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Töte deinen Sohn

Elektroschock: 1959–1960

„Ich habe keine Persönlichkeit.“

— Lou Reed

1959 war ein schlechtes Jahr für Lou. Mit seinen siebzehn Jahren hatte er die Rolle des bösen Jungen bereits einstudiert. Das ging schon seit 1954 so, als Lou am Tag, nachdem sich der Bluesgitarrist Johnny Ace erschossen hatte, mit einer schwarzen Trauerbinde in der Schule aufkreuzte. Seither ließ er keine Gelegenheit aus, um die ganze Familie zum Wahnsinn zu treiben.

Wie ein Tyrann herrschte er über das gutbürgerliche Haus; er fetzte kreischende Akkorde aus seiner elektrischen Gitarre heraus, gewöhnte sich an, wie eine Frau zu gehen, nahm seine Schwester zu verschwörerischen Zwiegesprächen beiseite und drohte mit launischen Ausfällen der übelsten Sorte, falls ihm nicht alle ständig ihre totale Aufmerksamkeit zuwandten. In diesem Frühling sandten Sidney und Toby Reed, Lous eher altmodische Eltern, ihren Sohn zu einem Psychiater. Sie wollten Lou von seinen homo­sexuellen Gefühlen und seinen beunruhigenden, plötzlichen Stimmungsumschwüngen kurieren lassen. Daraufhin verschrieb der Arzt eine zu jener Zeit sehr populäre Therapie, der sich unter anderem Jacqueline Kennedy und der Schriftsteller Delmore Schwartz kurz zuvor unterzogen hatten.

Der Arzt erklärte, Lou würden einige Besuche im Creedmore Psychiatric Hospital gut tun. Dort würde er, über einen Zeitraum von acht Wochen, dreimal pro Woche mit Elektroschocks behandelt werden, und anschließend benötige er eine intensive therapeutische Nachbehandlung.

1959 stellte man ärztliche Diagnosen nicht infrage. „Seine Eltern wollten ihn nicht quälen“, erklärte ein Freund der Familie. „Sie wollten nur, dass er gesund wird. Sie versuchten eben einfach, Eltern zu sein, und deswegen wollten sie, dass er sich anständig aufführte.“ Erschrocken akzeptierten die Reeds die Diagnose.

Das Creedmore State Psychiatric Hospital lag an einem besonders häss­lichen Fleck der öden Insel Long Island.

Sechstausend Patienten konnten in dieser großen, staatlichen Einrichtung untergebracht und behandelt werden. Das Gebäude Nummer sechzig war auf majestätische Weise unheimlich. Es hatte vierundzwanzig Stockwerke, war an die zweihundert Meter lang und brütete drohend, wie ein monströser Vogel aus der Urzeit, über der Landschaft. Hunderte von verschiedenen Gängen führten zu den Aufsehern, den Büroräumen, den Hörsälen. Sämtliche Türen waren mit Vorhängeschlössern gesichert und in einem beruhigenden, unwirklichen Kremweiß gestrichen. Die Fens­ter waren von innen vergittert, außen war Stacheldraht angebracht. Eine der schaurigsten Abteilungen war die für Elektroschockbehandlung.

Dorthin begab sich, an einem frühen Sommertag, ein aufgekratzter, etwas verwirrter Lou. Er wurde durch das Labyrinth der Gänge geführt und behauptete später, er habe nicht gewusst, dass seine erste psychiatrische Behandlung ausschließlich aus Stromstößen bestehen würde, die man durch sein Gehirn jagte. Jede Tür, durch die er hindurchging, wurde von einem Wächter erst auf- und dann hinter ihm wieder zugeschlossen. Zuletzt wurde er in der Elektroschockabteilung eingeschlossen, wo man ihm ein viel zu kleines Krankenhaushemd gab. Als er da im Warteraum saß, gemeinsam mit den anderen Patienten, die seiner Ansicht nach eher wie Gemüse aussahen, sah er das erste Mal den Behandlungsraum. Eine massive, milchig weiße, mit Nieten gespickte Metalltür schwang auf, und man konnte das bewusstlose, wie tot daliegende Opfer sehen. Dann rollte eine Krankenschwester mit steinernem Gesicht den Körper auf einer Trage in den Aufwachraum. Plötzlich wurde Lou klar, dass er der Nächste sein würde.

