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Kapitel 4

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Er sah zum Hauptbahnhof hinüber. Es regnete stark. Was für ein November, dachte er. Der Regen floss in breiten Bächen über die Scheiben und verwandelte das Panorama in ein Unterwassertableau. Er sah auf die Uhr. Kurz vor neun! Clark musste jeden Augenblick kommen. Er war immer pünktlich.

Er setzte sich in den großen Ledersessel. Im Radio lief gerade ein Johnny–Cash–Song. Der nächtliche Alkoholkonsum hatte seine Spuren hinterlassen: Sein Kopf wog mindestens das Dreifache wie sonst. Er wollte noch einen Schluck Kaffee nehmen, die Tasse war aber leer. Was war so wahnsinnig dringend, dass er unbedingt am Freitag früh um neun Uhr in Hannover sein musste? Bestimmt nichts anderes als sonst! Die Überprüfung seiner Bereitschaft! Immer und immer wieder das Gleiche! Es würde wieder viel geredet und übertriebene Wichtigkeit zur Schau gestellt werden, und am Ende gäbe es dann einen Auftrag, klein, dafür aber sehr dringend. Seit vierundzwanzig Jahren wurde er jetzt ständig daran erinnert, dass nur die Briten darüber entschieden, wann er etwas zu tun hatte und was. Diesmal war aber noch kein Monat seit dem letzten Treffen vergangen, zum ersten Mal war er völlig außerplanmäßig einbestellt worden. Zum ersten Mal auch hatte ihn Clark persönlich angerufen. Ausgerechnet jetzt, wo Fastman nach Frankfurt gekommen war. Diesen Fastman hatte er sich übrigens ganz anders vorgestellt. Er hatte einen mindestens gleichaltrigen, eher aber älteren Mann erwartet. Trotzdem war er ein sehr sympathischer Bursche. Etwas nervös, aber das konnte mit dem langen Flug zu tun haben.

Als er an der Tür leises Klopfen hörte, stand er auf und öffnete.

„Guten Morgen, Mister Clark, wie immer pünktlich! Nach Ihnen könnte man die Uhr stellen“, sagte er ohne besondere Höflichkeit. „Kommen Sie bitte herein.“

„Ich weiß, dass Sie allen Grund haben, etwas unzufrieden zu sein, weil ich auf dem heutigen Treffen so hartnäckig bestanden habe. Vielleicht haben Sie es sogar als Befehl verstanden. Es ging aber nicht anders“, sagte sein Gast, „wirklich nicht, Albert! Glauben Sie mir!“ Er lachte plötzlich laut und sagte: „Das war aber lustig, als Sie mich Frau Ferkel nannten, wirklich lustig …“

„Frau Merkel habe ich Sie genannt! So heißt tatsächlich eine der Mitarbeiterinnen hier in Hannover. Sollte ich Sie etwa in Anwesenheit meiner Familie als Oberst Clark ansprechen?“

„Sie haben recht, das hätte man als etwas inopportun bezeichnen müssen“, grinste Clark.

Er stellte den nassen Regenschirm in den Schirmständer, zog seinen Mantel aus, hängte ihn auf und setzte sich mit dem Rücken zum Fenster. Als von Riddagshausen auf die Getränke zeigte, wehrte er erschrocken ab.

„Nein, nein! Um Gottes Willen, Albert! Dafür ist es noch viel zu früh. Ich hätte gerne Wasser. Bringen Sie ruhig etwas mehr …“

„Gerade jetzt“, von Riddagshausen sah auf die Uhr, „in etwa einer Stunde wollte ich meinen Gast aus den USA meinen Mitarbeitern vorstellen. Noch vor der offiziellen Begrüßung am Montag. David Fastman, so heißt er, arbeitet am Institut for Advanced Study in Princeton und ist zur Zeit einer der bedeutendsten Physiker. Er beschäftigt sich … oh, Pardon, ich will Sie nicht mit fachlichen Details belästigen, von denen Sie mit Sicherheit keine Ahnung haben.“ Er genoss es, Clark gegenüber seine Überlegenheit herausstreichen zu können. „Aber ich nehme an, dass das nicht unser heutiges Gesprächsthema sein wird.“

„Alles kann Gesprächsthema zwischen zwei alten Freunden sein, lieber Herr Professor. Wir haben uns ja schon immer sehr gut verstanden.“

Diese Bösartigkeit war typisch für ihn.

Clark goss Wasser ins Glas und nahm einen kräftigen Schluck. Das Glas behielt er in der Hand und drehte es ständig im Kreis.

Er war mittelgroß und Mitte fünfzig. Von Riddagshausen hatte ihn trotz ihrer langjährigen Bekanntschaft nie nach dem Alter gefragt. Sein kurzes graues Haar trug er immer elegant und sorgfältig zurückgestrichen. Eine kurze Weile saßen sie sich schweigend gegenüber, bis schließlich von Riddagshausen ungeduldig fragte: „Haben Sie mich nach Hannover eingeladen, um mir höflich mitzuteilen, dass Sie mir eigentlich nichts zu sagen haben, Mister Clark? Gerade heute, wo ich …“

„Ich weiß schon, Sie brauchen es nicht zu wiederholen. Sie haben einen Gast aus den USA, und ich verstehe Sie auch, Albert. Ich musste aber schnellstens etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen. Gerade zum Thema USA …“

Clark schaute wie gebannt auf das zwischen seinen Fingern kreisende Wasserglas, als könne ihm gleich ein Sturm entsteigen. Dann hob er blitzschnell den Kopf und sah von Riddagshausen direkt in die Augen. Er hatte Falkenaugen.

