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Kapitel 5
ОглавлениеDavid Fastman saß auf dem Doppelbett und starrte den lindgrünen großen Schrank an. Der konnte ihm aber auch keine Antwort darauf geben, wo die Träume der letzten Nacht hingegangen waren. Ein Traum war noch unbelichtet in der Dunkelkammer seines Bewusstseins zurückgeblieben und drängte danach, belichtet zu werden.
Er rieb sich die Augen und konzentrierte sich darauf, sich an den Traum zu erinnern. Noch einmal rieb er sich die Augen und warf einen vergewissernden Blick auf den lindgrünen Schrank. Er stutzte: Waberte nicht vor ihm eine weiße Nebelwand, die ihn einzuhüllen drohte? Und unterhielten sich dahinter nicht Stimmen?
Plötzlich riss der Nebel auf, und er erkannte seine Eltern und die Mädchen. Es klingelte. Seine Mutter ging zur Tür, um zu öffnen. Es war … Sara. Sie bat seine Mutter um etwas Salz. Seine Mutter fragte Sara, wer sie sei, und Sara wunderte sich, dass seine Mutter sie nicht erkannte. Dann kam Schulze und zog die Waffe. Er wollte alle erschießen. Doch bevor er abdrücken konnte, wurde er selbst erschossen. Aus dem Hintergrund trat eine Frau mit einem Maschinengewehr. Es war Monika von Riddagshausen … Er wollte ihr etwas zurufen, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst, aus seinem Kehlkopf kam nur ein hässlich–krötiger Laut, der den Nebelschleier wie eine Seifenblase zerplatzen ließ.
Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor fünf Uhr morgens. Sein Versuch, wieder einzuschlafen, blieb ohne Erfolg. Er machte die kleine Bettlampe an, nahm eine der letzten Ausgaben des Spiegels vom Nachttisch und begann, lustlos zu lesen. Nach wenigen Minuten merkte er, dass er sich auf kein anderes Problem würde konzentrieren können als auf sein eigenes.
Erst kurz vor zwölf erwachte er wieder. Zwanzig Minuten brauchte er für Zähneputzen, Duschen und Anziehen, dann nahm er erneut die Spiegel–Lektüre auf. Er wunderte sich, wie schlecht die Studenten in der Öffentlichkeit wegkamen, obwohl sie mutig genug waren, gegen den Springer Verlag oder gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren, und dadurch mit der Polizei aneinander gerieten. Besonders zutreffend erschien ihm der Kommentar eines Münchner Anwalts: Für diesen Tarif könnte man im volltrunkenen Zustand einen Menschen totfahren und dann Fahrerflucht begehen. Überall das Gleiche, dachte er, Querdenker werden nirgends geduldet.
Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor eins. Er stand auf, zog seinen Sakko an und verließ das Gästehaus. Um dreizehn Uhr klingelte er wie verabredet an der mächtigen Haustür der Villa.
Sara öffnete die Tür und begrüßte ihn.
„Hallo, David! Komm rein. Hast du gut geschlafen?“
„Eigentlich ja. An eine neue Umgebung muss man sich ja immer erst gewöhnen, aber ich habe mich gut erholt.“
Sie führte ihn in den großen Salon. Die Landschaftsbilder an den Wänden stifteten bei ihm erneut große Unruhe, denn sie riefen die Bilder seiner Kindheit wieder hervor. Wieso gerade diese Bilder? Die sprechen ja kein Deutsch, durch das sie mir bekannt vorkommen würden, dachte er. Aus den Lautsprechern lief klassische Musik, die David sofort erkannte, das 3. Klavierkonzert d–Moll von Rachmaninow. Die pathetischen und traurigen Klänge berührten ihn immer wieder.
„Hallo, Mister Fastman. Schön, Sie zu sehen“, begrüßte ihn Monika lächelnd.
David war so in seine Gedanken vertieft, dass er einen kurzen Moment brauchte, um zu sich zu kommen.
„Guten Morgen, Frau von Riddagshausen. Na ja, guten Morgen ist leicht übertrieben.“
„Oh, machen Sie sich keine Gedanken. Aber wie ich sehe, wirken Sie recht munter, und das trotz der Zeitverschiebung.“
Sie drehte sich zu Sara um.
„Ihr beide habt wohl gut gefeiert. Bis halb zwei war ich selber noch wach. Wann seid ihr eigentlich zurückgekommen?“
Sara blickte David fragend an.
