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Die Gründung der Velvet Underground

Lower East Side: 1965

„Im Allgemeinen werden die besten Dinge durch begabte Menschen hervorgebracht, die in einer Gruppe zusammen­arbeiten; man arbeitet besser, wenn man die Arbeit mit Gefährten teilt und sich von den unterschiedlichen Ideen, Vergleichen und dem gegenseitigen Wetteifer beflügeln lässt.“

— Henry James

Durch die Arbeit bei Pickwick lernte Lou den Mann kennen, mit dem er die wichtigste und längste Zusammenarbeit seines Lebens eingehen sollte: nämlich John Cale. Eines Tages im Januar 1965 hatte Lou, ohne auf seine Hepatitis Rücksicht zu nehmen, eine beträchtliche Drogenmenge zu sich ge­nommen. Als er die Welle kreativer Inspiration herannahen fühlte, blätterte er durch Eugenia Sheperds Kolumne in einer lokalen Stadtteilzeitung und stolperte dabei über das Thema „Straußenfedern“, die angeblich der letzte Schrei in der Mode seien. Hastig warf er das Blatt auf den Boden und griff zu seiner Gitarre, angetrieben von der überdrehten Stimmung, in der seine Arbeit häufig entstand. Spontan brachte Lou den Song „The Ostrich“ zu Papier, in dem ein völlig verrückter, neuer Sommertanz beschrieben wird. Dabei musste der eine Tänzer seinen Kopf auf den Boden legen und sein Part­ner darauf treten, hieß es in dem Song. Was hätte besser zu Lous Image passen können, als mit so einer verdrehten Idee anzukommen, außer vielleicht die Variante, dass sich die Tänzer gegenseitig Elektroschocks verpassen?

Obwohl es eher unwahrscheinlich erschien, dass selbst die größten Rockfans, die damals den Twist und den Frug tanzten, Geschmack an dieser masochistischen Idee finden würden, war Schupaks Partner, Terry Phillips, der verzweifelt nach einem Hit suchte, um seine Behauptung, Rock sei ein Zukunftsmarkt, zu belegen, sofort Feuer und Flamme dafür. Womöglich war das der Single-Hit, nach dem sie suchten. Mit der durchgedrehten Vorstellung im Kopf, wie Millionen von Kids in ganz Amerika sich gegenseitig auf die Köpfe sprangen (er war seiner Zeit um zehn Jahre voraus), gelang es diesem Andrew-Oldham-Verschnitt (der Produzent der Rolling Stones, der genauso jung und unerfahren war), die führenden Rockmanager von Pickwick International dazu zu bringen, dass sie seinem Vorschlag, „The Ostrich“ als Single herauszubringen, zustimmten. Das Ganze sollte von einer Band namens The Primitives eingespielt werden. Als die Platte herauskam, erhielten sie einen Anruf von einer TV-Dance-Show, die – sehr zu ihrer Überraschung – darum bat, die Band möge „The Ostrich“ einmal vorführen. Phillips, ganz versessen darauf, dass sein Projekt einschlug, überzeugte die Leute von Pickwick davon, dass er nun eine echte Band zusammenstellen musste, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Lewis, gut aussehend und noch ein wenig pubertär, schien ihm genau der richtige Sänger zu sein. Von den anderen Musikern war er weniger begeistert, denn sie hatten nicht das Aussehen, das die Teenies dazu brachte, ihre paar Dollars für „The Ostrich“ auszugeben. Wild darauf, die Band auf Tournee zu schicken, machte sich Phillips auf die Suche nach einer Begleitband für Lou.

Von den Pickwick-Studios aus schlug die Geschichte also einen Bogen zu Terry Phillips, der in einer Wohnung in der Upper East Side mit einem Haufen von teiggesichtigen Dauerpartybesuchern zusammengequetscht war, die alles Mögliche eingepfiffen hatten und versuchten, cool zu sein, obwohl sie von nichts eine Ahnung hatten. Zwischen ihnen verborgen, sehr amüsiert und irgendwie über den Dingen stehend, befand sich auch das ungleiche Gespann, das aus einem grobknochigen Waliser mit sonorer Stimme namens John Cale und seinem Partner und Zimmergenossen, dem klassischen nervösen Szenetyp Tony Conrad bestand. Beide waren Anfang zwanzig und trugen für die damalige Zeit eher unmodisch langes Haar; Cale studierte klassische Musik, Conrad war ein Underground-Filmemacher, und beide waren Mitglieder der avantgardistischsten Musiktruppe, die es Mitte der Sechziger gab: LaMonte Youngs Theater of Eternal Music. Auf der Suche nach weiblicher Gesellschaft und etwas Abwechslung hatte es sie auf diese Party verschlagen, auf die sie vom Bruder des Bühnenautors Jack Gelber, der kurz zuvor ein berühmtes Stück über Heroin namens The Connection herausgebracht hatte, mitgenommen worden waren. Als Terry Phillips diese ziemlich attraktiven und leicht exzentrisch aussehenden Typen erblickte, fragte er sie auf der Stelle, ob sie Musiker seien. Als die Frage bejaht wurde, hielt er es für selbstverständlich, dass sie Gitarre spielten (in Wirklichkeit spielte Cale eine elektrisch verstärkte Bratsche und mehrere indische Instrumente), und fragte nur noch: „Und wo ist der Schlagzeuger?“

Die beiden Avantgardekünstler, die ihre Arbeit sehr ernst nahmen, gingen mehr aus Spaß auf Phillips’ Frage ein und behaupteten, sie hätten einen Schlagzeuger, um die Gelegenheit, ein bisschen Taschengeld nebenher zu verdienen, nicht in den Wind zu schlagen.

Am nächsten Tag erschienen sie, zusammen mit ihrem guten Freund Walter DeMaria, der bald einer der führenden avantgardistischen Bildhauer werden würde und nebenher ein bisschen Schlagzeug spielte, in den Pickwick-Studios.

Cale, Conrad und DeMaria fanden den ganzen Bluff der Pickwick-Studios unheimlich witzig. Die in Polyesteranzügen auftretenden Pickwick-Manager, die ihnen höchst verdächtige Verträge in die Hände drückten, kamen ihnen wie lachhafte Karikaturen der typischen Rockmoguln vor. Bei näherer Betrachtung, so erinnerte sich Conrad, ergab sich aus den Verträgen, dass sie mit ihrer Unterschrift die kreativen Erträge ihres Lebens weggegeben hätten, ohne irgendetwas dafür zu erhalten. Nachdem sie diesen Versuch, sich vertraglich zu einer Ergebenheit zu verpflichten, die mehr an Sklaverei als an normale Geschäftsbedingungen erinnerte, beiseite gefegt hatten, wurden Cale, Conrad und DeMaria Lou Reed vorgestellt. Er versicherte ihnen, dass sie ihre Parts von „The Ostrich“ sehr schnell lernen würden, da alle Gitarrensaiten auf einen Ton gestimmt seien. Diese Information erstaunte John Cale und Tony Conrad so sehr, dass sie mit offenem Munde stehen blieben, denn das entsprach genau dem, was sie bei den rigorosen, täglich acht Stunden dauernden Proben bei LaMonte Young taten. Es wurde ihnen klar, dass Lou eine Art angeborenen genialen musikalischen Verstand hatte, der sogar die Studiomanager beeindruckte. Tony hatte den Eindruck, dass „zwischen Lou und den Leuten bei Pickwick eine enge Beziehung bestand, denn sie hatten erkannt, dass Lou sehr viel Talent besaß. Er beeindruckte alle durch seine dominante Persönlichkeit.“

Cale, Conrad und DeMaria erklärten sich bereit, bei The Primitives mitzuspielen und an der Ostküste aufzutreten, um Werbung für die Platte zu machen. Für sie war es in erster Linie eine Art Dummerjungenstreich, aber es verhalf ihnen gleichzeitig zu einem gewissen Einblick in die Welt der kommerziellen Rockmusik, an der sie nicht gänzlich uninteressiert waren.

Und so kam es, dass sich Lou Reed und John Cale bei ihrem ersten gemeinsamen Auftritt wieder fanden, als sie, ohne vorher geprobt zu haben, auf die Bühne einer Highschool in Pennsylvanias Lehigh Valley rannten, nachdem sie von einer bellenden Stimme angekündigt worden waren: „Und jetzt sind sie hier – aus New York – The Primitives!“ Die Band sah sich einer Wand schreiender Kids gegenüberstehen und legte sofort mit „The Ostrich“ los. Am Ende des Songs schrie der DJ, ziemlich ahnungsvoll: „Die Jungs haben ja wirklich was Irres! Ich hoffe, es ist nicht ansteckend!“

Aber weit davon entfernt, ansteckend zu sein, starb „The Ostrich“ eines schnellen Todes. Nachdem sie einige Wochenenden lang in einem Kombi durch die Provinz gejagt waren und einen Vorgeschmack auf den Rockalltag ohne Roadies erhalten hatten, packte die Band ein. Trübselig ließen Terry Phillips und die Manager von Pickwick ihre Träume vom Aufstieg des „Ostrich“ in die Hemisphäre der Charts dahinsausen und wandten sich wieder der verlässlicheren Welt des Jack Borgheimer zu.

Der Versuch dieser Neuorientierung hatte aber trotzdem seine Auswirkungen; zuerst einmal begegnete Lou John, der ihn mit einer völlig neuen musikalischen Welt in Berührung brachte. Tatsache war, dass Lou, wie viele kreative Menschen, nur eine niedrige Toleranzschwelle für Lange­weile hatte und nun erkannte, dass die Visionen von Terry Phillips für ihn zu engmaschig gestrickt waren, um sich entfalten zu können.

Als Lou anfing, John Cale in seiner ärmlichen, bohemeartigen Unterkunft in der Ludlow Street 56 im Herzen der Lower East Side von Manhattan zu besuchen, wusste er nichts von LaMonte Young oder dessen Theatre of Eternal Music. Er hatte keine Vorstellung von der Welt, die er jetzt betrat. Im Einklang mit den verschiedenen egozentrischen Facetten seiner Persönlichkeit, die er seit seiner Zeit in Syracuse für Lyrik, Musik und Boheme entwickelt und kultiviert hatte, interessierte sich Lou nur für seine eigenen Probleme und zeigte zuerst wenig Interesse für alles, womit John sich beschäftigte. Stattdessen machte sich der Rock ’n’ ­Roller daran, den klassischen Musiker zu verführen.