„USA! Das riesige Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Wir Europäer sollten doch ab und zu von den Amis etwas lernen. Das sage ich, obwohl ich in Wirklichkeit diese primitiven Cowboys verachte.“

„Bleiben Sie bitte beim Thema, Mister Clark“, unterbrach ihn von Riddagshausen. „Ich glaube, die Primitivität der Cowboys, die Sie festzustellen meinen, hat mit uns sehr wenig, um nicht zu sagen überhaupt nichts zu tun.“

Clark nahm noch einen Schluck, stellte bedrohlich langsam das Glas auf den Couchtisch und erhob sich. Er schob die Hände in die Hosentaschen und ging zum Fenster. Wie ein Tiger, der die Gitterstäbe seines Käfigs fixiert. Nach einer Weile sagte er aufreizend gedehnt: „Ich hasse es. Ich meine, wenn es regnet. Es macht mich traurig.“

Von Riddagshausen sah ihn fragend an. „Mister Clark, würden Sie mir bitte erklären, warum wir uns unbedingt heute treffen mussten? Zum ersten Mal ungeplant …“

„Ich bin ja gerade dabei.“ Clark lachte. „Nur Sie, lieber Herr Professor, wollen mich leider nicht ausreden lassen. Als ob Sie nicht erfahren möchten, dass heute Ihr großer Tag gekommen ist. Endlich kann oder sogar muss unsere vierundzwanzig Jahre dauernde Vorbereitung Früchte tragen. Unsere Geduld wird sich jetzt endlich auszahlen!“ Er zog seine rechte Hand aus der Hosentasche und strich sich über die Stirn. Noch immer stand er mit dem Rücken zum Zimmer und schien aus dem Fenster hinauszusehen.

„Sie haben aber über die Cowboys geredet, Mister Clark.“ Von Riddagshausen war sich sicher, dass dies wieder nur ein Versuch Clarks war, seine Geduld und seine Bereitschaft zu überprüfen. Durch Erniedrigung, versteht sich. Aber musste es gerade heute sein?

„Ja, ja, ich sagte, dass ich die Cowboys verachte. Man kann aber trotzdem von ihnen etwas lernen. Besonders ihr Deutschen. Ihr habt jetzt riesigen Erfolg, unter anderem, weil es bei euch nach dem Kriege viel zu reparieren gab. Wenn aber eines Tages all das erledigt sein wird, werdet ihr große Probleme haben, euch von der alten Form eures Denkens zu befreien.“ Clark kehrte zum Tisch zurück und füllte das Glas mit Wasser. „Und übrigens, könnten Sie bitte diese primitive Musik abschalten oder zumindest den Sender wechseln?“

Von Riddagshausen zögerte zunächst. Er hasste es, von Clark herumkommandiert zu werden. Langsam erhob er sich, ging zum Radio und schaltete es aus, bevor er wieder an den Tisch zurückkehrte. In die sofort eintretende Stille hinein sagte er: „Ich möchte nicht unhöflich sein, Mister Clark, aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jetzt wirklich zur Sache kämen. Ich glaube nicht, dass wir gerade jetzt über die verschiedenen Formen des Denkens reden müssen.“

„Einspruch, euer Ehren“, sagte Clark, „Eure Art des Denkens war nämlich einer der wichtigsten Gründe, warum Deutschland den Krieg verloren hat. Verlieren musste! Ihr hättet es damals mit uns zusammen machen sollen!“

Von Riddagshausen erstarrte. „Was sagten Sie da gerade? Wie soll ich das, bitte schön, verstehen?“

„Keine Nation ist fähig, allein auf dieser Welt zu herrschen, von uns Briten unter gewissen Bedingungen einmal abgesehen. Unser früheres Imperium darf doch als kleiner Beweis dafür gelten.“

Von Riddagshausen sah Clark skeptisch an. Auf so ein Gespräch war er nicht vorbereitet.

„Mister Clark, seit etwa vierundzwanzig Jahren treffen wir uns regelmäßig, und bis heute haben wir uns, so glaube ich zumindest, sehr gut verstanden. Ich weiß es und ich akzeptiere es ja auch, dass ich Ihnen etwas schulde. Ich weiß sehr wohl, wofür. Und ich tue ja etwas für Sie. Wie damals abgemacht! Auch wenn mir im Laufe der Zeit immer klarer wurde, dass es eigentlich nichts anderes als Schaumschlägerei gewesen ist.“

Clark grinste. „Harte Worte, Professor: Schaumschlägerei!“

„Ja, Mister Clark! Schaumschlägerei! Spielen wir endlich mit offenen Karten. Wir beide wissen, dass ich für Sie nur Scheinarbeit geleistet habe. Heute ist ja das allererste Treffen, wo wir uns über solche Sachen unterhalten.“

Statt einer Antwort trank Clark einen Schluck Wasser.