„Um ehrlich zu sein …“
„Ich glaube, es war ungefähr drei Uhr morgens“, unterbrach David sie.
„Ja, Moni. Es war fantastisch. Wir wollten uns die Altstadt anschauen, anschließend trafen wir noch Bekannte von mir, die spontan auf die Idee kamen, mit uns zu feiern. Zwar musste ich David noch ein wenig überreden, aber schließlich hat er dann doch nachgegeben.“
David war immer wieder über das lockere Verhältnis zwischen Sara und ihrer Mutter erstaunt. Sie wirkten wie zwei alte Schulfreundinnen, wenn sie sich miteinander unterhielten.
„Es freut mich, dass ihr euch so gut amüsiert habt. Die Besichtigung der Altstadt könnt ihr ja später noch nachholen.“
„Es war wirklich sehr angenehm, Frau von Riddagshausen. Und das ist ganz ohne Zweifel der Gesellschaft Ihrer Tochter zu verdanken.“
Fastman war sich nicht sicher, ob er mit seiner Höflichkeit nicht übertrieb, und wechselte schnell das Thema.
„Das ist eine der schönsten Ausführungen des dritten Klavierkonzertes d–Moll von Rachmaninow, die ich kenne. Wenn ich mich nicht irre, muss es Vladimir Ashkenazy mit den Londoner Philharmonikern sein, vom Sommer vorigen Jahres, glaube ich.“
Monika zeigte sich überrascht.
„Ja, stimmt tatsächlich! Gefällt Ihnen diese Aufnahme?“
„Allerdings. Musik ist mein zweites Hobby. Fast eine Sucht.“
„Zweites? Und wie heißt dein erstes Hobby?“ wollte Sara wissen.
Fastman lachte.
„Kunst!“
„Nicht Physik?“ fragte Monika etwas verwundert.
„Das ist Pflicht.“
„Aha. Nun gut, das versteh’ ich“, sagte Monika schmunzelnd.
Hinter Monika tauchte die Haushälterin in der Tür zum Esszimmer auf, sichtlich besorgt, nicht zu stören.
„Entschuldigung, Frau von Riddagshausen.“
Monika drehte sich schnell um.
„Oh ja, vielen Dank, Inga. Darf ich Sie zum Essen bitten, Mister Fastman?“ sagte sie und machte eine einladende Handbewegung in Richtung Esszimmer.
Sie nahmen an dem großen Esstisch Platz. Als Vorspeise gab es Kaviar gemischt mit Eiersalat.
„Zum ersten Mal esse ich eine solche Mischung und ich muss sagen, es wird bei mir ab sofort ins Programm aufgenommen. Es schmeckt vorzüglich“, sagte David.
„Diese Mischung hat einen komischen Ursprung. Falls es Sie nicht langweilt …“, sagte Monika von Riddagshausen.
„Nein, bitte erzählen Sie“, forderte David sie auf.
„Während einer Geburtstagsparty für meine Mutter, ich war damals etwa fünf Jahre alt, gab es am Büfett unter anderem Kaviar. Während die Gäste sich mit dem Essen beschäftigten, sagte der jüngere Bruder meiner Mutter, dass er ein schlechtes Gewissen habe, Kaviar in diesen Mengen zu sehen, wo es doch viele Menschen gebe, die nicht mal das Glück hätten, jeden Tag satt zu werden und hungern müssten. Einer der Freunde meines Vaters sagte darauf, dass jeder Mensch seinen Kaviar hätte, er müsse ihn sich aber selbst ausdenken. Dann kam er darauf zu sprechen, wie die armen Juden, er stammte nämlich aus einer sehr armen jüdischen Familie, sich ihren jüdischen Kaviar ausdachten. – Wissen Sie, wie der aussah?“
O ja! David wusste es. Er schüttelte trotzdem den Kopf.
„Es sind gekochte Eier, die man mit kleinen Mengen Butter zerkleinert und mit ganz fein gehackten Zwiebeln mischt. Daraufhin hat sich mein Vater entschlossen, beim nächsten Mal die gekochten Eier auch mit Butter zu zerkleinern und statt Zwiebel den echten Kaviar beizumischen. Und alle, die es probiert hatten, waren so begeistert, dass es schließlich zur Tradition unseres Hauses wurde.“
Inga servierte die Maronensuppe mit saurer Sahne.