Was Cale anging, so war er beeindruckt von Reeds Rock’n’Roll-Persönlichkeit und den wenigen Texten, bei deren spontaner Entstehung er dabei gewesen war, aber er verhielt sich gegenüber Reeds anfänglichen Versuchen, eine Freundschaft und Zusammenarbeit aufzubauen, in gewisser Hinsicht arrogant. „Er versuchte, eine Band auf die Beine zu stellen“, sagt Cale. „Ich wollte seine Songs nicht hören. Sie waren voller Selbstmitleid. Er hatte bereits ‚Heroin‘ geschrieben und ‚I’m Waiting For The Man‘, aber sie ließen es ihn nicht aufnehmen, sie wollten nichts damit zu tun haben. Ich war nicht wirklich interessiert – die meiste Musik, die damals geschrieben wurde, war Folk, und er spielte seine Songs mit einer akustischen Gitarre – ich hörte gar nicht erst hin, Folkmusik war mir völlig schnurz. Ich hasste Joan Baez und Bob Dylan. Jeder Song war eine bescheuerte Frage!“

Obwohl er als musikalisches Wunderkind gegolten hatte und bei einigen der wichtigsten Avantgardekomponisten des Jahrhunderts studiert hatte, noch bevor er fünfundzwanzig Jahre alt war, hatte Cale 1965 das Gefühl, dass seine Karriere stecken geblieben war. „Ich befand mich mit meinen Ideen über klassische Musik in einem Elfenbeinturm“, sagt er. Er war verzweifelt auf der Suche nach einer Perspektive, von der aus er sich mit Musik neu auseinander setzen konnte. Dieses Gefühl wurde auch von seiner Familie geteilt, die ihn zusätzlich mit der Forderung, sich einen Job zu suchen, unter Druck setzte. Genau wie Lous Mutter beschwerte sich auch Mrs. Cale, eine Lehrerin, die in einem kleinen walisischen Berg­arbeiterdorf lebte und mit einem Bergarbeiter verheiratet war, dass John niemals davon würde leben können, Musiker zu sein, und deswegen besser Arzt oder Anwalt werden sollte.

Wie ein Bullterrier, der einen am Hosenbein zieht, so verfolgte Lou John. Er spürte intuitiv, dass der Waliser ein notwendiger Katalysator für seine Musik sein könnte. Nach und nach setzte sich Lou durch, und Cale begann, Lous Texte ernst zu nehmen. „Er hielt sie mir ständig unter die Nase“, erinnert sich Cale. „Und schließlich habe ich gesehen, dass es nicht unbedingt die Texte waren, die Joan Baez singen würde. Sie waren ganz anders, er schrieb über Dinge, über die sonst niemand schrieb. Die Texte waren sehr literarisch, gut geschrieben – und sie waren hart.“

Als John verstanden hatte, was Lou tat – seiner Meinung nach ein schriftstellerisches Äquivalent zum Method-Acting –, sah er die Möglichkeit zu einer Zusammenarbeit, die etwas Neues, Erregendes schaffen würde. Er überlegte, dass die Kombination von Youngs Theorien und seiner Technik mit Lous Potenzial als Texter ihn aus dem kreativen Tief herausreißen würde, in das ihn die rigiden Studien hineingetrieben hatten. Und Lou brachte John auch mit dem Kennzeichen jeglicher Rockmusik in Berührung: Spaß. Sein jugendlicher Enthusiasmus war ansteckend. „Wir kamen zusammen und fingen nur so aus Spaß damit an, meine Songs zu spielen“, erinnert sich Lou. „Es war, als seien wir füreinander gemacht. Er kam von der anderen Seite der Musik her, und er passte perfekt zu mir. Die Sachen, die er spielte, passten perfekt in meine Welt, es war ganz selbstverständlich.“

„Lous musikalisches Konzept war meinem eigenen sehr nahe“, stimmt Cale zu. „Da war auch etwas in ihm, das über das bloße Rock-Einerlei hinausging. Ich fand, dass seine Texte eine überragende literarische Qualität hatten, die mich faszinierte – er hatte ein sehr gutes Ohr und war sehr vorsichtig mit den Worten. Ich kannte mich zu der Zeit mit Rockmusik überhaupt nicht aus, daher richtete sich mein Interesse mehr auf den literarischen Aspekt.“ Cale begeisterte sich so für die Beziehung, dass er damit begann, Lou von Pickwick fern zu halten.

Cale fing direkt damit an, die Songs mit Reed musikalisch ­auszuarbeiten, wobei die beiden Männer sich gegenseitig mit ihren neuen Ideen anfeuerten. „Lou ist ein erstklassiger Gitarrist“, sagt Cale. „Wirklich Spitze. Es hat weniger mit seiner Technik als mit der Art zu tun, wie er spielt. Und dann besaß er das Gespür, mit Worten umzugehen, er konnte Songs improvisieren, das war großartig. Text und Melodie. Nimm einen Akkordwechsel und tu’s einfach.“ Cale war als Musiker nicht weniger aufregend. Da er keine Vorbilder aus der Rockmusik hatte, an denen er sich hätte orientieren können, beantwortete er Reeds Klangattacken mit unerwarteten, das Thema umkehrenden Bassfiguren oder seiner Bratsche mit dem charakteristischen sägenden Klang, die, so sagte er, „sich wie ein Düsentriebwerk anhörte“.

Als er dann Lou allmählich besser kennen lernte und dieser auf die Elemente zu verzichten begann, aus denen er sich seine Legende zurechtgebastelt hatte, entdeckte John, dass es noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen ihnen gab, „nämlich“, wie Lou mit gespielter Scheinheiligkeit gesteht, „Dope“. Reed riss gern lockere Witzchen über ihren Heroin­konsum, und er behauptete, dass er und Cale bei ihrem ersten Treffen nur deswegen miteinander Musik gemacht hätten, „weil es sicherer war, als mit Dope zu dealen“. Lou gab zwar unumwunden zu, dass er Heroin nahm, bestand aber darauf, dass er niemals davon abhängig war, was seine Freunde auch eher bestätigen. „Ich war niemals heroinsüchtig. Ich hatte zwar den Fuß in der Tür, weit genug, um in den Tunnel hinein­sehen zu können und den Strudel zu erkennen. So bin ich mit meinen Problemen umgegangen. So bin ich groß geworden, so hab ich’s gemacht, wie ein paar hunderttausend andere auch. Man muss eine echte Kanalratte sein, um den richtigen Ausgang zu finden.“

Während er so offen über seinen Drogenkonsum nachdachte, ließ Reed aber auch keinen Zweifel daran, dass Drogen für ihn eine Art Schutzschild darstellten, das er für sein Leben und seine Arbeit benötigte. „Ich nehme Drogen, weil man im zwanzigsten Jahrhundert, in diesem technologischen Zeitalter, in der Großstadt bestimmte Drogen nehmen muss, wenn man so normal wie ein Höhlenmensch bleiben will“, erzählte er. „Nicht um von Speed oder Downern abhängig zu werden, sondern um ein gewisses Gleichgewicht halten zu können, muss man bestimmte Drogen nehmen. Man kommt davon nicht irgendwie drauf, sondern man ist einfach ganz normal.“

Obwohl die Einnahme von Drogen in der künstlerischen Gemeinschaft von Cales Lower-East-Side-Wohnung recht verbreitet war und akzeptiert, ja direkt gepriesen wurde, hatte Heroin doch das Stigma, dass es zur Abhängigkeit führte, gefährlich war und außerdem zerstörerisch wirkte. Leute, die Heroin nahmen, behielten das im Allgemeinen für sich. Deswegen fühlten sich Cale und Reed nicht nur durch ihre musikalischen Vorstellungen und ihre jugendliche Anarchie miteinander verbunden, sondern auch durch die heimliche Gemeinschaft, die ihr Heroinkonsum hervorrief. Das Gefühl einer besonders vertrauten Intimität, das durch den Drogenkonsum hervorgerufen werden kann, gab ihrer Freundschaft einen besonderen Glanz.

Neben ihrer aufregenden musikalischen Zusammenarbeit und den vielen Gemeinsamkeiten schlossen Lou und John bald eine starke, tiefe Freundschaft. Lou verbrachte einen Großteil seiner freien Zeit bei John. Es dauerte nicht lange, da blieb er wochenlang dort, ohne daran zu denken, nach Freeport zu seinen Eltern zurückzukehren. Schon seit einiger Zeit hatte Lou restlos genug von seinen Eltern; er versuchte, ihnen unter allen Umständen aus dem Weg zu gehen, kam nur nachhause, wenn er Geld, Essen oder saubere Wäsche brauchte oder wenn er sehen wollte, wie es seinem Hund ging. Sogar seine Beziehung zu Pickwick lockerte sich durch den Zauber der Lower East Side und des Rock’n’Roll-Lebens­gefühls, das sie vermittelte. „Lou war ein richtiges Rock ’n’ Roll Animal und turnte wirklich jeden an“, erinnert sich Tony Conrad. „Er konzentrierte sich völlig darauf, und sein Lebensstil war dem ganz und gar angepasst.“

Cale war als Persönlichkeit mindestens so schwer einzuschätzen wie Reed. Auch er war launisch und paranoid, ebenso schnell gelangweilt und ständig auf der Suche nach etwas Neuem. John verfügte über eine ungezügelte Energie und war nicht nur in der Lage, Lous musikalischen Explosionen zu folgen, sondern sorgte auch für eine kreative Atmosphäre und so etwas wie eine geistige Heimat. Conrad fand, dass „Lou auf John definitiv eine befreiende Wirkung ausübte, aber John war auch eine unglaubliche Persönlichkeit. Er war sehr idealistisch, und zwar in dem Sinn, dass er selbst hinter das zurücktrat, woran er interessiert war und woran er ganz intensiv glaubte. John bewegte sich sehr, sehr schnell weg von seinem klassischen Musikhintergrund durch die Avantgarde in die Performancekunst und dann in die Rockmusik.“

