie es sich anders überlegt haben, sonst hätte ich ja nicht das Vergnügen gehabt, Sie kennen zu lernen.“

„Ganz meinerseits“, lächelte sie verbindlich. „Vor acht Wochen, als Annika, so heißt meine Freundin, die Tickets buchen wollte, hatte ich mich schon fast entschlossen, Anfang November mit der Arbeit im Krankenhaus anzufangen. Sie können es ja nicht wissen: Ich bin vor kurzem mit meinem Medizinstudium fertig geworden. Fast bis Ende Oktober hat es gedauert, bis ich mich dazu durchgerungen hatte, mich selbst nicht zu betrügen.“

„Was für einen Selbstbetrug meinen Sie?“

„Ich wollte zwar immer Medizin studieren, aber nie eine Ärztin werden, die kranke Menschen behandelt.“

„Wie bitte?“ fragte er überrascht. „Die gesunden Menschen brauchen doch keinen Arzt.“

„Den Arzt nicht! Den Mediziner aber wohl“, sagte Sara nachdrücklich. „Ich bin fest davon überzeugt, dass die Rolle der Medizin besser verstanden und neu überdacht werden muss. Nicht nur das Heilen ist Aufgabe der Medizin, sondern auch die wissenschaftliche Erforschung der naturgesetzlichen Heilungszusammenhänge.“

„Sie wollten also Medizinerin und nicht Ärztin werden, wenn ich Sie richtig verstanden habe.“

In diesem Augenblick konnte er sich merkwürdigerweise ganz genau daran erinnern, wie sein Vater seine Mutter ständig davon überzeugen wollte, dass gerade die Physiker und die Mediziner, nicht jedoch die Ärzte, wie er immer betonte, in der Entwicklung der Medizin eine entscheidende Rolle spielten, und wie seine Mutter immer zustimmend lachte, weil sie ebenfalls davon überzeugt war.

Die junge Frau blieb vor einem roten VW-Käfer stehen.

„Das ist mein Wagen“, sagte sie.

„Dann haben wir etwas gemeinsam“, sagte David.

„Ja?“ Sie drehte sich interessiert zu ihm um.

„Das Auto. Ich fahre auch einen Käfer. Allerdings einen weißen. Einen Weißkohlkäfer gewissermaßen“, sagte er lachend.

„Dann wissen Sie auch, dass Ihr Reisekoffer zu groß ist.“

„Ja, das weiß ich. Aber die Rückbank ist groß genug.“

Sara öffnete den Wagen, und David verstaute seinen Reisekoffer und seine Tasche.

Während der Fahrt überfiel ihn wieder die alte Unruhe: Nach sechsundzwanzig Jahren war er wieder in Deutschland, ohne sich verstecken zu müssen! War das überhaupt möglich? Vergeblich versuchte er, Straßen und Häuser zu erkennen. Hatte er alles vergessen? Er war überrascht, keine Ruinen zu sehen. Die Häuser hier schienen schon seit Ewigkeiten zu stehen. Es war noch nicht lange her, dass in den amerikanischen Medien Bilder eines total zerstörten Deutschlands in Umlauf gewesen waren, und er hatte sich damals bei dem irritierenden Gefühl ertappt, dass er sich innerlich darüber freute.

„Übrigens“, riss ihn Sara aus seinen Gedanken, „wie kommt es, dass Sie unsere Sprache so perfekt beherrschen? Fast akzentfrei, würde ich sagen.“

„Na ja, es ist schließlich meine Muttersprache“, sagte er schlicht.

„Ihre Muttersprache? Davon hat mir mein Vater ja gar nichts erzählt. Im Gegenteil, er war froh, dass ich gut genug Englisch spreche, um mich mit Ihnen zu unterhalten. Dann sind Sie tatsächlich Deutscher?“

„Ob ich Deutscher bin? Meine Eltern waren damals jedenfalls der festen Überzeugung, der gleichen Nation wie Heine, Schiller, Goethe oder Mendelssohn anzugehören. Als ich aber 1935 geboren wurde …“

„Gott sei Dank, dass Sie damals nicht hier waren“, unterbrach sie ihn, „sonst hätte Ihre Familie die Hölle miterlebt. Ich habe Sie aber unterbrochen. Entschuldigung.“

„Ich wollte nur sagen, dass meine Familie aus Deutschland kommt und ihr die Hölle leider nicht erspart blieb. Egal. Das ist jetzt sowieso schon so lange her. Ich bin ein deutscher Jude. Jetzt ist es wirklich nicht mehr so wichtig, und ich möchte Sie damit auch nicht belästigen.“

Sie warf ihm einen nachdenklichen Seitenblick zu und konzentrierte sich eine Weile schweigend auf den Verkehr.