“Mister Clark! Ich habe Sie gefragt, ob …“

„Ja, ich weiß, Albert. Es ist diesmal aber viel komplizierter. In einem Punkt haben Sie Recht! Wir haben Ihre Geduld und Ihre Bereitschaft wirklich hart geprüft. Es war aber keine Schaumschlägerei. Unser Job ist Warten! Sehr oft weiß man nicht einmal, worauf man wartet! Aber manchmal hat man Glück! Wie jetzt! Und auf so einen Tag wie heute mussten wir sehr lange warten. Vierundzwanzig Jahre, Herr Professor! Vierundzwanzig Jahre! Aber es hat sich gelohnt! Dabei hätte es wirklich anders aussehen können. – Hören Sie, Albert, vor Ihnen kann ich ja mit offenen Karten spielen …“

„Dann tun Sie es und sagen Sie endlich, was Sie heute zu sagen haben.“ Von Riddagshausen leerte sein Glas und stand auf. Er ging unschlüssig im Raum auf und ab, bis er neben Clark zu stehen kam. Er blickte müde zu ihm hinunter. „Worauf haben wir so lange gewartet, Mister Clark? Was ist unser Erfolg?“

„Setzen Sie sich wieder, Albert! Gleich werden Sie sich tierisch freuen. Also, wie ich schon sagte: Wir hätten es damals miteinander und nicht gegeneinander machen sollen …“

„Immer noch das gleiche Lied?“ Von Riddagshausen kehrte wieder an seinen Platz zurück. „Wie soll ich das, verdammt noch mal, verstehen?“

„Genau so, wie Sie es hören. Dafür braucht man unsere Intelligenz und echte Führungsfähigkeit, aber auch eure manchmal sogar ziemlich blinde Ordnung. Diese Ordnung hätte uns zum Beispiel helfen können, das ganze unnötige und in der Welt überflüssige Gesindel zu beseitigen. Meinetwegen auch in Auschwitz. Aber um Gottes willen nicht die Juden, deren Intelligenz wir mit Sicherheit notwendig brauchen.“

Von Riddagshausen wurde übel. Die arme gequälte Kreatur trat vor seine Augen, und die entsetzlichen Bilder kehrten zurück. Als er langsam wieder zu sich kam, hörte er Clark weiterreden.

„… die Juden muss man ja nicht gleich lieben. Die Welt braucht sie aber. Mehr, als sich die meisten Menschen vorstellen können. Sie sind schließlich für alle Zweige der Wissenschaft unersetzlich. Ob es uns gefällt oder nicht. Bevor die Bauern Traktoren bekamen, wurden keine Zugpferde abgeschlachtet … Was ist mit Ihnen, Herr Professor?“

„Ach, nichts. Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen.“

„Ich dachte schon, Sie fühlten sich nicht wohl …“

„Könnten Sie nicht endlich sachlicher werden und verraten, um was es heute eigentlich geht, Mister Clark?“ Seine Stimme klang gequält.

„Jawohl, Herr Professor, das werde ich jetzt tun. Es geht um Ihren Gast, Mister David Fastman. Sie brauchen mir nichts über ihn zu erzählen. Überhaupt nichts, Albert! Wir wissen es schon. Alles, möchte ich sagen! Wir wissen auch, dass Sie seinen Mitarbeiter vor vier Wochen in Frankfurt kennen gelernt haben. Und wenn Sie nur die geringste Möglichkeit sehen, mit Fastman zusammenzuarbeiten, dann werden Sie natürlich zugreifen. Dass Sie ihm auch Ihr Gästehaus zur Verfügung gestellt haben, freut uns um so mehr. Es kann der kleine Anfang einer großen Männerfreundschaft werden. Das würde uns natürlich überglücklich machen.“

Von Riddagshausen kniff die Augen zusammen. „Sagen Sie Clark, was wird hier gespielt? Geht es Ihnen um meinen Gast? Was hat er, verdammt noch mal, mit uns und dem großen Tag zu tun?“

Clark schien die Aufregung des Professors zu ignorieren.

„Ja, Albert! Es geht um Ihren Gast! Um Ihren Gast aus den Staaten! Um den berühmten Doktor David Fastman, den Professor vom Institute for Advanced Study, dem renommiertesten Forschungsinstitut der Welt. Womit er sich beschäftigt und was der gute Fastman als Physiker in der Welt bedeutet, wissen wir selbstverständlich bis ins Detail. Seit Jahren! Schon vor zwei Wochen haben wir von unserem Mann aus Chicago Nachricht erhalten, dass Fastman nach Deutschland kommen würde, aber erst gestern, Gott sei Dank noch rechtzeitig, erfuhren wir, dass Sie, Albert, sein Gastgeber sind. Da das Gebiet seiner revolutionären Forschung uns sehr am Herzen liegt, war es meine Pflicht, Sie hierher zu bitten. Und da Sie ein sehr begabter Physiker sind, werden Sie das sicher gut verstehen, lieber Herr Professor von Riddagshausen. Es wäre natürlich viel besser gewesen, wenn es uns gelungen wäre, dieses Gespräch vor Fastmans Besuch bei Ihnen zu führen … Na ja, Ihre reizende Tochter wird bestimmt nicht allzu traurig darüber sein, dass sie sich während Ihrer Abwesenheit um einen so attraktiven jungen Mann kümmern muss … Oder irre ich mich, wenn ich glaube, dass Sie sie darum gebeten haben?“