Die Beziehung zwischen John und Lou vertiefte sich schnell, und es dauerte nicht lange, bis sie darüber nachdachten, wie man Lou aus Freeport herausbekommen könnte, wo er noch immer, unter den missbilligenden Blicken seiner Eltern, lebte. Lou wollte unbedingt, dass sich etwas an dieser Situation änderte. „Ich zog aus, also war mehr Platz in der Wohnung, und John fragte ihn, ob er mein Zimmer haben wollte“, erzählt Conrad. „Lou zog also ein, und das war großartig, denn auf diese Weise ­hatten wir ihn aus dem Haus seiner Mutter herausgeholt.“

„Wir hatten einander wenig zu sagen“, berichtet Lou über die auseinander brechende Beziehung zu seinen Eltern. „Ich war losgezogen und hatte das Schlimmste getan, was man sich damals überhaupt nur vorstellen konnte – ich spielte in einer Rockband. Damit war ich für sie natürlich so etwas wie ein Außerirdischer.“

Das abgefahrene Haus in der Ludlow Street trug wesentlich dazu bei, John und Lou aneinander zu binden. Schon seit einiger Zeit waren hier viele kreative Köpfe zu Gast, wie zum Beispiel Jack Smith und Piero ­Heliczer. Als Lou einzog, wohnte ein exzentrischer, aber findiger Schotte namens Angus MacLise nebenan, der häufig bei LaMontes Truppe am Schlagzeug saß. Cales Wohnung war wie ein L geschnitten, und wenn man eintrat, befand man sich direkt in der Küche, in der auch eine selten benutzte Badewanne stand. Dahinter lagen das kleine Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer. Die Wohnung war nur spärlich eingerichtet, mit Mat­ratzen auf dem Boden und Obstkisten, die gleichzeitig als Mobiliar und Feuerholz dienten. Nackte Glühbirnen beleuchteten die dunklen Räume, von deren Wänden Farbe und Gips bröckelten. Es gab weder Heizung noch warmes Wasser, und der Hauswirt kassierte die Miete, die dreißig Dollar betrug, mit dem Gewehr ein. Aber für Lou war es das Paradies. Als es während der ersten Monate, in denen er dort lebte – im Februar und März 1965 – kalt wurde, rannten sie hinunter auf die Straße und organisierten sich ein paar Holzkisten, um sie in den Ofen zu werfen; oft saßen sie zusammengekrümmt über ihren Instrumenten und hatten sich Teppiche über die Schultern gelegt. Als die Toilette verstopft war, warfen sie die Scheiße aus dem Fenster. Um bei Kräften zu bleiben, kochten sie riesige Portionen Porridge oder buken dubiose Gemüsepfannkuchen, und sie stopften diesen Fraß tagein, tagaus in sich hinein, als handle es sich dabei um Kraftfutter.

Lou korrespondierte mit Delmore Schwartz, wobei er diesen in dem Glauben wiegte, er sei immer noch auf dem Weg, sein innerstes Wesen in Worte zu kleiden. „Seit ich nach New York zurückgekommen bin, habe ich einige sonderbare Erfahrungen gemacht, krank, aber eigenartig und sogar faszinierend, ja manchmal auch höchst erhellend, heilsam und hilfreich …“, schrieb Lou in einem Brief Anfang 1965, kurz nachdem er nach New York City umgezogen war. „In NY leben so viele traurige, kranke Leute, und ich habe eine Schwäche dafür, sie kennen zu lernen. Sie versuchen, einen runterzuziehen. Wenn man schwach ist, dann bietet einem NY viele Ventile. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, neugierig zuzuschauen, einiges auszuprobieren, manchmal teilzunehmen und manchmal bis an die Grenze vorzustoßen, vor der man aufhören muss. Man erkennt die eigene Lasterhaftigkeit und den irren Drang, zu töten; schlimmer noch ist die Gelegenheit dazu, die einem geboten wird, es ist sicher interessant. Nein, interessant ist nicht das richtige Wort.“

Die harte Seite der Lower East Side brachte Lou wirklich auf Trab. Ihre Wohngegend war der Lehm, aus dem sich, wie Allen Ginsberg sagte, „die apokalyptische Sensibilität, das Interesse an mystischer Kunst, die Randerscheinungen, der Müll der Gesellschaft entwickelte“. Lou entdeckte Johns asketische, aber dennoch wuchernde Stadtlandschaft der Lower East Side, mit einer Bevölkerung, die Jack Kerouac als gleich denkende Bodhisattwas beschrieb, und er stellte fest, dass er in den Fuß­spuren von Stephen Crane wandelte (der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts direkt von der Syracuse University hierher gekommen war, um Maggie, A Girl Of The Streets zu schreiben, und der einem Freund berichtete, „der Sinn einer Stadt ist der Krieg“), von John Dos Passos, e. e. cummings und, als vorerst Letzte, den Beats. Reed hätte tatsächlich ebenso gut den Seiten von Howl, einem Buch von Allen Ginsberg, entsprungen sein können, denn auch er sollte, genau wie die Hauptfigur des Dichters, „seinen Körper jede Nacht mit Träumen, mit Drogen, mit wachen Albträumen, Alkohol, Schwänzen und endlosen Orgien ins Fegefeuer schleudern“. Besonders wichtig war es, dass die Bewohner der Ludlow Street mit Lou das Gefühl teilten, die Gesellschaft sei ein Gefängnis des zentralen Nervensys­tems, dem sie ihre eigenen Erfahrungen jederzeit vorzogen. Die Begabtes­ten von ihnen, wie John und Lou, waren in der Lage, ihre Erfahrungen künstlerisch auszudrücken und dadurch etwas Neues entstehen zu lassen. Freunde, die vom College zu Besuch kamen, trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, wie Lou lebte, aber unter all diesen Drogensüchtigen und apokalyptischen Künstlern fand Lou zum ersten Mal in seinem Leben ein echtes intellektuelles und geistiges Zuhause.

Als er anfing, mit Cale seine ausdrucksvolle Lyrik in dynamische Sinfonien umzuwandeln, zog er auch John allmählich in seine Welt hinein. John fand Lou als Mitbewohner faszinierend, gelegentlich aber auch gefährlich. Beide standen im Bann der Sprache der Musik und der permanenten Ausdrucksmöglichkeit von Grenzerfahrungen. „In Lou hatte ich nicht nur jemanden gefunden, der sich künstlerisch ausdrücken konnte, sondern auch jemanden mit dem richtigen Gespür für das, was draußen passierte“, erinnert sich John Cale. „Ich war scharf darauf, von ihm zu lernen, ich hatte immer sehr behütet gelebt. Er verpasste mir eine kurze, harte Erziehung. Er war damals damit beschäftigt, einige seiner persönlichen Teufel auszutreiben, und vielleicht habe ich ihn dazu benutzt, einige meiner Teufel zu exorzieren.“

Mit John im Schlepptau machte Lou in einer Bar einmal die Bekanntschaft eines Betrunkenen und stellte diesem plötzlich, John zufolge, nachdem er ihn in eine freundschaftliche Unterhaltung verwickelt hatte, die erstaunliche Frage: „Würdest du gern mit deiner Mutter ins Bett gehen?“

John erinnert sich gut an diese Seite von Lou während seiner ersten Zeit in der Ludlow Street und meint dazu: „Von Anfang an fand ich Lou erstaunlich, jemand, von dem ich viel lernen konnte. Er hatte dieses besondere Talent zu schreiben. Er war herumgekommen, und er war sicherlich voller Narben. Aber er konnte auch sehr witzig sein, obwohl er gern mit der Gefahr spielte. Er liebte es, bis zum Äußersten zu gehen, und er konnte Situationen so ausufern lassen, dass man es sich nicht vorstellen kann, wenn man es nicht wenigstens einmal erlebt hatte. Ich hielt mich schon für ziemlich waghalsig – bis ich Lou kennen lernte. Ich würde aufhören, einem Betrunkenen immer noch mehr zum Trinken zu bestellen; und da fängt Lou gerade erst an.“

Durch dieses Verhalten gerieten sie manchmal in brenzlige Situationen, die Cale verabscheute – er war nicht so redegewandt wie Lou, litt manchmal an Klaustrophobie und lebte in ständiger Angst vor willkürlicher Gewalt. „Ich bin sehr unsicher“, sagt Cale. „Wenn ich auf dem Bürgersteig gehe, trete ich immer auf die Fugen zwischen den Steinen. Ich gehe immer nur ein kalkuliertes Risiko ein, und zwar deswegen, weil es mir ein Gefühl von Identität gibt. Die Angst ist der beste Freund des Menschen.“

Zeitweise war John von Lou ziemlich eingeschüchtert, wenn dieser drauf und dran war, sämtliche Regeln zu missachten und kriminell zu werden. Es war immer Lou, der in Drugstores einbrach, um reinen, pharmazeutischen Stoff zu bekommen. Das war eine völlig neue Welt für John, dessen Grenzerfahrungen sich bisher nur auf musikalische Erkenntnisse beschränkt hatten.

Geld war ein Dauerproblem. Obwohl Lou häufig das Auto seiner Mutter benutzte und nach Freeport fahren konnte, wenn ihm danach war, hatte er kein regelmäßiges Einkommen mehr, seit er Pickwick im Frühjahr den Rücken gekehrt hatte. Stattdessen versuchte er an Geld zu kommen, indem er mit John zusammen auftrat, manchmal ganz spontan. Einmal fuhren sie zusammen nach Harlem, um in einem Bluesklub vorzuspielen. Die beiden jungen weißen Burschen tauchten also mit Gitarre und Viola auf und spielten „Heroin“ und „Venus in Furs“. Als das seltsam aussehende Paar von den Klubbesitzern abgelehnt wurde, gingen sie auf die Straße und spielten auf dem Bürgersteig und nahmen dabei eine hübsche Summe ein. „Auf der Straße verdienten wir besser als irgendwo sonst“, erinnert sich John.