Er wurde in den kleinen, nüchternen Behandlungsraum hineingefahren, dessen einzige Einrichtung aus einem Tisch und einem großen Metallstück bestand, aus dem zwei dicke Drähte herabbaumelten. Lou wurde auf dem Tisch festgeschnallt. Er starrte auf das fluoreszierende Lichtgitter über seinem Kopf, während die Wirkung des Beruhigungsmittels eintrat. Eine Krankenschwester trug Salbe auf seine Schläfen auf, schob ihm eine Art Knebel in den Mund, der verhindern sollte, dass er seine Zunge verschluckte. Sekunden später wurden die Kontakte, die sich an den Enden der dicken Drähte befanden, an seinem Kopf befestigt. Das Letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor, war ein blendendes, weißes Licht.

Anders als heute stimmte man in den Fünfzigerjahren die Strom­spannung nicht individuell auf den Patienten ab – weder auf seine Körper­größe noch auf seinen geistigen Zustand. Jeder bekam die gleiche Dosis. Der sensible Siebzehnjährige erhielt die gleiche Dosis an Stromstößen wie ein schwergewichtiger Massenmörder. Der Strom, der durch Lous ­Körper schoss, veränderte die Schaltkreise seines Gehirns und verursachte einen fürchterlich anzusehenden Krampfanfall, der jedoch für ihn schmerzlos war, weil er das Bewusstsein verloren hatte. Als Lou einige Minuten später wieder zu sich kam, war er totenbleich, Speichel rann aus seinem Mund, seine Augen waren rot und tränten.

Dann fand sich der erschrockene Patient wieder in einem schwach beleuchteten Wartezimmer, dem ausdruckslosen Blick einer Krankenschwester ausgesetzt, ganz so wie eine Figur in einer Geschichte seines Lieblingsschriftstellers Edgar Allan Poe. „Du musst dich entspannen“, instruierte sie den völlig verängstigten Jungen. „Wir versuchen nur, dir zu helfen. Würde einer mal ein Kissen holen, um ihn aufzusetzen? Eins-zwei-drei-vier. Und entspannen.“ Er war bereits bei vollem Bewusstsein, als sein Körper endlich aufhörte zu zucken und das Beißholz aus seinem Mund entfernt wurde. Während der nächsten halben Stunde versuchte er, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Voller Panik bemerkte er, dass er sein Gedächtnis verloren hatte. Gedächtnisverlust war eine unangenehme Nebenwirkung der Elektroschocktherapie, aber alle Veränderungen des Gehirns wurden als „vorübergehend“ betrachtet, und nach der Meinung der Experten kamen dauerhafte Gehirnschäden höchst selten vor.

Als Lou Reed das Hospital verließ, dachte er jedoch, dass „Gemüse aus ihm geworden“ sei, erinnert er sich. „Du kannst kein Buch mehr lesen, denn ab Seite siebzehn musst du wieder von vorn anfangen. Oder, wenn du das Buch eine Stunde weglegst und dann wieder da beginnen willst, wo du aufgehört hast, kannst du dich nicht an die Seite erinnern, die du zuletzt gelesen hast. Ich musste immer wieder von vorn anfangen. Wenn du nur einmal um den Block gelaufen bist, hattest du vergessen, wo du warst.“ Für einen Mann, der unter anderem Schriftsteller werden wollte, war das ein schwerer Schlag.

Die Nachwirkungen der Elektroschockbehandlung, unter denen auch Lou zu leiden hatte, beschrieb Ken Kesey in Einer flog übers Kuckucksnest folgendermaßen: „Man befand sich in einem nebligen verworrenen Bereich, ähnlich den ausgefransten Rändern des Schlafes, der grauen Zone zwischen Tag und Nacht, oder zwischen Schlafen und Wachen und Leben und Sterben.“ Lous Albträume wurden von der traurigen, stumpfweißen Farbe der Krankenhäuser beherrscht. In einem Gedicht drückte er es so aus: „How does one fall asleep / When movies of the night await, / And me eternally done in“ (Wie soll man nur einschlafen, / Wenn einen die Filme der Nacht erwarten, / um mich fertig zu machen). Jetzt fürchtete er sich vor dem Einschlafen und sollte seit jener Zeit ständig unter Schlaflosigkeit leiden.