Ja, sein Vater konnte den besten jüdischen Kaviar zubereiten, der sich denken ließ. Er dachte an Nella und Anita, die sich immer freuten, wenn Mutter leise verkündete, Vater sei dabei, Eier zu kochen und Zwiebeln zu schneiden.
Plötzlich tauchte der Traum aus der letzten Nacht wieder auf und nahm so sehr von seinen Gedanken Besitz, dass er nicht einmal merkte, dass er mit der Suppe schon fertig war. Erst als er hörte, wie sein Löffel laut gegen den leeren Teller stieß, kehrte er zurück in die Gegenwart.
„Entschuldigung, ich war eine kurze Weile mit meinen Gedanken woanders.“
„Vielleicht sollten wir auch das Thema wechseln, Mister Fastman“, sagte Monika leise. Sie schien sich zu schämen, was David sehr unangenehm war.
„Nein, es hat nichts mit dem zu tun, was Sie gesagt haben. Aber in solchen Situationen wird mir wieder deutlich, dass ich mit der Vergangenheit noch nicht fertig bin.“
Für einen Moment dachte er, er hätte die Kontrolle über sich verloren und sich selber verraten. Er durfte auf keinen Fall die Situation weiter anspannen.
Sara sah ihn mit großen fragenden Augen an. In diesem Moment dachte er, dass es ein Fehler war, zu persönlich zu reagieren. Seine Unsicherheit begann ihn langsam zu kränken, und er spürte, wie in ihm Schuldgefühle hochstiegen. Auch Monika schien verwirrt zu sein.
„Um Sie aber nicht weiter zu beunruhigen, möchte ich Ihnen sagen, dass ich sehr gerne über dieses Thema sprechen würde. Außerdem habe ich Ihrer Tochter bereits versprochen, etwas über mich zu erzählen.“
„Das würde natürlich auch mich sehr interessieren“, sagte Monika schüchtern.
Inga servierte den dritten Gang. Rinderfilet mit Pfifferlingen, auf Weißbrot gebacken. Auch das eine neue kulinarische Erfahrung, die Fastman sehr genoss. Nach dem Essen bat Sara Inga, das Dessert und den Kaffee im Salon zu servieren.
„Willst du tatsächlich über diese schrecklichen Zeiten reden, David?“ fragte Sara, als sie im Salon saßen.
„Es geht, ehrlich gesagt, nicht um das Wollen. Ich glaube vielmehr, dass ich dich vielleicht verletzt habe. Ohne Absicht! Aber trotzdem …“
Sara stutzte.
„Doch, doch. Als du mich fragtest, ob ich Deutscher wäre oder mich als Deutscher empfände, fühlte ich mich plötzlich total überfordert.“
„Man muss zugeben, dass das wirklich eine sehr interessante Frage ist“, sagte Monika und sah ihm direkt in die Augen. „Irgendwie kann ich mir das nämlich nicht vorstellen.“
Jetzt durften ihm auf gar keinen Fall seine Emotionen einen Streich spielen. Jetzt war ausschließlich seine Intelligenz gefragt. Monika von Riddagshausen schien hoch intelligent zu sein. Er wusste nicht, was sie vorhatte. War sie tatsächlich so gegen die Nazis engagiert, wie Sara es darstellte? In ihrem Vater sah Sara ja auch einen Nazigegner. Einen Helden sogar. Und trotzdem war die Wahrheit eine ganz andere. Er hatte Davids ganze Familie auf dem Gewissen. War seine Frau damals eigentlich auch im Geschäft gewesen? Sie war schließlich Heinrich Schulzes Ehefrau! Wusste sie es? Ja, sie musste es wissen! Sara wurde ja dreiundvierzig geboren. Und damals hieß Albert von Riddagshausen noch Heinrich Schulze!