„Wir lebten zusammen in einem Apartment, das dreißig Dollar im Monat kostete, und wir hatten überhaupt kein Geld“, bezeugt Lou.

„Wir aßen Tag und Nacht Haferflocken und spendeten Blut, oder wir standen Modell für die billigen Blättchen, die jede Woche herauskommen. Immer wenn ich Modell stand, wurde ein Foto von mir abgedruckt, und da stand dann, dass ich ein irrer Sexmörder war, vierzehn Kinder umgebracht und Tonbandaufnahmen davon gemacht habe, die ich auf einer Farm in Kansas abspielte. Und als Johns Foto in der Zeitung erschien, stand darunter, er habe seinen Liebhaber umgebracht, weil der seine Schwester heiraten wolle und er dagegen sei, dass seine Schwester einen Schwulen heirate.“

Während sie sich auf diese Art durchschlugen, war Lou mit der Mythenbildung seines eigenen jüdischen Psychodramas beschäftigt. Es war eine von Lous Gewohnheiten, seine Freunde und Bekannten mit Geschichten über Schockbehandlungen, Drogen und Problemen mit der Polizei zu schockieren. Diese Art der Imagebildung sollte Reed später, bei einer verzweifelten Suche nach einer eigenen Persönlichkeit, mit eigenen Ausdrucks­möglichkeiten perfektionieren; den Höhepunkt erreichte er in den Siebzigerjahren mit einer Serie besonders infamer „personae“. „Damals erzählte mir Lou vom Horror der Elektroschocktherapie, die ihm ärztlich verordnet worden war“, erzählt Cale. „Ich war völlig entsetzt. Seine besten Arbeiten resultierten aus dem Zusammenleben mit seinen Eltern. Er erzählte mir, seine Mutter sei eine ehemalige Schönheitskönigin und sein Vater ein reicher Steuerberater. Sie hatten ihn als Jugendlichen in ein Hospital gesteckt, wo er Elektroschockbehandlungen erhielt. Offensichtlich kam er dann nach Syracuse und musste sich dort zwischen Sport und R. O. T. C. entscheiden, drohte, den Lehrer umzubringen, schlug mit der Faust ein Fenster ein oder so ähnlich, und sie brachten ihn in die psychiatrische Anstalt. Ich kenne nicht die ganze Geschichte. Jedes Mal, wenn Lou sie erzählte, veränderte er sie ein wenig.“

Als ihre Beziehung enger wurde und die musikalischen Vorstellungen übereinstimmten, beschlossen Lou und John, eine Band zu gründen, ihr Material so zu bearbeiten, dass man es aufführen konnte, und ihre Musik endlich auf die Welt loszulassen. „Die Basis unserer Zusammenarbeit lag von Anfang an darin, dass wir beide an denselben Dingen interessiert waren“, sagt Cale. „Wir brauchten uns gegenseitig; Lou brauchte jemanden, der seine lyrischen Ideen umsetzte, und ich brauchte jemanden, der meine musikalischen Ideen umsetzte. Die Idee war nahe liegend, eine Band zu gründen, auf die Bühne zu klettern und loszuspielen, denn alle anderen schrubbten immer und immer wieder dasselbe Lied. Alle, die damals als Rock’n’Roll-Band auftraten, hatten ein genau festgelegtes Programm. Wir dagegen wollten unbegrenzt improvisieren – ich dachte, damit könnte man allen besonders gut auf die Nerven gehen.“

Während sich Lou in die verstörten Träume und Schreie seiner Musik einpuppte wie in einen Kokon und sich, wie es ein Freund sah, zu einer neuen Ebene des Zorns und der Coolness aufschwang und zunehmend durchdrehte, fing er an, sich von seiner Vergangenheit zu distanzieren. Zwar borgte er sich noch ab und zu das Auto seiner Mutter und fuhr damit in einen zwielichtigen Stadtteil, um Drogen zu besorgen; zwar stattete er ­seinen Eltern immer noch gelegentlich einen Besuch ab oder rief sie an (hauptsächlich, um seinen Hund zu sehen oder um sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen, wie ein Freund meinte); doch nach und nach brach er alle Kontakte zu den Leuten, die er aus Syracuse und der Zeit davor kannte, konsequent ab. Der Erste, der dieser Aktion zum Opfer fiel, war der unverwüstliche Hyman. Er lebte inzwischen mit seiner Frau in Manhattan und studierte Jura und konnte nichts mehr für Lou tun (außer ihm vielleicht eine Mahlzeit spendieren). Mishkin hatte immer noch eine gewisse Funktion, da er ein großes Loft in Brooklyn besaß, wo Lou manchmal probte; außerdem hatte er eine Yacht namens Black Angel am Boat Basin in der 79. Straße liegen, wo sie sich manchmal trafen, aber der Kontakt, den er zu Lou noch unterhielt, kostete ihn ziemlich viel Nerven. „Zu der Zeit deprimierte er mich noch viel mehr als damals in Syracuse“, erinnert sich Mishkin. „Er entwickelte sich bereits zu dem, was er später werden sollte.“

Es ist ganz normal, dass sich die Wege ehemaliger ­Klassenkameraden trennen, wenn sie neue Jobs annehmen und neue Freundschaften schlie­ßen. Die Trennungen, die wirklich schmerzhaft waren und vielleicht auch endgültiger, waren die von Leuten, die einen besonderen Einfluss auf Lou gehabt hatten oder die zu viel von ihm wussten.

Nach einer Phase psychiatrischer Behandlung und Stabilisierung war Lincoln Swados wieder in der New-Yorker Szene aufgetaucht; er wohnte nicht weit von Lou entfernt, im East Village. Kurzzeitig machte er sich einen Namen als Comicstrip-Zeichner und Kabarettist. Aber schon bald schlug er Lou mit Leichtigkeit bei ihrem internen Wettstreit um den Titel des verrücktesten Zeitgenossen, als er vor die einfahrende U-Bahn sprang und dabei rief: „Ich bin ein sehr schlechter Mensch, ich bin ein sehr schlechter Mensch …“ Erst im letzten Moment trat er beiseite und überlebte – aber die Aktion kostete ihn einen Arm und ein Bein. Als Folge davon wurde er als verkrüppelter Straßenkünstler zum Unikum auf der Lower East Side. Lincolns Schwester Elizabeth, die eine erfolgreiche Karriere als Theater­auto­rin eingeschlagen hatte, war offensichtlich sehr aufgebracht, dass Lou nach diesem tragischen Ereignis eher noch mehr auf Distanz zu ihrem Bruder ging, anstatt sich verstärkt um ihn zu kümmern. Scharfsinnig interpretierte Lincoln jedoch die Motive seines Freundes. „Lou gibt nur vor, so zu sein wie wir“, sagte er seiner Exfreundin, der Journalistin Gretchen Berg. „Aber er ist nicht so, er ist jemand anderes. Er ist eigentlich ein Geschäftsmann mit ganz klaren Zielen, und er weiß genau, was er will.“

Interessanterweise kam Delmore Schwartz im letzten Jahr seines Lebens zur gleichen Schlussfolgerung. Ein Klassenkamerad von Lou, der Schwartz eines Tages zufällig in Manhattan begegnete, war sehr erstaunt, als er feststellte, dass „er wirklich schlecht aussah. Er trug einen schwarzen Regenmantel, der aussah, als wären überall Zahnpastaflecken drauf. Er sah so aus, als hätte er getrunken, vielleicht war er auch betrunken. Und das Einzige, worüber er diskutieren wollte, war seine Abneigung gegenüber Syracuse; und dass Lou Reed und Peter Locke Spione seien, die von den Rockefellers bezahlt würden.“ Als Lou erfuhr, dass Schwartz im heruntergekommenen, flohverseuchten Dixie Hotel in der westlichen 48. Straße wohnte, besuchte er ihn und versuchte mit ihm zu reden, aber Delmore gab ihm eine volle Breitseite und schrie: „Wenn du noch mal hierherkommst, dann bring ich dich um!“ Erschüttert und verängstigt zog sich Lou zurück. „Er dachte, ich käme im Auftrag der CIA und sollte ihm nachspionieren, und ich hatte Angst, denn er war ziemlich kräftig. Er hätte mich wirklich umgebracht.“

Die dritte wichtige Person in seinem Leben aus der Zeit in Syracuse, Shelley Albin, drehte den Spieß um und entfernte einfach Lou aus ihrem Leben. Sie heiratete einen Mann namens Ronald Corwin, der auf dem Syracuse College von 1963 bis 1965 als Chef der lokalen Abteilung von CORE [Congress of Racial Equality; eine Organisation, die sich für die Gleichberechtigung aller ethnischen Gruppen einsetzt; Anm. d. Ü.] ein wichtiger Mann gewesen war und infolgedessen von Lou immer als Klugscheißer bezeichnet wurde. Die Heirat war ein Schlag für Lou, denn obwohl er sie seit dem Sommer 1964 weder gesehen noch den Versuch dazu unternommen hatte, betrachtete er Shelley trotz allem noch immer als „seine“ Freundin. Jedenfalls war er seither keine tiefere Beziehung mehr mit jemandem eingegangen. Shelley blieb mindestens bis Ende der Siebzi­gerjahre ein Dorn in seinem Auge und inspirierte ihn zu einigen seiner eindrucksvollsten, aber auch gemeinsten Liebeslieder.

Die einzigen Menschen, bei denen Lou nicht in der Lage schien, sie einfach aus seinem Leben herauszuschneiden, waren seine Eltern; alle seine Freunde erinnerten sich lebhaft an sie: als monsterhaftes Phantompaar, das sie niemals zu Gesicht bekamen, von dem aber die ständige Drohung ausging, Lou jeden Moment einsperren zu lassen (ungeachtet der Tatsache, dass Lou inzwischen dreiundzwanzig Jahre alt war und seine Eltern keine juristischen Möglichkeiten für ein solches Vorgehen mehr hatten).