„Sie irren sich nicht. Aber jetzt lassen Sie die Katze aus dem Sack: Was hat unser heutiges Treffen mit meinem Gast zu tun? Dass er ein sehr sympathischer junger Mann ist, der schon viel auf seinem Forschungsgebiet geleistet hat, ist meiner Aufmerksamkeit freilich nicht entgangen.“

„Schon viel auf seinem Forschungsgebiet geleistet hat!“ äffte ihn Clark nach. „Mehr als die meisten in Jahrzehnten. Das ist aber jetzt unwichtig. Wichtig ist, dass die Gunst des Schicksals es einem echten Briten und einem aufrichtigen Deutschen ermöglicht hat, der ganzen Welt zu zeigen, wo es langgeht. Und diese Gunst werden wir sofort beim Schopf packen. Wir werden einen kleinen Weltkrieg machen, wenn Sie verstehen, was ich meine …“

Sein kreisendes Wasserglas stand plötzlich still.

„Stellen Sie sich vor, Albert, wir werden den modernsten Weltkrieg aller Zeiten führen. Einen Krieg, in dem es keinen einzigen Schuss gegen unbeteiligte Menschen geben und in dem keine einzige Bombe fallen wird. Diese einmalige Chance müssen wir doch nutzen! Wir werden beide in die Geschichtsbücher kommen. Noch Generationen nach uns wird man von uns als den Vätern eines revolutionären Zeitalters des Fortschritts und des Friedens sprechen.“

Von Riddagshausen sprang aus seinem Sessel auf und ging zum Fenster. Dieser Mann war irr! Ruckartig drehte er sich um und fixierte ihn.

„Meinen Sie nicht, Mister Clark, dass …“

„Langsam werde ich ungeduldig, Herr Professor von Riddagshausen. Vergessen Sie bitte nicht, dass ich hier das Sagen habe! Nicht Sie! Verstanden? Das Sagen habe ich! Deshalb möchte ich Sie bitten, mich wenigstens so lange nicht zu unterbrechen, bis ich fertig bin. Ich lasse Sie dann schon wissen, wann das sein wird!“

Er erhob sich, fasste von Riddagshausen am Arm und führte ihn zu seinem Sessel zurück.

„Nehmen Sie jetzt bitte wieder Platz, sonst kann ich mich nicht konzentrieren. Und wahrscheinlich auch nicht beherrschen! Noch ist es eine Bitte! Verstanden?“

In diesem Augenblick wurde von Riddagshausen klar, dass er seine mühsam aufgebaute Loyalität den Briten gegenüber verloren hatte. Er wusste, dass es zur Zeit keine Möglichkeit gab, sich von Clark zu befreien. Aber in Zukunft würde es für ihn einen stetigen Begleiter zu den Treffen geben: Angst. Mit diesem Gedanken ließ er sich in den Sessel fallen.

„Reden Sie weiter, Clark“, sagte er leise.

„Wir müssen also unbedingt den ersten Schritt in diese einzig richtige Richtung tun …“

Clarks Zunge fuhr kurz über seine Lippen. Es sah irgendwie lächerlich aus.

„Im Übrigen: Sagen Sie bitte nie wieder Clark zu mir. Nie mehr! Haben Sie gehört? Wenn schon, dann Mister Clark oder Oberst Clark. Haben Sie mich verstanden, Riddagshausen?“

Von Riddagshausen sah ihn entgeistert an. Was war in ihn gefahren? Rastete er jetzt aus?

„Ihre Aufgabe ist eigentlich ganz einfach!“ fuhr Clark fort. „Sie müssen aus Fastman so viel Informationen wie nur möglich herausholen. Entscheidend ist, dass wir mit Ihrem Material in die Lage versetzt werden, die Ergebnisse vollständig zu rekonstruieren. Mit anderen Worten: Wir müssen sie nutzen können!“ Er hob sein Kinn. „Das war es eigentlich, was ich Ihnen sagen wollte. Den Rest werden Sie in wenigen Tagen, vielleicht schon am Montag, mit Professor Banx aus London besprechen. Punkt für Punkt! Ich meine natürlich das Fachliche.“

Von Riddagshausen kniff die Augen zusammen. Er spürte einen Stich im Kopf. Entweder war es der Alkohol oder die blitzartige Erkenntnis, dass sein Hals in der Schlinge steckte.

Clark wurde auf einmal ganz offiziell.

„Den heutigen Abend habe ich bereits für uns geplant. Ich habe Konzertkarten besorgt. Peter Tschaikowsky mögen Sie doch, oder? Die finanzielle Seite Ihres Besuches, Hotelrechnung und alles andere, haben wir schon geregelt. Wie immer sind Sie Gast der Royal Society.“