„Um diese Frage beantworten zu können, müssten wir erst mal eine präzise Antwort auf die Frage finden, was es eigentlich bedeutet, Deutscher zu sein. Geht es dabei um die Zugehörigkeit zu einer Nation? Dann muss auch dieser Begriff definiert werden. Ich möchte Sie jetzt nicht unbedingt mit meiner Meinung zu diesem Thema langweilen …“
„Damit langweilst du uns nicht! Wir wissen doch, dass du als Physikgenie giltst. Dann wirst du sicher verstehen, dass es für jeden, der sich mit dir unterhält, sehr interessant sein muss, deine Meinung zu hören. Egal, zu welchem Thema.“
„Um es kurz zu machen und Ihre Frage zu beantworten … Ich denke schon, dass ich Deutscher bin. Hier sind meine Wurzeln. Das habe ich gestern zwar zum ersten Mal in meinem Leben gesagt, aber ich wiederhole es heute, weil ich der Meinung bin, dass es stimmt.“
„Sagten Sie nicht vorher, Sie seien Jude?“
Monika hatte ihn keinen Moment aus den Augen gelassen.
„Ist das keine Nationalität?“
„Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, Frau von Riddagshausen. Meiner Meinung nach ist es keine Nationalität.“
Diesmal wich er ihrem Blick nicht aus. Er wusste zwar noch nicht, worauf sie hinauswollte, trotzdem war ihr Blick ihm nicht unangenehm. Zumindest schien sie sehr interessiert zu sein.
„Ist es eine Religion?“
„Um Gottes willen, nein, Frau von Riddagshausen! Es gibt schließlich auch ungläubige Juden!“
„Was dann?“ fragte sie überrascht.
„Schicksal, Frau von Riddagshausen.“
David sah Monika tief ins Gesicht.
„Der Staat Israel ist der beste Beweis dafür. Dort leben Juden, die genau so verschieden sind wie alle Völker auf der Welt. Dort leben Amerikaner neben Russen, hoch ausgebildete Wissenschaftler neben absoluten Trotteln und religiöse Fanatiker neben vollkommenen Atheisten. An dieser Stelle könnte ich wirklich alle möglichen Kontraste aufzählen. Das Einzige, was diese Leute verbindet, ist ihr Schicksal. Welches andere Schicksal verbindet aber die Juden stärker als der Antisemitismus? – Doch Sie wollten mir etwas von diesen schrecklichen Zeiten erzählen, und ich rede so viel. Viel zu viel, würde ich sagen. Bitte, Frau von Riddagshausen, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe.“
„Sie waren acht, als Sie Deutschland verließen, nicht wahr?“
„Ja, ich wurde 1935 geboren.“
„Meine Familie hat damals vielen Verfolgten geholfen. Übrigens haben sie dafür mit dem Leben bezahlt. Bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch. Ich will jetzt nicht mich und meine Familie in ein gutes Licht stellen …“
Monikas Stimme schwankte.
David war sprachlos.
„Monika hat noch schwer mit dieser Zeit zu kämpfen“, sagte Sara und reichte ihrer Mutter ein Taschentuch.
Ihre Reaktion verwirrte ihn erneut. Monika von Riddagshausen war schließlich die Ehefrau von Heinrich Schulze, einem Kriegsverbrecher. Gleichzeitig aber erzählte sie, damals vielen Juden geholfen zu haben, und stellte ihre Familienmitglieder sogar als Märtyrer dar.
„Erzählen Sie weiter, Frau von Riddagshausen. Bitte! Ich selbst hätte ohne den Einsatz einer solchen Familie auch nicht überlebt …“
Er wurde von der Haustürklingel unterbrochen.
Sara erhob sich.
„Das sind zwei Freundinnen von mir“, erklärte Monika. „Wir treffen uns jeden Freitag um sechzehn Uhr. Diesmal bei mir. Ich vergaß, das heutige Treffen abzusagen. Es tut mir Leid. Wir müssen unser Gespräch verschieben. – Wo lebt die Familie, die Ihnen damals geholfen hat, jetzt eigentlich?“
„Sie sind alle kurz vor Kriegsende umgekommen“, sagte David. „Ich danke Ihnen vielmals für das fantastische Essen. Ich gehe jetzt zu meiner Bleibe. Ich möchte nicht stören, Sie haben ja Besuch.“
David wollte aufstehen.
„Aber nicht doch“, wehrte Monika ab. „Sie können hier bleiben, falls Sie sich mit Sara noch unterhalten möchten. Das Haus ist groß genug. Ich werde meine Gäste in der Bibliothek empfangen.“
„Hättest du nicht Lust, in die Stadt zu gehen, David?“ fragte Sara, als sie in den Salon zurückkehrte und ihre Mutter sich mit ihren Freundinnen in die Bibliothek zurückgezogen hatte.
„Ja“, antwortete er. „Wieso nicht?“