Ungefähr einen Monat, nachdem er begonnen hatte, mit Cale zusammenzuarbeiten, kam es zu einer jener Zufallsbegegnungen, die für den weiteren Weg einer Rockband oft entscheidend sind. Lou traf Sterling Morrison, seinen Freund aus Syracuse, der im West Village herumspazierte, und lud ihn in die Ludlow Street ein, um gemeinsam Musik zu machen. Zu diesem Zeitpunkt saß Angus MacLise bei ihren Sessions oft am Schlagzeug. Als Tony Conrad das nächste Mal vorbeikam, stellte er fest, dass sich die Beziehung Reed/Cale entwickelt hatte, seit MacLise und Morrison mit von der Partie waren. Allmählich kristallisierte sich etwas heraus, was man eine Band nennen konnte. Sie unternahmen auch erste Versuche, sich einen Namen zu geben, und nannten sich einige Monate lang The Warlocks (ein Name, der anfänglich auch von einer Westküsten­gruppe benutzt wurde, die sich später The Grateful Dead nennen sollten), und sie waren eifrig damit beschäftigt, ihre Proben auf Band aufzuzeichnen. Ihre Musik, über MacLise und Cale stark durch LaMonte Young beeinflusst, aber durch Reed und Morrison ebenso von Doo-Wop-Sound und weißem Rock, war ätherisch und leidenschaftlich.

„Wir haben unsere Musik kollektiv entwickelt“, berichtet Sterling. „Lou kam mit ein paar hingekritzelten Versen an, und wir entwickelten gemeinsam die Musik dazu. So lief es fast immer. Wir probierten so lange, bis wir etwas wirklich Überzeugendes gefunden hatten. John versuchte, ein ernsthafter, junger Komponist zu sein; er hatte überhaupt keine Erfahrungen mit Rockmusik, und das war super, er hatte die ganzen Klischees nicht drauf. Wenn man seinem Bass zuhörte, kamen keine der üblichen Grifffolgen, das war sehr exzentrisch. ‚I’m Waiting For The Man‘ war völlig verrückt. Es war sehr aufregend, mit John zusammenzuarbeiten.“

Die Band widmete sich ihrer gemeinschaftlichen Berufung mit fast religiö­ser Hingabe; sie wollten keine Kompromisse eingehen, um sofort Erfolg zu haben, sie wollten sich abheben, der Band eine eigene Aussage geben, niemals versuchen, irgendjemanden außer sich selbst zufrieden zu stellen, und niemals einen Song zweimal auf die gleiche Weise spielen. Die Band erforschte und beschäftigte sich mit musikalischen Traditionen, die ihre Zeitgenossen aus den Augen verloren hatten, und verwarf eindeutig die damals üblichen musikalischen Gepflogenheiten. „Wir hatten wirklich eine Richtlinie“, erklärt Lou. „Jeder, der ein Bluesmotiv spielte, wurde bestraft. Alle waren verrückt nach den alten Bluessängern, aber sie vergaßen die ganzen Gruppen, wie die Spaniels zum Beispiel, solche Leute. Aufnahmen wie ‚Smoke From Your Cigarette‘ und ‚I Need A Sunday Kind Of Love‘, ‚Wind‘ von den Chesters, ‚Later For You Baby‘ von den Solitaires. Diese irren Platten, die sich keiner mehr anhörte, steckten hinter allem, was wir spielten. Keiner bekam das so richtig mit.“

Alle stimmten darin überein, dass ihr erster richtiger Erfolg, das musikalische Arrangement betreffend, „Venus In Furs“ war. Als Cale zum ersten Mal die Viola hinzufügte und sie gegen den harten Sound von Lous „Ostrich“-Gitarre setzte, unlogisch und krächzend, überlief ihn ein warmer Schauer der Erkenntnis. Er wusste, das war ihr Sound, und er war stark.

Cale, der dem ursprünglichen Sound das manische Element hinzufügte, erinnert sich: „Erst dann fand ich, dass wir einen wirklich originellen, fiesen Stil gefunden hatten.“ – „ Mit dem Text dieses Songs“, schrieb der britische Kritiker Richard Williams, „schlug Lou Reed ein neues Blatt in der Geschichte der Popmusik auf, ein für alle Mal. Aber es waren nicht nur die Texte. Bei ‚Heroin‘ und ‚Venus In Furs‘ waren Musik und Thema genau aufeinander abgestimmt, und das klang wie etwas völlig Neues. Die Blueselemente und die afroamerikanischen Rhythmen, bis dahin die Grundelemente jeglicher Rockmusik, verschwanden. Vorherrschend war nun der knirschend-kreischende Sound von Cales elektrischer Viola und Reeds Gitarre, die ihn aufnahm und zurückwarf, während das Tempo schneller oder langsamer wurde, je nach den Erfordernissen des Texts.“

Der Austausch dieser beiden Persönlichkeiten war jedoch sehr zerbrechlich. Einmal spielte Lou einen neuen Song vor, den er geschrieben hatte, und John improvisierte einen Violapart dazu. Sterling murmelte irgendwas in der Art, das sei gut. Lou sah hoch und blaffte: „Ja, ich weiß. Ich hab den Song nur für die Viola geschrieben. Ich kannte jede einzelne Note im Voraus.“ Obwohl er Lou an Redegewandtheit unterlegen war, setzte sich Cale musikalisch gegen ihn durch. Einige Beobachter des Geschehens glauben sogar, dass es mehr als das war – dass er Lou Reed sozusagen machte, ihn vervollständigte. Und manche meinen, dass es ohne John Cale nicht jenen Lou Reed gegeben hätte, der zu einer Legende wurde. „Es ist eine faszinierende Beziehung“, kommentiert ein Freund. „Dass John mit Cage und LaMonte Young zusammengearbeitet hat, wäre schon an sich bemerkenswert genug, selbst wenn seine Karriere da aufgehört hätte, aber dann traf er Lou und fand ihn interessant, obwohl Lou einen ganz anderen Hintergrund hatte. Ich glaube, er wusste das und hat viel dazu beigetragen, um es voranzutreiben, und für ihn war das auch Anlass genug, sein Leben zu ändern.“

Sterling Morrison war ein liebenswerter Clown, der die totale Nerven­säge, aber ebenso gut der beste Freund der Welt sein konnte. Unsicher, was seine Fähigkeiten als Musiker betraf, hielt er sich im Hintergrund und murmelte provisorisch die Refrains vor sich hin, die er singen sollte. Ein Freund erinnert sich, dass „es typisch für Sterling war, ein wundervolles Solo zu spielen und dann so zu tun, als sei es ihm egal. Aber nach einer Stunde kam er dann an und fragte: ‚Wie fandest du das Solo?‘“ Wenn irgendetwas schief lief, verbarg Morrison seine Nervosität unter einem Mantel des Schweigens. Seine Persönlichkeit diente oft als nützlicher Blitzableiter zwischen Reed und Cale, aber es brachte auch Probleme mit sich, wenn er, ohne jemandem zu sagen, dass ihm etwas nicht passte, einfach verstummte.

Das Bindeglied des Unternehmens war Angus MacLise. Die Band zog nicht nur den Hauptanteil ihres Strombedarfs aus seiner Wohnung, sondern Angus war auch ein liebenswerter Mensch, dem der Schalk im Nacken saß. Er war inspiriert, inspirierend und ein echter Speedfreak. Als Schlagzeuger war er intuitiv und vielseitig, er beherrschte eine erstaunliche Vielfalt von Rhythmen und Figuren, die aus allen Kulturen dieser Welt stammten. Seine vielen Reisen hatten ihn stark beeinflusst, seien es die Derwische, die er im Nahen Osten kennen gelernt hatte, oder die Leute, denen er in Indien und Nepal begegnet war. Er war ein visionärer Poet und Mystiker und gehörte ebenfalls zu der Truppe um LaMonte Young. Für ihn war es wichtig, zum Kerngedanken der Musik vorzudringen und ihn mit seinem eigenen tiefsten Inneren zu verbinden. „Angus’ Vorstellungen von Kunst waren träumerisch – und ich meine wirklich träumerisch“, kommentiert Sterling. „Aber wir waren auch nicht viel anders, sonst hätten wir viel mehr Geld machen können. Wir haben niemals für Geld gearbeitet, wir hatten einen starken Bezug zu unserer Arbeit, und wir wollten sie so gut wie möglich machen. Wir sagten: Scheiß auf das Marketing.“

Sowohl Cale als auch MacLise spielten 1965, parallel zu den Proben der Warlocks, weiterhin beim Theater of Eternal Music, obwohl sie damit Lous Wunsch nach völliger Ergebenheit und Hingabe nicht entsprachen. Dadurch wurde LaMonte Young fast zum dritten Mann im Konzept der Band. Damals war es in New York – besonders im East Village – durchaus üblich, dass gewisse Persönlichkeiten, wie LaMonte Young, Andy Warhol, Robert Rauschenberg oder Allen Ginsberg, von einer schülerhaften, ehr­erbietigen Menge von Anhängern und Mitarbeitern umgeben waren. Und es ist auch bezeichnend, dass Lou Reed kein einziges Mal während seiner ganzen Karriere mit den Velvet Underground auf LaMonte Young traf – obwohl zwei Mitglieder der Band mit Young eng verbunden waren. Reed hatte begriffen, dass Leute, die es allein schaffen wollen, Stars zu werden, sich von der Sogkraft solcher Gruppen fern halten müssen.

Der große Widerspruch in Lous Karriere bestand jedoch darin, dass er sich für das – ganz besonders in den Sechzigern – wettbewerbsorientierte, schnelle Rockbusiness entschied; und damit auch für jene Kunstform, deren Grundbedingung bedingungslos intensive, schnelle und häufig nervenzerfetzende Zusammenarbeit mit anderen Menschen war, etwas also, für das Lou überhaupt kein Talent besaß. Bald machten die Mitglieder der neuen Band die gleichen Erfahrungen wie zuvor auch die Eldorados in Syracuse: Lou konnte der netteste, charmanteste Mensch sein, aber er entwickelte sich zum größten Arschloch, sobald man mit ihm zusammenarbeitete. Abge­sehen davon, dass er alles kontrollieren wollte und über ein Ego vom Ausmaß des Himalaja verfügte, bestand sein Problem darin, dass er den Anteil der anderen an der gemeinsamen Arbeit nicht anerkannte.