Plötzlich kam ihm die Gegend, durch die sie fuhren, bekannt vor. Das weiß gestrichene Haus dort auf der linken Seite, war es nicht das Haus, in dem Hans Martens gewohnt hatte? Und gleich daneben stand der kleine Kiosk, wo sein Vater immer auf dem Wege zur Uni die Zeitung und Zigaretten kaufte. Der Kiosk war jetzt nicht mehr grau wie damals, sondern hätte mit seiner bunten Werbefassade genauso gut in Princeton oder New York stehen können. Gleich würden sie an der Stelle vorbeifahren, wo ihn damals der Lastwagen überfahren und beinahe getötet hatte. Hundert Meter weiter, auf der rechten Seite, stand wie damals das Gymnasiumsgebäude. Das Gymnasium, das er unbedingt besuchen wollte …

„Über dieses Thema müssen wir uns aber noch mal unterhalten. Wenn Sie meine Familie, die damals Gott sei Dank auf der richtigen Seite gekämpft hat, kennen gelernt haben, werden Sie auch verstehen, wieso das für mich so wichtig ist. Versprochen?“

Sie bog nach links ein, überquerte eine schmale Straße und fuhr durch ein großes Eisentor auf ein Grundstück. Nach etwa zwanzig Metern hielt sie auf der rechten Seite des gepflasterten Weges, direkt vor einem kleinen, weiß gestrichenen, offensichtlich erst kürzlich erbauten Haus mit hellrotem Ziegeldach.

„Das ist Ihre Bleibe während Ihres Aufenthaltes in Frankfurt. Herzlich willkommen!“

Zuerst führte sie ihn in ein helles Wohnzimmer mit einem großen Fenster und einer Terrassentür. Eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder fügte sich harmonisch zu einem rechteckigen weißen Couchtisch, einem Zeitungsständer und einem Bücherschrank in gleicher Farbe. Ebenso wenig fehlten eine weiße Braun–Stereoanlage und ein schwarzes Loewe–Opta–Fernsehgerät. Auf dem Parkettboden lag ein roter Teppich. Die Tür auf der rechten Seite führte in ein kleines Esszimmer, das von der schmalen Küche nur durch eine Theke getrennt war. Sie gingen die Treppe hinauf. Sara zeigte ihm das überwiegend lindgrün möblierte Schlafzimmer, in dem ein großer Schrank und ein Doppelbett standen. Vom Schlafzimmer führte die Tür in das ebenfalls lindgrün geflieste Bad. Gegenüber lagen zwei Gästezimmer mit je einem kleinen Bad. Wieder in der Küche, zeigte ihm Sara kurz die Bedienung der Haushaltsgeräte.

„Ich bin sicher, dass das Häuschen Ihnen gefallen wird und Sie Ihren Aufenthalt genießen werden.“

Genießen? dachte er irritiert. Aber woher sollte sie wissen, dass womöglich etwas ganz anderes dabei herauskommen würde?

„Meine Mutter wartet auf uns“, fuhr sie fort. „Ich hoffe, Sie werden nicht nein sagen, wenn ich Sie auch in ihrem Namen zum Frühstück einlade.“

„Mit Sicherheit werde ich nicht nein sagen“, sagte David. „Und das aus einem einfachen Grund: Ich habe im Flieger nämlich das Frühstück verschlafen. Und mein Sitznachbar dachte, wer so selig schlummert, den darf man nicht wecken. Aber ich muss mich erst mal etwas frisch machen und umziehen. Ich beeile mich. Eine halbe Stunde. Ist das okay?“

„Natürlich. Soll ich Sie abholen?“

„Nicht nötig. Sie haben ja gesagt, dass Ihre Villa keine fünfzig Meter von hier entfernt ist. Spätestens in dreißig Minuten werde ich bei Ihnen anklopfen.“

„Dann bis gleich“, sagte Sara und verließ das Gästehaus.

In der Schlinge

Подняться наверх