„Einen Augenblick bitte, Mister Clark“, sagte von Riddagshausen schnell. „Was soll das eigentlich bedeuten? Dass ich für Sie oder, um genauer zu sein, für Ihre Regierung etwas tue, war 1945 eindeutig abgesprochen. Damit bezahle ich schließlich Ihr Schweigen über meine wahre Identität. Bis jetzt konnte ich es auch mehr oder weniger mit meinem Gewissen vereinbaren. Bis vor wenigen Augenblicken war ich ja letztendlich davon überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen. Jetzt verlangen Sie aber von mir, so habe ich es jedenfalls verstanden, etwas zu tun, das gegen die Amerikaner gerichtet ist, die ja immer noch als unsere Verbündeten gelten. Nein, Mister Clark! Vergessen Sie es! Ich will keinen Krieg ohne Bomben führen! Ich will auch keinen Krieg ohne Schüsse führen! Ich will überhaupt keinen Krieg führen! Von Kriegen haben wir alle schon mehr als genug, verstehen Sie? Ich will nur anständig und in Ruhe leben! Für meine Familie und für mich! Nein, vergessen Sie es! Ich werde gleich nach Hause fahren. Und nicht nur, weil ich meinem Gast versprochen habe, heute Abend zurück zu sein. Ich glaube zu wissen, was für Konsequenzen ich dafür tragen muss. Ich werde es überleben müssen, Ihre Freundschaft nicht mehr genießen zu dürfen!“

Von Riddagshausen erhob sich und zeigte auf die Tür.

„Ich möchte Sie bitten, dieses Zimmer jetzt zu verlassen.“, sagte er ruhig.

„Besinnen Sie sich, Albert! Sie glauben zu wissen, was für Konsequenzen es haben würde? Nein! Sie haben keine Ahnung, mein Lieber!“ Clark lachte auf. „Das würden Sie doch Ihrer Familie nicht antun wollen, die Sie ja so sehr lieben. Nicht wahr? Oder glauben Sie etwa, dass es für Ihre Familie besonders opportun wäre, während des Besuches eines weltberühmten Gastes in Abwesenheit des Gastgebers erfahren zu müssen, was der liebevolle Ehemann und vorbildliche Vater als anständiger Bürger vor sechsundzwanzig Jahren einer jüdischen Familie angetan hat? Wie hieß diese Familie doch gleich? Grundman? Und die anderen? Was glauben Sie, wie Ihre netten Studenten und Kollegen reagieren werden, wenn sie erfahren … Lassen wir das. Lange Rede, kurzer Sinn: Sie werden schnell vor Gericht landen, mein Lieber – als Kriegsverbrecher!“

Von Riddagshausen hob halb drohend, halb abwehrend die Hand. „Wie lange wollt ihr mich eigentlich noch erpressen!?“ rief er erregt. Er atmete schwer. „Werde ich denn niemals eine Möglichkeit bekommen, selbst meine Vergangenheit offen zu legen? Es gab auch keine anderen Familien, verdammt noch mal! Nein, es gab sie nicht! Das einzige, was ich immer wollte, war, die Menschen zu retten! Und das wissen Sie. Oder haben Sie mir nie geglaubt?“

Von Riddagshausen sank schwer in den Sessel. Er presste beide Hände gegen seinen Kopf, als ob er das, was er eben erlebt hatte, wieder aus seinem Hirn herauspressen könnte.

„Mein letztes Wort: nein!“ Wie ein Schuss fiel Clarks Nein. „Eine solche Möglichkeit werden Sie nie bekommen! Haben Sie gehört? Niemals! Begreifen Sie immer noch nicht, dass es keinen Ausweg für Sie gibt? Man muss nun mal für die Fehler, die man begangen hat, ein Leben lang büßen und geradestehen, und übrigens: die Amerikaner waren unsere Verbündeten. Während des Krieges!“

„Ich habe mich also nicht geirrt?“ fragte von Riddagshausen leise.

„Was meinen Sie?“

„Müssen die Machthaber immer so arrogant sein? Müssen sie um jeden Preis ihre Macht zeigen?“

„Das ist keine Arroganz. Abgesehen davon, dass ich persönlich keine Macht habe. Ich handle lediglich im Namen der Macht. Das ist alles. Die Macht ist …“

„Sparen Sie sich das, Clark. Meinen Sie, ich wüsste nicht, was Macht bedeutet? Halten Sie mich denn für einen Grünschnabel?“

„Macht bedeutet, andere zu beherrschen. Über die, die man nicht beherrschen kann, hat man eben keine Macht. Um die Macht muss aber ständig gekämpft werden“, antwortete Clark, und von Riddagshausen meinte, ihn seufzen gehört zu haben. „Zum einen muss man um sie kämpfen, um sie zu erringen, zum anderen, um sie zu behalten.“

„Was ist mit Ihnen los, Norman?“

Von Riddagshausen sammelte alle Kräfte, um ruhig zu wirken. Er suchte Clarks Augen. Sie hatten einen fiebrigen Glanz. Die Augen eines Wahnsinnigen.

„Ich erkenne Sie nicht mehr, Norman. Sie waren nie so, so ... besessen. Was ist mit Ihnen?“

„Ich werde es Ihnen erklären.“

Clark drehte sich um und ging zu seinem Sessel. Zuerst sah es aus, als wollte er das Glas wieder in die Hand nehmen, um es zwischen seinen Fingern zu drehen, dann überlegte er es sich und ließ es stehen.