Genauso, wie es die Rolling Stones gemacht hatten, als sie ihre Musik entwickelten, arbeiteten auch die späteren Velvets alle ihre Songs gemeinsam aus. Reed, der sich die Grundakkorde ausdachte und die skizzenhaften Texte beisteuerte, war jedoch der Ansicht, er habe ganz allein Meis­terwerke wie „Heroin“, „Venus In Furs“, „I’m Waiting For The Man“, „The Black Angel’s Death Song“ und so weiter zustande gebracht. Obwohl Reed zweifellos die brillanten Texte und Akkorde beisteuerte, wurden die verschiedenen und größeren Instrumentalparts der Musik – Cales Bratsche, Morrisons Gitarre, MacLise’ Schlagzeug – von den Musikern individuell entwickelt. Kurz gesagt: Reed hätte sich seine Verdienste im Textbereich mit den musikalischen Verdiensten der anderen teilen sollen. Am Anfang stellte sich die Frage natürlich noch nicht, da es auch keine Verträge gab, die man hätte unterzeichnen müssen, alles war eitel Sonnenschein, es gab noch keinen Grund, sich groß zu streiten. Außerdem war die Gruppe davon überzeugt, dass ihre Werke sowieso niemals bei einer Plattenfirma herauskommen würden. Zu gegebener Zeit würde jedoch diese wichtige Grundlage der künstlerischen Zusammenarbeit, die gegenseitige Anerkennung und Klärung der Veröffentlichungsrechte (mit denen langfristig das meiste Geld im Rockgeschäft gemacht wird) die schmerzhaftesten Konflikte in der Band auslösen, die in ihrer Geschichte noch so manchen anderen Kampf austragen würde.

Anfang 1965 entwickelte sich Angus jedoch zu einem treuen, wenn auch etwas verrückten Freund von Lou und trat damit die Nachfolge von Lincoln Swados an. Durch Angus kam Lou auch mit der leicht erhält­lichen pharmazeutischen Substanz Methamphetamin-Hydrochlorid in Berührung; dies war auch die bevorzugte Droge des besonders intensiv nach Erleuchtung suchenden Kreises um Jack Smith und später auch von Andy Warhol. Methamphetamin-Hydrochlorid – oder auch Speed – ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was den Sound von Reed und Cale so stark vom musikalischen Mainstream-Pop Amerikas in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre abhob, der hauptsächlich durch softe, halluzinogene Drogen beeinflusst war. Eine Zeit lang produzierte Tony Cox, der damalige Ehemann von Yoko Ono, im gleichen Gebäude in der Ludlow Street, in dem auch John und Lou wohnten, Speed en masse für die Mafia. Sie befanden sich also mitten im Herzen der Speedszene. Lou und Angus arbeiteten zusammen an einem Essay mit dem Titel „Über das Gerücht, dass China den Methedrin-Markt erobert und durch das Hinzufügen von Paranoiatropfen versucht, die USA aus dem geistigen Gleichgewicht zu bringen“, ein völlig absurdes, zugeknalltes Credo der inhaltlichen Richtlinien der Band. In einem Teil hieß es beispielsweise: „Die Grundlagen der westlichen Musik sind der Tod, die Gewalt und das Streben nach Fortschritt … Die Wurzel der universellen Musik ist der Sex. Westliche Musik ist genauso gewalttätig wie westlicher Sex … Unsere Band ist das westliche Gegenstück zu Shivas kosmischem Tanz. Wir spielen, während Babylon in Flammen aufgeht.“

Die Spannungen zwischen den vier unterschiedlichen Persönlichkeiten wurden der emotionale Motor ihrer Musik. Zwanzig Jahre später sollte Reed heftig abstreiten, dass besonders die Spannungen zwischen ihm und Cale so fruchtbar waren. Aber das ist nur einer seiner vielen Versuche, die eigene Geschichte nach seinem Willen zu schreiben. Morrison erinnert sich: „Ich mag Lou wirklich sehr gern, aber er ist wohl das, was man eine fragmentarische Persönlichkeit nennt. Man weiß nie, mit wem man es unter welchen Bedingungen eigentlich zu tun hat. Manchmal ist er jungenhaft charmant und naiv – Lou kann sehr charmant sein, wenn er will. Oder er ist boshaft und gemein – und wenn er so ist, muss man erst mal herausfinden, aus welchem Grund. Was hat er eingeworfen, welche wahnsinnige Diät ist gerade dran? Er hatte alle möglichen Theorien über verschiedene Diäten. Er aß dann nichts und lebte von Weizenhülsen. Er versuchte immer, sich geistig und körperlich auf einen Ort hinzubewegen, an dem vor ihm noch keiner war. Er war oft sehr asozial, und es war schwierig, mit ihm zusammenzu­arbeiten, aber er war auch interessant, und die Leute waren an den Konflikten interessiert und an den guten Dingen, die sich daraus ergaben.“

Eines dieser positiven Ergebnisse waren die Songs, die über die schmud­deligen Drogenumschlagplätze hinwegzudröhnen begannen, die die Ludlow Street von Eldridge bis zu der Bowery umgaben. Lou, Sterling, Angus und John bearbeiteten ihre Songs tagein, tagaus und schliffen sie zu dem zurecht, was zwei Jahre später als die erste Velvet-Underground-Platte herauskommen sollte.

Cale meint dazu: „Wir haben wirklich sehr hart an den Arrangements für das erste Album gearbeitet. Wir trafen uns regelmäßig einmal die Woche, ein Jahr lang, nur um an den Arrangements zu arbeiten. Damals spürte ich, dass wir etwas taten, was Bestand haben würde. Es war einzig­artig und sehr stark. Wir verbrachten unsere gesamten Wochenenden damit, dass wir die Songs wieder und wieder und wieder durchgingen. Wir hatten kein besonderes Problem mit der Arbeitsmoral; es war eher so, dass an dieser Arbeitsmoral unser ganzes Leben hing.“

Im Frühjahr 1965 begann ihre Musik plötzlich zu klingen. John Cale hat diese Anfänge der Band als ihre beste Zeit in Erinnerung. Er selbst brachte seine einzigartige elektrische Viola ein, Morrison seine unwiderstehlich schöne elektrische Gitarre, MacLise sein ätherisches fernöstliches Schlagzeug und Reed seine neuen, präzisen Texte und den Gesang. Oft improvisierte die Band über ein Riff, und Reed dachte sich, während sie spielten, einfach die Texte dazu aus. „Er war erstaunlich“, sagt Cale. „Einen Moment lang sah er wie ein Priester aus den Südstaaten aus, und dann verwandelte er sich plötzlich total und war eine ganz andere Persönlichkeit.“

„Von meinem Kopf her hätte ich gern wie Al Green gesungen“, sagt Reed. „Aber das ist eben nur eine Vorstellung. Ich musste einen Weg finden, um mit meiner Stimme und ihren Beschränkungen arbeiten zu können. Ich schrieb einen bestimmten Kernsatz auf und passte dann den Text der Musik an, suchte einen Weg, dass beides gut zusammenklang.“ 1965 war er besonders kreativ und gab Cales Orchestrierung des musikalischen Chaos der Band eine dunkle, makabre, an Poe erinnernde Schönheit. „Wir hörten, wie sich unsere Schreie in Lieder verwandelten“, schrieb Reed später, „und wie aus unseren Liedern wieder Schreie wurden.“

Inzwischen brachte Cale, der aufgrund seines klassischen Musikstipendiums zwischen London und New York hin- und herpendelte, die neuesten Singles der aufregendsten britischen Popgruppen mit, von The Who und The Kinks, mit denen sie eine gewisse Verwandtschaft feststellten. Es war eine außerordentlich kreative, spannungsgeladene Phase in der Geschichte der Rockmusik, und die Band saugte alles auf, was ihr gefiel. Reed, der Musiker aller Sparten verehrte – von Burt Bacharach bis hin zu den Beach Boys –, war sogar der festen Überzeugung, dass die hervorragendste Popmusik künstlerisch genauso anerkannt werden sollte wie die Lyrik. „Wie kann man nur Robert Lowell einen Preis für Lyrik geben?“, beschwert er sich in einem Essay, das er im folgenden Jahr für die Zeitschrift Aspen Magazine schrieb. „Richard Wilbur. Das ist doch ein Witz. Was ist mit den Excellents, Martha And The Vandellas, Holland und Dozier, Jeff Barry, Elle Green­wich, Bacharach und David, Carole King und Gerry Goffin, den besten Songwriter-Gespannen in Amerika? Werden die Verantwortlichen auch in Zukunft nicht erkennen, was Brian Wilson mit den Akkorden anstellte? Phil Spector muss gesagt werden, dass es völlig abartig war, ‚You’ve Lost That Loving Feeling‘ als die beste Platte, die es jemals gab, zu bezeichnen.“

Drogen waren sowohl Katalysator als auch Hindernis für die Musik. „Es gab keine schweren Abhängigkeiten, aber es reichte, um uns zu behindern – Hepatitis und so“, erinnert sich Sterling. „Ich nahm Pillen, Amphe­ta­mine, aber keine psychedelischen Drogen. Damit hatten wir nichts am Hut. Drogen haben uns nicht zu Songs angeregt.