Lou durchlitt die Elektroschockbehandlung acht Wochen lang. Dabei verfolgte ihn die Angst, dass seine Eltern bei dem Versuch, das „Abnormale“ seiner Persönlichkeit zu eliminieren, ihn fast zerstört hatten. Das Gefühl von Entfremdung und Wirklichkeitsverlust wurde durch den Tod der berühmten Jazzsängerin Billie Holiday und den quälenden Refrain des Paul-Anka-Hits „Lonely Boy“, einer populären Ballade zum Thema „Teenagerangst“, noch verstärkt.

Lou war der Ansicht, dass die Schockbehandlungen dazu beitrugen, alles noch in ihm vorhandene Mitgefühl radikal auszumerzen, und dass er seine Umgebung nur noch verkümmert und bruchstückhaft wahrnahm. „Ich glaube, jeder verfügt über eine bestimmte Anzahl von Persönlichkeiten“, sagte er zu einem Freund. Er zeigte ihm ein kleines Notizbuch, in das er hineingeschrieben hatte: „‚Lou drei an Lou acht – Hallo!‘ Du wachst morgens auf und fragst dich: ‚Wer ist denn eigentlich heute dran?‘ Nachdem du das festgestellt hast, schickst du ihn los. Fünfzehn Minuten später taucht ein anderer auf. Falls also gerade keiner zum Quatschen da ist, habe ich immer ein gutes Dutzend Leute in meinem Kopf, denen ich beim Sprechen zuhören kann. Ich kann mit mir selber reden.“

Nach Ablauf der achtwöchigen Behandlung wurde Lou auf starke Beruhigungsmittel gesetzt. „ICH HASSE PSYCHIATER. ICH HASSE PSYCHIATER. ICH HASSE PSYCHIATER“, schrieb er später in dem Gedicht People Must Have To Die For The Music. Aber zutiefst in seinem Inneren waren es seine Eltern, von denen er sich verraten fühlte. Wenn sie ihn wirklich geliebt hätten, hätten sie die Elektroschockbehandlungen niemals zulassen dürfen.

Lewis Alan Reed wurde am 2. März 1942 im Beth El Hospital in Brook­lyn geboren. Sein Vater, Sidney George Reed, ein klein gewachsener, schwarzhaariger Mann, der ursprünglich Rabinowitz hieß, war Steuer­berater. Seine Mutter, Toby Futterman, sieben Jahre jünger als ihr Mann und eine ehemalige Schönheitskönigin, war Hausfrau. Beide Eltern waren alteingesessene New-Yorker – Sidney kam aus Manhattan, Toby aus Brook­lyn – und hatten sich seit kurzem in Freeport, Long Island, als Angehörige der oberen Mittelschicht niedergelassen. Lou entwickelte sich zu einem kleinen, schmächtigen Kind mit unordentlichen schwarzen Haaren und vorstehenden Zähnen. Er war nervös und sehr sensibel. Zu dieser Zeit hatte sich seine Mutter – der Prototyp der jüdischen Mutter schlechthin – von einer Schönheitskönigin in eine reizende, höfliche, konservative Hausfrau verwandelt. Lou charakterisierte sie später in dem Song „Standing On Ceremony“, von dem er sagte: „Ich habe ihn für meine Mutter geschrieben.“ Sie wollte, dass ihrem Sohn alle Chancen offen stünden, und träumte davon, dass er eines Tages Arzt oder Anwalt werden würde.

Das emotionale Umfeld, das Lou prägte, war durch eine alles erstickende Elternliebe gekennzeichnet. „Nichtjuden verstehen nichts von jüdischer Liebe“, schrieb Albert Goldman in seiner Biografie über Lenny Bruce, der auch eines von Lous Vorbildern bei der Gestaltung seiner späteren Rollen wurde. „Sie können diese positive, gefühlsbetonte Liebe, die gleichzeitig so von negativen Impulsen durchsetzt und so von widersprüchlichen Gefühlen belastet ist, dass sie ständig auf der Kippe steht, einfach nicht begreifen. Jüdische Liebe ist Liebe, das ist schon richtig, aber sie ist so voller Mitleid, so von oben herab, so angereichert mit schweigender Missbilligung und stummem Tadel oder sogar Abscheu, dass man als Objekt dieser Liebe ebenso gut ein Objekt des Hasses sein könnte. Jüdische Liebe hat dazu geführt, dass sich Kafka wie eine Küchenschabe fühlte … Und diese Mischung aus Selbstliebe und Selbsthass wird von Generation zu Generation weitergegeben, wie ein Brandzeichen oder ein genetischer Code. Die Mutter reicht sie an den Sohn weiter, der Sohn an die Frau, die er heiratet, und diese wiederum gibt sie an seinen Sohn, oder falls das nicht klappt spielt er Mutter und gibt sie an den Sohn weiter. Die ganze Genealogie einer Familie wird durch diese Doppeldeutigkeit strukturiert, so wie Eisenspäne in einem Magnetfeld.“