„Ja, Albert“, begann er. „Es ist nicht leicht, wenn man es mit einem so intelligenten Menschen wie Ihnen zu tun hat. Um sicher zu sein, dass man alle vorstellbaren Missverständnisse vermeidet, muss man alles, aber auch wirklich alles sagen, was man für wichtig hält. Und so einer wie Sie fühlt sich sicherlich gekränkt, wenn er hört, was er schon längst weiß. Sie fühlen sich von mir belehrt! Das war niemals meine Absicht, Albert! Niemals! Mein einziges Ziel ist es, Missverständnisse zu vermeiden! Lassen Sie mich also bitte ausreden! Auch wenn Sie es als Belehrung empfinden sollten! Also noch mal zum Thema Macht. Wenn man die erste Schlacht um die Macht gewonnen hat, verlieren die Mittel des Kampfes im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung. Irgendwann, wenn in Vergessenheit geraten ist, dass die zum Machterwerb eingesetzten Mittel unanständig waren, wird keiner mehr die Anständigkeit des Machtinhabers in Frage stellen. Aus welchem Grunde auch immer. Um die Macht aber weiter zu behalten, muss man auch weiter kämpfen …“

„Mister Clark …“

Clark schien es nicht zu hören und redete weiter. „Diesmal sind aber die Mittel nicht mehr so unwichtig. Man darf auch nicht vergessen, dass die Macht nur durch eine winzige Minderheit ausgeübt wird. Und jetzt möchte ich Ihnen etwas über die Formen der Macht sagen und über den Kampf, an der Macht zu bleiben …“

„Mister Clark, bitte …“

„ …Totalitarismus, oder sagen wir lieber: das, was die große Mehrheit unserer westlichen Gesellschaft unter diesem Wort zu verstehen glaubt, kann mit Sicherheit nicht ewig halten. Dazu kommt, dass in den totalitären Ländern der Wahn der Ideologie die einfachste Logik besiegt. Und die Folge? Eine miserable Wirtschaft! Und genau das, was diese so genannten totalitären Regierungen mit ihrer Bevölkerung tun, tun die Amerikaner mit der ganzen Welt. Uns inklusive! Wenn Sie das verstanden haben, dann …“

„Hätten Sie nicht lieber doch Lehrer werden sollen? Also ganz ehrlich, Mister Clark, glauben Sie wirklich, dass ich bisher nichts davon wusste? Halten Sie mich wirklich für so dumm, dass Sie glauben, mir ein Privatissimum in Politik und Wirtschaft halten zu müssen?“

„Ihr Akademiker habt ja keine Ahnung von Macht.“ Clarks Stimme klang angewidert. „Aber lassen wir das. Machen wir es kurz. Sie haben es ja richtig erkannt: Sie haben keine andere Wahl.“

Clark machte eine Pause und nahm einen kräftigen Schluck. „Albert, wir kennen uns schon eine ganze Weile, und ich weiß wirklich, dass Sie ein sehr anständiger Mensch sind. Aber glauben Sie mir, dass auch ich keine andere Wahl habe! Wenn wir uns hier und heute nicht einigen, wird diese ganze Angelegenheit ein Nachfolger übernehmen. Mein Nachfolger, verstehen Sie? Und egal, wer es sein wird, er wird Sie nicht so höflich einladen, wie ich es gestern getan habe, sondern Sie einfach rufen, um Ihnen Befehle zu erteilen! Er wird Sie auch nicht belehren, er wird Sie kränken! Und ihm wird es absolut egal sein, ob Sie es verstehen oder nicht. Sie werden sein Untertan sein!“

„Halten Sie mich etwa für einen Exnazi, den man bis ans Ende seines Lebens erpressen kann?“ Von Riddagshausen biss sich kräftig auf die Unterlippe. Aber er empfand keinen Schmerz. „Ich bin nie ein Nazi gewesen, Mister Clark! Niemals!“

„Das weiß ich auch, Albert. Es ist aber auch ziemlich egal, ob Sie einer waren oder nicht. Eins jedenfalls ist absolut sicher: Jeder, der einen Hund unbedingt …“

„… prügeln will, findet auch einen Stock. Ich weiß, Mister Clark.“

„Sehen Sie? Es ist überhaupt keine große Kunst, aus einem Deutschen, der während des Krieges halbwegs erwachsen war, einen bösen Nazi zu machen. Es ist einfach zur Zeit allein euer Problem. Ob Sie es wollen oder nicht.“

Clark ging zum Fenster und sagte: „Es regnet nicht mehr.“

„Gut, reden Sie weiter.“ Albert von Riddagshausen schüttelte den Kopf.

„Sie sind also einverstanden?“

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, lässt sich ihr Angebot ohnehin nicht ablehnen.“

„Gott sei Dank sind Sie vernünftig geworden, Albert. Danke! Sie können sich nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen bin!“

Clark drehte sich um und blieb mit dem Rücken zum Fenster stehen. Er schaute von Riddagshausen nachdenklich an.

„Ich habe Sie doch wirklich gern, Albert, und ich bin auch mit Sicherheit der letzte, der Ihnen etwas antun möchte. Diesmal hatte ich aber tatsächlich keine andere Möglichkeit. Eine Gelegenheit, wie sie uns Fastman mit seinem Besuch verschafft, nicht auszunutzen, würde für meine Arbeitgeber, die Regierung Ihrer Majestät, fast wie Verrat aussehen. Ganz abgesehen davon, dass es auch das absolute Ende meiner Karriere wäre. Einer Karriere, für die ich mein ganzes Leben hart gearbeitet habe! Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem ich mir sicher bin, die größte Chance meines Lebens auf dem Tablett serviert bekommen zu haben.“

Clark griff in seine Jackentasche, als suche er nach einer Bescheinigung, die ihm seine Einschätzung offiziell bestätigte. Aber er schien nicht fündig geworden zu sein, denn er zog seine Hand leer wieder heraus.