Wir nahmen sie aus anderen Gründen – man fühlte sich gut, war Kritik gegenüber besser gewappnet. Vitamine, Ginseng und experimentelle Diäten waren aber auch ein Thema. Lou war einmal so radikal auf Diät, dass sein zentrales Nervensystem ohne Fettschutz war – sein Rückenmark lag sozusagen frei. Wir nahmen auch jede Menge Downers – jedenfalls ich. Wir machten allen möglichen Unsinn. Es passierte so viel, man ­musste einfach dranbleiben, das war alles. Aber ich bin nie so richtig aus der Kurve geflogen. Wenn jedoch zwei Mann in der Band schwer sediert und die anderen beiden auf Speed waren, dann hatte das schon gewisse Auswirkun­gen auf die Stimmung. Sie wollten langsame Grabgesänge, und ich wollte möglichst schnelle Songs.“

In diesem Sommer ereigneten sich parallel zwei Dinge, die die Warlocks, die nun auch gelegentlich den drogenbezogenen Namen The Falling Spikes benutzten, aus der Dunkelheit der Ludlow Street näher in Richtung des Scheinwerferlichts katapultierten, das sie bald anstrahlen sollte. Das erste ergab sich aus MacLise’ Beziehungen zur Underground-Filmszene der Lower East Side. Diese sehr wichtige Bewegung sprach das größte und intelligenteste Publikum in New York an; die Band wurde dazu aufgefordert, ihre Probenbänder vorzuspielen oder manchmal auch die meist stummen Filme von Jack Smith, Ron Rice, Andy Warhol, Stan Brakhage und Barbara Rubin, die in dieser Saison der letzte Schrei waren, musikalisch zu begleiten. 1965 befand sich die Künstlerszene der Lower East Side und insbesondere die Underground-Filmszene auf ihrem Höhepunkt. Eine der hervor­stechendsten und rätselhaftesten Figuren dieser Szene war Piero ­Heliczer, der häufig Filme in seinem riesigen Loft in der Grand Street vorführte, das nur drei Blocks entfernt von der Ludlow Street 56 lag. Er verschaffte der Gruppe ihren ersten Auftritt. Bald schon spielten sie regelmäßig bei ­Heliczer und anderen Künstlern; sie saßen dabei entweder hinter der Leinwand oder standen seitlich daneben.

Am häufigsten trat die Band in Jonas Mekas’ Cinémathèque auf, dem populärsten Aufführungsort für Underground-Filmer. „Die Hauptbühne der alten Cinémathèque war die Leinwand, und zwischen ihr und dem Publikum waren an unterschiedlichen Stellen große Vorhänge angebracht“, erinnert sich Sterling. „Sie wurden von verschiedenen Lampen, Lichtern und Diaprojektoren angestrahlt, während Pieros Filme durch sie hindurch auf die Leinwand projiziert wurden. Tänzer und Duftwolken wirbelten herum, Schwaden von Räucherstäbchen zogen durch die Luft, und Gedichte und Lieder ertönten, während hinter der Leinwand sonderbare Musik erklang, die Lou Reed, John Cale, Angus und ich hervorbrachten, begleitet von Piero, der Saxofon spielte.“ Gelegentlich traten sie auch mit nacktem, bemaltem Oberkörper auf oder versuchten auf eine andere Art, möglichst schockierend auszusehen. Durch diese Performances gewannen sie langsam eine enthusiastische Zuhörerschaft, unter der sich auch Barbara Rubin befand, die ihr einflussreichster Fan werden sollte.

Der zweite Durchbruch kam im Juli, als sie in der Ludlow Street ein Demotape mit frühen Versionen von „Heroin“, „Venus In Furs“, „The Black Angel’s Death Song“ und „Wrap Your Troubles In Dreams“ aufnahmen. „‚Wrap Your Troubles In Dreams‘, das ist absolut schonungslos“, sagt John Cale. „Lou meinte oft: ‚O Mann, einige dieser Songs sind einfach zu gefährlich, man sollte diese Dinge vielleicht nicht anrühren.‘ Womöglich hat er Recht.“ Auf dem Tape befand sich auch eine Aufnahme, in der es laut Morrisons Erinnerung um Folgendes ging: „Lass dich gefühlsmäßig niemals auf Männer, Frauen, Kinder oder Tiere ein.“ Cale nahm das Band mit nach England; er hoffte, dort eher einen Vertrag mit einer der risikofreudigeren britischen Plattenfirmen abzuschließen (schließlich bedienten sich die Who und die Kinks ähnlicher Techniken). Er stieß auf beträchtliches Interesse, unter anderem bei Miles Copeland, der später The Police managen sollte.

Im Herbst, als ihre Musik ausgereifter zu klingen begann und ihre Fangemeinde anwuchs, fühlten sie, dass etwas im Gange war. Ein Ereignis im November schien das zu bestätigen, als sie durch Zufall auf den Namen stießen, den sie beibehalten sollten: The Velvet Underground. Sie „klauten ihn“, wie sich Lou ausdrückte, vom Titel eines billigen Taschenbuchs über das Sexualverhalten in den Vorstädten, das Tony Conrad im Rinnstein aufgelesen und in die Ludlow Street mitgebracht hatte. Es sah so aus, als seien die Velvet Underground nun gut gerüstet für die Verwirklichung ihrer Ziele und Pläne. Im gleichen Monat waren sie zum ersten Mal im Fernsehen präsent. CBS nahm sie für eine Dokumentation über Piero Heliczer auf, die von Walter Cronkite kommentiert wurde; die Band spielte „Venus In Furs“. Als der renommierte Rockjournalist Alfred G. Aronowitz sich der Gruppe als Manager anbot, nahmen sie an.

Al Aronowitz war ein einflussreicher Mann in der New-Yorker Rock­szene. Er hatte eine wichtige Kolumne über Popkultur in der New York Post, in der er bereits ausführlich über die Beatles, die Rolling Stones und Bob Dylan berichtet hatte. „Aronowitz war berühmt“, beschreibt ein Beobachter. Aronowitz war der Mann, der Allen Ginsberg Bob Dylan vorgestellt hatte und Bob Dylan den Beatles. Er hatte Billie Holiday persönlich kennen gelernt, ebenso Jack Kerouac, Paul Newman und Frank Sinatra. Er konnte einfach so mit Ahmet Ertegun, George Plimpton, Clive Davis oder Willem de Kooning telefonieren. Durch ihn hatte Brian Jones Verbindungen nach Amerika geknüpft, er war Leon Russells New-­Yorker Guru, und er war derjenige, der Pete Hamill mit Norman Mailer bekannt gemacht hatte. Nur Aronowitz war dazu imstande, in einer Tageszeitung eine Rockkolumne zu schreiben, an deren Lektüre keiner vorbeikam.

Sein Interesse an den Velvets war ein sicherer Vorbote des Erfolgs. Plötzlich kollidierte jedoch der unorthodoxe Hintergrund, dem sie entstammten, mit ihrem musikalischen Erfolg. Sobald ihnen Aronowitz den ersten bezahlten Job als Vorgruppe einer Band, die er ebenfalls managte, anbot, stellte Angus MacLise eine, wie Lou sich erinnert, „faszinierende Frage. Er sagte: ‚Meint ihr damit, dass wir zu einer bestimmten Uhrzeit zu spielen anfangen und dann wieder aufhören?‘ Wir sagten: ‚Ja.‘ Und er sagte: ‚Das ist nichts für mich!‘ Und das war’s dann. Ich meine, wir hatten den Strom für unsere Musik aus Angus’ Apartment, aber das war’s dann. Er war ein großartiger Schlagzeuger …“

Lou, der seine geliebte Band über alles und jeden stellte, verzieh MacLise nie mehr. Durch Angus’ Ausstieg ergab sich jedoch ein letzter Zufall, der die Band vervollständigen sollte. Aronowitz hatte sie für den 11. Dezember gebucht, es waren also nur noch wenige Tage Zeit; da erinnerten sich Lou und Sterling plötzlich an einen Freund aus Syracuse, Jim Tucker, dessen Schwester Schlagzeug spielte. Sie fragten sich, ob sie wohl dazu in der Lage wäre, einzuspringen. Cale, den es bei dem bloßen Gedanken daran, dass eine „Tussi“ in der Band mitspielen sollte, schauderte, musste mit dem Versprechen, es handle sich hier nur um eine vor­übergehende Lösung, besänftigt werden. Als er nachgab, machte sich Lou sofort auf den Weg nach Long Island, um sich Moe Tucker anzuhören. „Ich war damals neunzehn, lebte zuhause und hatte einen Job, bei dem ich irgendwelches Zeug in Computer eingab. Lou besuchte mich, um zu sehen, ob ich wirklich Schlagzeug spielen konnte. Er sagte: ‚Okay, das ist gut.‘“

Als sie zum ersten Mal nach New York in Johns Wohnung kam, um die Band zu hören, war Maureen, die den Schlagzeuger Charlie Watts bewunderte, überwältigt. Sie begriff sofort, dass es sich bei Lou um einen hundertprozentigen Rockfreak handelte – und dass die Band ungewöhnlich gut war. „Als sie ‚Heroin‘ spielten, war ich echt beeindruckt. Man hörte sofort, dass es etwas Neues war.“

Maureens Schlagzeugstil war die Zusammenfassung all dessen, was sich bis jetzt in diesem Bereich der Rockmusik getan hatte; außerdem spielte sie, von afrikanischen Musikern beeinflusst, stehend und mit Schlagstöcken auf zwei Kesselpauken. „Der Stil, den ich entwickelte, war absolut bodenständig“, sagt sie. „Hauptsächlich deswegen, weil ich es nie richtig gelernt hatte – bis heute kriege ich keinen Trommelwirbel hin, beim besten Willen nicht, oder irgendwas von diesem anderen dekorativen Getrommel, und ich will es auch gar nicht. Ich wollte immer einen einfachen, gleichmäßigen Takt hinter der Band schlagen, sodass es immer ein tiefes Dröhnen ergab, das alles zusammenhielt, unabhängig davon, wie sehr John oder Lou da vorn ausrasteten.“ Als Person und am Schlagzeug methodisch und ausgeglichen, schlug Maureen einen beständigen Grundrhythmus. Da sie jünger als die Freunde ihres Bruders war, hielt sie sich meist zurück, äußerte jedoch ihre Meinung, wenn sie ihr wichtig erschien. Obwohl sie von der Musik der ­Velvets begeistert war, galt das nicht unbedingt für den Lebensstil der Band. Sie fand es verrückt, dass John und Lou Feuerholz von der Straße holten, um damit die Wohnung zu heizen. „Es war nicht besonders romantisch dort“, sagte sie später über die Wohnung. „Es stank.“