„Lous Mutter zeigte das jüdische Mutter-Syndrom bei ihrem ersten Kind“, erzählt ein Freund der Familie. „Dem ersten Kind wird zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Der Kleine sagt dann: ‚Schau mir zu, schau mir zu, schau mir zu.‘ Man kann ihnen nie genug Beachtung schenken, und deswegen sind sie auch nie richtig glücklich, denn sie erwarten ja, dass sie dauernd beachtet werden. Seine Mutter ging nicht frühmorgens los zur Arbeit, sie war wirklich rund um die Uhr Mutter. Immer auf dem Beobachtungsposten. Und so haben sie dem Kind eine Kulisse aufgebaut, die es im späteren Leben nie wieder finden konnte.“

Als Lou fünf Jahre alt war, bekamen die Reeds ihr zweites Kind, Eliza­beth, zärtlich Bunny genannt. Einerseits war Lou ganz vernarrt in seine kleine Schwester, andererseits war ihre Ankunft für ihn sehr beunruhigend. Die Liebe seiner Mutter war eine Falle, und der Köder bestand in der gefühlsmäßigen Erpressung. Erstens: Da das Glück der Mutter vom Glück ihres Sohnes abhängt, ist es die Pflicht des Sohnes, glücklich zu sein. Zweitens: Mutterliebe ist so überwältigend, dass es für den Sohn unmöglich ist, ihr ein gleiches Maß an Liebe zurückzugeben; deswegen ist er grundsätzlich schuldig. Mit der Ankunft der Schwester ist die Mutterliebe nicht mehr uneingeschränkt auf ein Kind bezogen. Die Kombination dieser drei Elemente führt schließlich dazu, dass der Sohn emotional in eine Lage gerät, die ihn völlig überfordert. Er fühlt sich ohnmächtig, verwirrt und wütend. Die Falle spannt sich durch das Unvermögen, über diese Konflikte zu reden. Der Sohn unterdrückt seine feindselige Verbitterung, bis er eine Frau heiratet, die seine Mutter ersetzt. Und dann schnappt die Falle zu – mitten ins Gesicht seiner Frau.

Goldmans Schlussfolgerung aus dieser emotionalen Konstellation traf auf Reed ebenso zu wie auf Bruce: „Die Söhne entwickeln gespaltene Persönlichkeiten. Sie lieben, wenn sie hassen, und sie hassen, wenn sie lieben sollten. Sie gehen Bindungen mit Frauen ein, die sie verletzen, und behandeln Frauen, die ihnen wahre Liebe schenken, mit Verachtung. Bei der Arbeit sind sie oft sehr talentiert, aber ihre männliche Persönlichkeit bleibt im Privatleben oft merkwürdig unterentwickelt.“

Im Jahr 1953 – dem Jahr, in dem es mit der Rockmusik richtig losging – zogen die Reeds von ihrer Wohnung in Brooklyn in das Haus in Freeport. Das moderne, eingeschossige Anwesen lag in der Oakfield Avenue Nummer 35, an der Kreuzung von Oakfield und Maxon, in dem „The Village“ genannten Mittelschichtviertel von Freeport. Die anderen Häuser dort waren im Kolonial- oder Wildweststil erbaut, aber die Familie Reed wohnte in einem modernen, rechteckigen Flachbau, der von den Freunden auch als „Hühnerstall“ bezeichnet wurde.

Obwohl der Bungalow von außen sehr nüchtern und ein wenig seltsam wirkte, waren die Innenräume gut geschnitten und verfügten über allen Komfort und die modische Einrichtung im Stil der Fünfzigerjahre. Der Rasen, der das Haus von allen Seiten umgab, war ein idealer Spielplatz für Kinder, und außerdem gab es zwei Garagen. Die breiten, ruhigen Straßen der Gegend dienten oft als Baseball- und Footballfelder, auf denen die Jugendlichen aus der Nachbarschaft zu einem schnellen improvisierten Spiel zusammenkamen.