„Es ist unsere Chance, Albert, die Welt endlich von der Arroganz der Amerikaner zu befreien. Selbst ein politisch blinder Mensch wird nicht leugnen können, dass wir alle eine schlimme Quittung präsentiert bekommen werden, wenn wir die Amerikaner auf ihrem Weg zur Weltherrschaft nicht stoppen. Gelingt uns dies nicht, wird die Welt an den Rand einer gewaltigen Katastrophe geraten.“

„Wie meinen Sie das?“

„Die Armen setzen uns, die westliche Welt, mit der Welt der Amerikaner gleich. Sie begreifen nicht, dass wir auch nichts anderes als Vasallen der Amerikaner sind. Und bleiben wir doch auf dem Boden, Albert. Es stimmt ja auch! Wir sind es! Uns geht es nur viel besser. Ich meine materiell. Nur materiell …“

„Mister Clark, trotz aller Differenzen zwischen uns während dieser langen Zeit habe ich nie behauptet, dass ich Ihnen in intellektueller Hinsicht überlegen bin. Sie hingegen tun so, als müssten Sie mir eine Lektion erteilen. Sie können davon ausgehen, dass ich mir der Rolle Amerikas in der Welt durchaus bewusst bin. Ob ich nun Ihre individuelle Meinung teile, sei erst mal dahingestellt. Trotzdem möchte ich Sie jetzt dringend bitten, zu dem Auftrag zu kommen.“

Clark verzog leicht sein Gesicht. „Nein, so stimmt das nicht. Ihnen eine Lektion zu erteilen liegt ganz bestimmt nicht in meiner Absicht. Ich bin ja die ganze Zeit dabei, Ihnen den Auftrag zu erklären. Da Ihre Verantwortung bei dieser Angelegenheit sehr groß ist, muss ich mir sicher sein können, dass wir uns tatsächlich auf der gleichen Wellenlänge befinden.“

Er senkte den Kopf und holte tief Luft.

„Also, Albert, Sie müssen unbedingt Fastmans Vertrauen gewinnen. Das geht am besten, indem Sie sich als einen Menschen darstellen, für den es nichts Wichtigeres geben kann als die Lehre der reinen Wissenschaft und der mit der verlogenen Politik nichts zu tun haben möchte.“

„Das dürfte nicht allzu schwer sein“, sagte von Riddagshausen.

„Um so besser: Dann brauchen Sie nicht schauspielern.“ Clark lachte entspannt. Er schien zufrieden zu sein. Er sah auf die Uhr.

„Ich glaube, das reicht erst mal für heute.“

„Wenn wir sowieso schon alles besprochen haben, dann kann ich ja zurück nach Frankfurt fahren, oder? Über die Konzertkarten wird sich bestimmt jemand anderer freuen.“

Clark sah ihn ernst an. „Nein, Professor. Wir müssen noch etwas besprechen. Wir sehen uns also später. Wenn Sie nichts dagegen haben, schlage ich vor, dass wir uns noch mal unten an der Bar oder im Hotelrestaurant treffen, gegen siebzehn Uhr. Dann haben wir etwas mehr als zweieinhalb Stunden Zeit, um uns vor dem Konzert zu unterhalten. Es ist jetzt zwanzig nach elf. Ihr Gast ist sicher gerade mit Ihrer Tochter zu einem Stadtbummel in Frankfurt unterwegs.“

Clark zog seinen Mantel an und holte seinen Regenschirm aus dem Ständer.

„Übrigens, wie geht es Sara eigentlich? Was hat sie denn jetzt nach ihrem Studium vor?“

„Bis später, Clark“, sagte von Riddagshausen, ohne auf die Frage einzugehen.

Nachdem Clark das Zimmer verlassen hatte, ließ von Riddagshausen in seinem Sessel das Gespräch nachklingen. Er sah zum Fenster. Zwischen den trüben Wolken, aus denen es kurz vorher noch so stark geregnet hatte, schien jetzt die Sonne hervor.

Es war ein absolut klares Spiel. Clark musste unbedingt beweisen, dass er die Fäden zog.

Von Riddagshausen wartete fünf Minuten ab, öffnete die Tür und sah sich um. Der Korridor war völlig menschenleer. Er schloss die Tür ab und ging ein Stockwerk höher zum Zimmer 603, dem so genannten Turmzimmer. Das war eine gute Idee, lobte er sich. Er brauchte ein zweites, ganz abgelegenes Zimmer.

Das Turmzimmer schien ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert zu sein. Es war klein und schmal wie ein Waggon, aber sehr gemütlich. Der Professor öffnete die Tür und schlüpfte schnell hinein. Es war genau halb zwölf. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Monikas Büro in Frankfurt.

„Guten Tag, Frau Tegler, von Riddagshausen hier,“ sagte er, „ich hätte gerne mit meiner Frau gesprochen.“

„Ihre Frau hat jetzt eine Besprechung, Herr Professor. Wenn es aber dringend ist, werde ich Sie selbstverständlich verbinden.“

„Nein, nein, nicht nötig! Sagen Sie bitte meiner Frau, dass ich später, gegen dreiundzwanzig Uhr, zu Hause anrufen werde. Ich muss leider noch bis heute Abend in Hannover bleiben und werde gleich morgen früh zurückfahren. Heute wird es wahrscheinlich schon zu spät sein.“

„Das mache ich gern, Herr Professor.“

„Danke, Frau Tegler. Auf Wiederhören .“

Er legte den Hörer auf. Anschließend wählte er die Nummer der Rezeption.