Der erste Auftritt der Velvet Underground fand am 11. Dezember 1965 in der Summit High School in Summit, New Jersey, statt. Man hatte ihren Auftritt zwischen zwei Bands eingeschoben, den 40 Fingers und The Myddle Class. „Die Kids und ihre Eltern, die sich dort im Zuschauerraum versammelten, waren durch nichts auf das vorbereitet, was sie an diesem Abend erwartete“, schreibt Rob Norris, ein Student der Summit High. „Der einzige Hinweis darauf bestand in einer Gruppe bizarr aussehender Leute, die direkt vor der Bühne herumhingen.“

Was den zarten Klängen, die die 40 Fingers ihren Gitarren entlockt hatten, folgte, war eine Performance, die jeden, der sich außerhalb des Avantgardezirkels der Lower East Side befand, schockiert hätte. Der Vorhang erhob sich für die Velvet Underground und gab den Blick auf vier langhaarige Personen frei; sie waren schwarz gekleidet und standen seltsam unwirklich hinter einer Vielzahl eigenartig aussehender Instrumente auf der Bühne. Maureen, eine knabenhafte, hermaphroditische Erscheinung, gab sofort Anlass zu Spekulationen, ob es sich hier um Männlein oder Weiblein handelte. Sterlings große, kantige Gestalt bewegte sich nervös im Hintergrund der Bühne von der einen auf die andere Seite. Lou und John, beide mit Sonnenbrillen, starrten ausdruckslos auf die erstaunten Studenten, Lehrer und Eltern, während sich John an seiner sonderbaren Viola zu schaffen machte. Als sie die Eröffnungsakkorde des kakophonischen „Venus In Furs“ in einer Lautstärke anschlugen, in der noch niemals jemand in diesem Raum Musik gehört hatte, rundeten sie damit ihr Image ab, das man, ohne zu übertreiben, als bizarr und erschreckend bezeichnen kann. „Alle waren wie erschlagen von dem kreischenden, bedrängenden Sound, dessen pochender Beat lauter war als alles, was wir je zuvor gehört hatten“, fährt Norris fort. „Nachdem der zweite Song, vom Sänger unter dem Titel ‚Heroin‘ angekündigt, etwa eine Minute angedauert hatte, wurde die Musik noch intensiver. Sie schwoll an und raste wie eine Flutwelle auf uns zu, die uns alle zu verschlingen drohte. An diesem Punkt angelangt, zog sich die Masse des Publikums, nun ganz und gar davon überzeugt, dass es sich bei Rock ’n’ Roll um eine äußerst gefährliche Sache handelte, in die Sicherheit ihrer Einfamilienhäuser zurück.“ Oder, wie Sterling es ausdrückte: „Ein Murmeln der Überraschung begrüßte uns, als sich der Vorhang hob, steigerte sich zu ungläubigem Gebrüll, als wir anfingen, ‚Venus‘ zu spielen, und schwoll zu einem wütenden, verwirrten Geheul an, als wir ‚Heroin‘ zu Ende gespielt hatten.“

„Nach dem Auftritt der Velvets konnte man hinter der Bühne den Bratschenspieler der Band sehen, wie er sich überschwänglich bei den aufgebrachten Musikern von Myddle Class dafür entschuldigte, dass die ­Velvets das halbe Publikum verjagt hatten“, schließt Norris seinen Bericht ab. „Al Aronowitz betrachtete das Ganze mehr von der philosophischen Seite. Er sagte: „Jedenfalls habt ihr ihnen zumindest einen Abend beschert, der ihnen noch lange zu denken geben wird“, und er lud alle zu einer Party in seinem Haus ein.

Nachdem er beobachtet hatte, dass die Gruppe eine besonders stimulierende und polarisierende Wirkung auf die Zuhörer ausübte, gab Arono­witz der Band den Rat, sich mehr Bühnenerfahrung anzueignen, indem sie ein Dauerengagement in einem der kleineren Klubs annahmen. Vier Tage später unterzeichneten sie für zwei Wochen im Café Bizarre, das sich in der MacDougal Street im New-Yorker Greenwich Village befand. „Wir spielten einige gecoverte Titel wie ‚Little Queenie‘, ‚Bright Lights, Big City‘, die schwarzen Rhythm&Blues-Songs, die Lou und ich mochten, und so viel von unseren eigenen Songs, wie wir hatten“, berichtet Sterling. „Wir brauch­ten dringend mehr eigenes Material, also setzten wir uns zusammen und arbeiteten, wir schrieben damals zum Beispiel ‚Run Run Run‘, alle diese Sachen. Normalerweise schrieb Lou irgendwelche Texte, und daraus entwickelte sich dann etwas beim Improvisieren. Lou war ein erstklassiger Stegreiftexter. Ich erinnere mich, dass wir den Weihnachtsbaum schon aufgestellt hatten, aber er war noch nicht geschmückt, denn wir waren vollauf damit beschäftigt, Songs zu schreiben, es blieb uns nichts anderes übrig, wir brauchten sie noch am gleichen Abend.“

Diese zufälligen Ereignisse waren entscheidend für die Karriere der Band. Als Erstes entschlossen sie sich – anfänglich sehr zu Cales Kum-mer –, Maureen als Schlagzeugerin zu behalten, da so wenig Zeit zwischen den beiden Auftritten lag. Moe erinnert sich daran, wie sie mit John auf der Straße stand und er ständig vor sich hin sagte: „Keine Tussis in der Band. Keine Tussis.“ Zweitens war genau zu dem Zeitpunkt, als sie im Café Bizarre vor gleichgültigen Touristen zweimal pro Abend für fünf Dollar pro Mann aufspielten, der Popkünstler und Unternehmer Andy Warhol auf der Suche nach einer Gruppe. Diese sollte in einem Nachtklub auftreten, um dessen Management Andy von dem Theaterimpresario Michael Myer­berg (er hatte 1956 Becketts Warten auf Godot in die Staaten gebracht) gebeten worden war.

Barbara Rubin, in deren Film Christmas On Earth die Band in ihrer vorherigen Besetzung gespielt hatte, verbrachte viel Zeit in Andy Warhols Studio, der berühmten Factory; sie war der Ansicht, die Velvets seien die perfekte Band für Warhols zukünftige Diskothek. Sie nahm Warhols wich­tigste Talentesucher, den Regisseur Paul Morrissey und den Underground-Filmstar Gerard Malanga, beiseite und zog mit ihnen los, um sich die Band anzusehen. Malanga, der gerade in Vinyl, Andy Warhols Version von A Clock­work Orange, groß herausgekommen war, war ein außerordentlich gut aussehender junger Mann mit einer ausgeprägt erotischen Ausstrahlung. Er sah aus wie eine Mischung aus Elvis Presley und James Dean, hatte langes Haar wie Mick Jagger, war von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet und trug stets – ausschließlich des dramatischen Effekts wegen – eine Rindslederpeitsche bei sich, die er sich um die Schultern seiner Lederjacke wickelte. Während die Velvets auftraten, sprang Gerard plötzlich von seinem Tisch auf und begab sich auf die leere Tanzfläche. Alle anderen Zuhörer waren zu sehr von der Musik geschockt, um ans Tanzen zu denken. Malanga machte reichlich Gebrauch von seiner Peitsche und begann einen finsteren, erotischen Tanz, dessen wellenförmige Bewegungen genau den aufwüh­lenden, pochenden Rhythmus der Musik wiedergaben. Die Band war angesichts Gerards umwerfender Darbietung sprachlos. In einer kurzen Pause kamen Lou und John an seinen Tisch und erklärten ihm, er könne jederzeit wiederkommen und tanzen. Malanga erkannte sofort, dass sich aus dieser Konstellation eine Hauptrolle für ihn ergab, und fand die Gruppe für Warhols Zwecke perfekt geeignet.

Am folgenden Abend erschien Malanga erneut im Café Bizarre, diesmal in Begleitung von Barbara Rubin, Warhols Manager Paul Morrissey und Warhol selbst, der von seiner üblichen Truppe, inklusive Edie Sedgwick, dem amtierenden Superstar, umgeben war. Alle waren fasziniert von der ausgeflippten, kompromisslosen Vorstellung der Velvet Underground. Nicht nur, dass die Gruppe eine ähnliche Wirkung auf Menschen ausübte wie Andys Filme – das Publikum fühlte sich unwohl –, auch ihr Name und ihre Texte, die sich ausschließlich um Tabuthemen drehten, passten genau in sein Programm. Obendrein war Morrissey völlig begeistert von der androgynen Schlagzeugerin der Band. Nach dem Auftritt brachte Barbara die Band an Andys Tisch. Der lockenköpfige Lou Reed mit seinem schüchternen Kaugummilächeln hatte ein ähnliches Temperament wie Warhol. Er setzte sich neben den Popkünstler, und die beiden verstanden sich auf Anhieb. „Damals sah Lou gut und pubertär aus“, erinnerte sich Warhol. „Paul wusste sofort, dass sich die Kids von Long Island mit ihm identifizieren würden.“

Morrissey, nach Malanga derjenige, der auf Andy den größten Einfluss hatte, war fasziniert. „John Cale sah wunderbar aus, und er spielte eine elektrische Bratsche, das war etwas ganz Neues; aber am besten war Maureen Tucker, die Schlagzeugerin. Man konnte die Augen nicht von ihr abwenden, weil man einfach nicht erkennen konnte, ob sie ein Junge oder ein Mädchen war. Bis dahin hatte es noch nie einen weiblichen Schlagzeuger gegeben. Sie bewegte sich nicht, blieb völlig ruhig. Ich schlug vor, einen Vertrag mit ihnen abzuschließen; wir würden sie managen und ihnen einen Ort bieten, wo sie spielen konnten.“

„Wir sahen uns alle an“, erinnert sich Lou, „und sagten: ‚Das hört sich wirklich nach jeder Menge Spaß an.‘“

Lou Reed - Transformer

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