In der näheren Umgebung wohnten hauptsächlich Juden aus der oberen Mittelschicht. Genau wie den europäischen Juden, die nach wie vor einwanderten, war auch den etablierten amerikanischen Juden die Vorstellung eines großstädtischen, ghettoartigen Judenviertels unerträglich geworden. Viele jüdische Familien, die es im Nachkriegsamerika zu etwas gebracht hatten, waren aus New York weggezogen. Sie lebten in Vorstädten, die alle gleich aussahen, und versuchten die letzten Spuren des Ghettos zu ver­wischen, indem sie ein Mittelschichtleben führten, das sie amerikanisieren und integrieren würde. Durch die Abwanderung von New York nach Long Island entstand dort eine Mittelschicht in den Vorstädten, die Geld mit Stabilität gleichsetzte und Reichtum mit Status und Macht. Freeport hatte zu dieser Zeit etwas weniger als dreißigtausend Einwohner. Es lag an den Freeport und Middle Bays, direkt am Atlantik, und war durch den schmalen, vorgelagerten Long Beach vor dem Ozean geschützt. Die Stadt, eine von tausenden, die Long Island der Länge nach überzogen, war ausschließlich auf die Bedürfnisse der hier lebenden Mittelschichtfamilien eingerichtet. Und obwohl es nur fünfundvierzig Minuten dauerte, um mit dem Auto oder dem Zug nach Manhattan zu fahren, hätte man von Brooklyn, wo die Familie gerade hergekommen war, ebenso gut Lichtjahre entfernt sein können. Mit gefällig angelegten Parks, Stränden, Einkaufszentren und Schulen war Freeport das reinste Vorstadt-Utopia.

Lewis war umgeben von Kindern, die genau dem gleichen sozialen und ökonomischen Milieu entstammten wie er selbst. Sein bester Freund, Allen Hyman, der immer bei den Reeds aß und nur anderthalb Blocks entfernt wohnte, erinnerte sich: „Ihr Haus war im Stil der Fünfziger eingerichtet, also modern für die damalige Zeit, Wohn- und Esszimmer. Meiner Ansicht nach entsprach seine Erziehung, zumindest von der sechsten Klasse an, absolut den Werten der vorstädtischen Mittelschicht.“

Nachdem sie die Carolyn-G.-Atkinson-Grundschule und danach, im Frühling 1965, die Freeport Junior High abgeschlossen hatten, wechselten Lewis und seine Freunde zur Freeport High School (mittlerweile ersetzt durch eine Junior High, die wie ein Bunker aussieht). Diese Schule glich einem englischen Internat, wie Eton oder Rugby. Das lang gezogene Steingebäude mit seiner verzierten Fassade und den weitläufigen Rasenflächen lag an der Ecke von Pine und South Grove. Vom Haus der Reeds aus war es ein zehnminütiger Spaziergang dorthin, durch die von Bäumen gesäumten Straßen des Freeport Village hindurch und dann direkt auf der anderen Seite des verkehrsreichen Sunrise Highway. „Ich fing mit dem Brook­lyn Public School System an, und von da an habe ich alle Schulen und jede Form von Autorität gehasst“, sagte Lou später.

Die Gegend hatte von jeher Komödianten angezogen und ihren ganz eigenen Humor entwickelt. Freeports Haupterwerb in den Zwanziger­jahren war die Muschelfischerei gewesen. Außerdem gab es hier einen aktiven Ku-Klux-Klan sowie den Deutsch-Amerikanischen Bund im nahe gelegenen Lindenhurst. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren ließen sich viele Vaudeville-Komiker von der Ostküste hier nieder. Sie brachten nicht nur sentimentalen Kitsch und einen exzentrischen Lebensstil in die Stadt, sondern in ihrem Gefolge tauchten auch die ersten Schwarzen in Freeport auf, die anfangs noch als deren Dienstboten arbeiteten. Zu dem Zeitpunkt, als die Reeds sich hier niederließen, waren diese Leute aus dem Show­geschäft gerade dabei, ihre eigenen künstlerischen Neigungen mit den musikalischen Traditionen von Freeport zu verknüpfen. Zu den direkten Nachbarn der Reeds gehörten Leo Carillo, ein Schauspieler, der in der populären Fernsehsendung The Cisco Kids den Pancho spielte, Xavier Cugats erster Marimba-Spieler und außerdem June Lockhart, die Fernseh­mutter von Lassie. Die Guylanders – wie sich die Leute von Long Island nannten – ließen sich jedoch von all diesen Berühmtheiten, Würden­trägern, Namen und Allüren, die den New-Yorkern, insbesondere den „Manhattanites“, so viel bedeuteten, nicht beeindrucken. „Von Lou ist mir am stärksten sein überwältigendes Gespür für Satire im Gedächtnis geblieben“, erinnert sich John Shebar, ein Freund aus der Highschool. „Er legte eine gewisse Respektlosigkeit an den Tag, die ungewöhnlich war. Meistens machte er sich über die Lehrer lustig oder spielte eine lächerliche Szene, die sich im Unterricht ereignet hatte, nach.“