„Bringen Sie mir bitte ein Kännchen Kaffee. Zimmer 603. Danke.“

Er schaltete das Radio ein und suchte den Country–Sender. Er setzte sich in den Sessel. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, ein zusätzliches Zimmer zu nehmen. Beim nächsten Mal würde er es genauso machen. Würde es aber ein nächstes Mal geben? Er schüttelte den Kopf. Norman Clark besaß die Frechheit, ihn zu belehren! Dass Clark je so weit gehen würde, hätte er nie gedacht. Er, Albert von Riddagshausen, der von allen Mitarbeitern und Studenten hoch geschätzte Physiker, sollte sich gegen seinen Willen für die gehasste Politik die Finger schmutzig machen? Damit einer den anderen beherrschen und außerhalb des Gesetzes ungestraft sein Unwesen treiben konnte! Was für einen Unterschied gab es zwischen solchen wie Clark und dem organisierten Verbrechen? fragte er sich. Gar keinen!

David Fastman hatte das Problem der Supraleitfähigkeit bei hohen Temperaturen geknackt. Noch bis vor kurzem hatte es keiner für möglich gehalten. Verständlich, dass jeder jetzt exklusiv darüber verfügen wollte. Schließlich steckte dahinter die Vision eines fast verlustfreien Energietransports zu minimalen Kosten. Wer das Patent für diese Technik besaß, hätte tatsächlich die Macht, sich die ganze Welt untertan zu machen.

Er hörte ein Klopfen an der Tür. Er stand auf und öffnete sie vorsichtig.

Es war der Hotelservice mit dem Kaffee.

„Kommen Sie bitte herein“, sagte von Riddagshausen und zeigte mit der Hand in Richtung des Couchtisches. Der Hotelangestellte stellte das Tablett auf den Couchtisch, verbeugte sich tief und verließ, um zwei Mark Trinkgeld bereichert, das Zimmer.

Von Riddagshausen warf einen Blick auf den Programmfolder des bevorstehenden Konzerts. Swjatoslaw Richter spielte mit dem Chicago Symphony Orchestra das Klavierkonzert Nr. 1 b–Moll von Peter Tschaikowsky. Auch darauf konnte er sich nicht wirklich freuen. Eine Belohnung für die Erniedrigung? Er trank den Rest des Kaffees aus und griff zur Hannoverschen Zeitung. Aber er konnte sich nicht konzentrieren und legte sie wieder weg. Er warf einen Blick durch das Fenster. Draußen schien eine klare Novembersonne. Das richtige Wetter für einen Spaziergang, dachte er und verließ das Zimmer. Es war fast halb eins.

Er ging am Maschsee entlang in Richtung Rathaus und fühlte sich entspannt. Die Rathausuhr zeigte vierzehn Uhr. Eigentlich höchste Zeit, etwas zu essen! Dazu war er aber noch nicht fähig. Nach dem wilden Alkoholkonsum der Nacht kein Wunder. Er überlegte, ob er in ein Café gehen sollte, um noch einen Espresso zu trinken, als er beinahe mit einer jungen Frau zusammenstieß. Sie schien noch überraschter als er zu sein. Sie hatte graue Augen, war blond und recht hellhäutig. Sie zog den Kopf ein, als würde sie sich schämen.

„Oh, entschuldigen Sie bitte“, sagte er verwirrt, und ohne die Antwort abzuwarten, ging er schnell in Richtung Altstadt.

Etwa zehn Minuten später fand er ein italienisches Café und setzte sich ans Fenster. Er bestellte einen Espresso, und nach dem ersten Schluck begann er in aller Ruhe, seine neue Situation zu analysieren. Die ganze Sache war eigentlich nicht so tragisch, wie sie am Anfang aussah, dachte er. Zwar konnte ihm Clark befehlen, seinen Gast auszuspionieren, nie würde er es aber beweisen können, wenn er den Auftrag sabotierte. Und irgendwann würde ihm Clark einfach glauben müssen, dass er nicht mehr aus Fastman herausholen konnte, als sowieso schon bekannt war.

David Fastman … dieser Mensch machte ihm Kopfzerbrechen und weckte dunkle Erinnerungen, die ihn keinen klaren Gedanken fassen ließen. Für einen kurzen Moment zuckte in ihm die Vorstellung auf, sich ihm einfach anzuvertrauen. Doch wie würde Fastman reagieren, wenn er die Hintergründe seiner Auftraggeber erfuhr? Er hielt ihn für sehr sensibel. Das machte ihn nicht nur sympathisch, sondern auch schwer einschätzbar. Das war eben das Risiko bei sensiblen Menschen, dass sie nicht wie ein Schweizer Uhrwerk funktionierten. Deshalb wäre es auch nicht vorhersehbar, wie Fastman das Schicksal der Familie Grundman aufnehmen würde und ob er für seine damalige Handlungsweise Verständnis aufbrächte. Aber eines wusste er: Er würde Clarks Auftrag sabotieren.

In der Schlinge

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