Als Kind beherrschte Lewis alle Nuancen des jüdischen Humors. Hier gab es keinen Witz, der sich nicht der Tatsache bewusst war, dass sich darunter eine tiefe Traurigkeit verbarg, die von dem Bösen, das untrennbar mit dem menschlichen Leben verbunden ist, herrührte. Jüdischer Humor spielte mit schneidenden, spöttischen Bemerkungen – stets in der Absicht, denjenigen, dem der Angriff galt, in den Augen Gottes zu erniedrigen.

Trotz seines eher zurückhaltenden Wesens besaß Sidney Reed eine ausgeprägte Ader für den jüdischen Humor, die er an seinen Sohn vererbte. Ein Freund der Familie erinnert sich an einen Besuch und erzählt: „Lous Vater war wirklich sehr witzig, sehr trocken. Ein echter Partner für Lou. Das war Humor im jüdischen Sinn, sehr lästernd. Ein jüdisches Kompliment ist wie eine Beleidigung oder eine unerwartete Ohrfeige. Es hat immer einen Beigeschmack von Gemeinheit. So nach dem Motto: Man sollte im Angesicht Gottes besser nicht zu schlau sein. Nur Gott ist perfekt, und so hübsch du auch sein magst, ist es doch besser, wenn du dich daran erinnerst, dass dein Kopf nicht wie eine Zwiebel wächst, wenn du ihn in die Erde steckst. Das Ganze kann man dann entweder persönlich nehmen, was Lou, wie ich glaube, unglücklicherweise auch tat, oder eben nicht.“

Durch Lous Kindheit hindurch hatte der Humor von Sidney Reed merkwürdige Auswirkungen auf das Familienleben. Seine treffsicheren Sticheleien führten dazu, dass sein Sohn sich unterlegen und herabgesetzt fühlte und seine Frau etwas dümmlich wirkte. Aber Toby war nicht nachtragend, sie bewunderte ihren Ehemann gerade, weil er so witzig und schlau war. Lou war jedoch nicht so großzügig. „Lous Mutter dachte von sich, dass sie nicht gerade die Hellste sei“, berichtet ein Familienfreund. „Lou fand es dumm von ihr, seinen Vater für so klug zu halten. Ich denke, er war eifersüchtig. Ich glaube, dass er ihre ganze Aufmerksamkeit für sich allein haben wollte.“ Einem anderen Freund zufolge war Sidney Reed nicht nur ein heller Kopf, sondern er hatte auch eine sehr gute Beziehung zu Toby, die ihn sehr liebte und schätzte – zum großen Kummer von Lewis, der besitzergreifend, selbstsüchtig und überaus eifersüchtig war. „Ich erinnere mich, dass sich seine Mutter immer sehr über seinen Vater amüsierte. Sie bewunderte ihn rückhaltlos, und ich denke, es ist schade, dass Lou seinen Vater nie so sehen konnte, wie er wirklich war.“

Ein Freund, der Lou täglich zur Schule begleitete, erinnert sich daran, dass Toby Reed ihren Sohn mit Aufmerksamkeit und Fürsorge geradezu überschüttete. „Ich glaube, seine Mutter war ziemlich bestimmend. Das sah man an der Art, wie er über sie sprach. Sie war die typische jüdische Mutterglucke. Sie wollte, dass er gute Noten bekam und promovierte …“ Diese Haltung war natürlich auch typisch für alle die Rund-um-die-Uhr-Mütter in den Fünfzigerjahren, in denen die Familie eine große Rolle spielte. In dieser Hinsicht fand Allen Hyman sie auch nicht besonders ungewöhnlich:

„Ich fand Lewis’ Mutter immer sehr nett“, sagt er. „Sie war immer sehr nett zu mir. Ich fand sie nicht tyrannisch, aber vielleicht sah Lou das anders. Meiner Erfahrung nach waren seine Eltern jedenfalls nette Leute. Vielleicht hat er sie auch einfach anders gesehen, als sie wirklich waren. Meine Mutter und mein Vater kannten seine Eltern, und meine Mutter kannte seine Mutter. Es waren Eltern, die sich eben sehr mit ihren Kindern beschäftigten. Ich habe seine Mutter immer nur richtig nett erlebt. Wenn wir sie besuchten, war sie stets darauf bedacht, dass es etwas zu essen gab. Sein Vater war Steuer­berater, und er schien ein besonders netter Kerl zu sein. Aber Lou spielte immer den Rebellen, und ich vermute, dass er sich an seinem etwas spießigen Mittelstandsleben störte. Als wir zusammen aufwuchsen, hatte ich aber immer den Eindruck, dass er seinen Eltern sehr nahe stand.

Seine Mutter und sein Vater mussten einiges über die Jahre mitmachen, und sie haben ihn immer unterstützt. Ich hatte den Eindruck, dass Mr. Reed ein schüchterner Mann war. Jedenfalls war er sicher nicht der große Macker. Wenn man mit bestimmten Eltern ausging, war das sehr lustig. Sie sorgten für Unterhaltung und spendierten uns etwas zu essen; aber wenn man mit Sidney Reed ausging, zahlte man selbst. Für Kids war das ziemlich ungewöhnlich. Die Rechnung kam und er sagte: ‚Du musst so und so viel zahlen.‘ Das war eigenartig. Aber so war er eben – ein Steuerberater.“

Sein Vater war sehr ruhig, aber seine Mutter hatte viel Energie und Charakter. Sie war eine attraktive Frau und trug das Haar kurz. Sie hatte eine hübsche Figur und war immer tadellos gekleidet. „Er fand die Vorstellung von Geschlechtsverkehr immer abstoßend, besonders was seine eigene Zeugung betraf“, schrieb Lou im Eröffnungssatz der ersten Kurzgeschichte, die er jemals veröffentlichte. Die Geschichte war eine Seite lang, hatte keinen Titel, war mit Luis Reed unterzeichnet und erschien in der Zeitschrift The Lonely Woman Quarterly, die Lou 1962 an der Syracuse University herausgab. Darin thematisierte er alle gestörten Beziehungen innerhalb einer Familie, die ihn auch später im Privatleben und bei der Arbeit beschäftigen sollten.

Seine fantastisch-dämonische Beziehung zu allem Geschlechtlichen war sehr ausgeprägt. Entweder betete er seine Liebhaber an, oder er versuchte auf allen möglichen einfallsreichen Wegen, ihre Seelen zu zerstören. Die Psychologie der Geschlechter war alles für ihn. Lou hatte die besondere Fähigkeit, alle, die ihm nahe standen, dazu zu bringen, dass sie sich schrecklich fühlten. Niemand verstand das besser als Lous Eltern, die die Zielscheibe seines inneren Aufruhrs waren. In der Kurzgeschichte ließ Lou seine Mutter sagen: „Letzte Nacht hat Daddy Mama wehgetan“, und der Höhepunkt bestand in einer Szene, in der Mama „ihren kleinen Jungen“ verführt. Später schrieb Lou in „How Do You Speak To An Angel“ über den Fluch, eine „Dirne zur Mutter zu haben, einen schwachen, jämmerlichen Vater, Sohnes­liebe und Inzest“. Nach allem, was man weiß, hat sich nichts in dieser Art jemals im Haushalt der Reeds abgespielt. In jedem Fall zeugen diese ödipalen Fantasien aber von einem turbulenten Seelenleben und einer ausgeprägten Reaktion auf das Hass-Liebe-Schema der Familie.

In seinen späten Dreißigern schrieb Lou eine Reihe von Songs über seine Familie. In einem davon sagte er, dass er ursprünglich einmal so werden wollte wie sein „alter Herr“, es dann aber doch satt hatte, ständig von ihm angemacht zu werden, und außerdem würde ihm kotzübel, wenn er sah, wie sein Vater seine Mutter schlug. Der Song erreichte seinen Höhepunkt in der Szene, in der ihm sein Vater sagt, er solle sich wie ein richtiger Mann verhalten. Und deshalb, so schloss er daraus in einem anderen Lied, wollte er nicht so werden wie sein „alter Herr“. Was in den Fünfziger­jahren im Amerika der Vorstädte als wohlwollende Dominanz des Vaters galt, wurde von Lou zu einer Art machiavellischer Tyrannei dramatisiert, als deren Opfer er vor allem seine Mutter sah, obwohl das in Wirklichkeit nicht der Fall war. Seine Freunde und die Familie waren schockiert über Lous Geschichten und Songs, die von innerfamiliärer Gewalt und Inzest handelten, und behaupteten, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Tatsächlich waren Sidney und Toby Reed ganz vernarrt ineinander, nach zwanzig Jahren Ehe waren sie immer noch richtig verknallt. Und was die Gewalt betrifft, so regte sich Sidney Reed nur darüber auf, dass Lou sich seiner Mutter gegenüber sehr gemein benahm.

Lous Launenhaftigkeit war nur ein Hinweis darauf, dass er dabei war, ein ausgeprägtes Innenleben zu entwickeln. Lou war ein begeisterter Science­fiction-Leser und schrieb neben seinen Songs auch Geschichten und Gedichte. „Im ersten Jahr auf der Highschool experimentierte er viel beim Schreiben“, berichtet Hyman. „Er schrieb eine ganze Menge. Er füllte ganze Notizbücher mit Gedichten und Kurzgeschichten, und sie waren immer düster. Ich meine, er schrieb nie über Blumen und solches Zeug.“

Reed und seine Freunde waren auch in Leichtathletik aktiv. Freeport High war eine Football-Schule. Unter der grandiosen Führung des Trainers Bill Ashley schwangen sich die Freeport High Red Devils zum Stolz der Stadt auf. Später schrieb Lou in Coney Island Baby, dass er Football nur für den Trainer spielen wollte – „den ehrlichsten Typen, den ich je kennen lernte“. Aber er hatte weder die richtige Größe noch die sportlichen Fähigkeiten dazu – und er hat es auch nicht versucht. Stattdessen schloss sich Lou dem Leichtathletikteam der Highschool an. Er war ein guter Läufer und kräftig genug für den Stabhochsprung. (In Take No Prisoners sagte er später, er habe im Stabhochsprung nur zwei Meter geschafft – „eine jämmerliche Vorstellung“.) Obwohl er Sportarten, bei denen er allein kämpfte, dem Teamsport vorzog, war er doch in Freeport als sehr guter Basketballspieler bekannt. „Lou war nicht bloß witzig, er war auch ein guter Sportler“, erinnert sich Hyman. „Er war immer irgendwie dünn und schlaksig. In der Nähe unseres Hauses gab es einen Park, und dort gingen wir gewöhnlich hin und spielten Basketball. Er war sehr auf Konkurrenz aus und in den meisten Dingen ehrgeizig. Er mochte es, irgendwas zu tun, für das er kein Team oder sonst jemanden nötig hatte. Und er war die ganze Zeit außergewöhnlich launisch.“

Nachdem er seine Eltern so lange bearbeitet hatte, bis sie ihm schließlich ein Motorrad kauften, brauste Lou als Marlon-Brando-Imitation durch die Straßen von Freeport. Allens Bruder Andy erinnert sich, dass es typisch für Lou war, eine Reihe von Einzelfreundschaften einzugehen, die jeweils anderen Zwecken dienten. Allen war beispielsweise der konservative Freund, während Eddie Elson, ein anderer Freund und Nachbar, eine ganz andere Facette von Lous Charakter beleuchtete. „Eddie hatte wirklich einen Schlag“, berichtet Carol Wood, eine Mitschülerin. „Er wohnte nur vier Häuser von Lou entfernt. Er hatte lauter verrückte Ideen über irgendwelche Außerirdischen, die gerade dabei waren zu landen, und so weiter. Damals gab es auch eine Bande in der Stadt, die Häuser ausraubte. Sie wurden die Malefactors genannt. Wie sich später herausstellte, gehörte Eddie zu ihnen.“

„Eddie Elson war mit Lou und mir befreundet, aber Elson war verrückt“, stimmt Allen Hyman zu. „Er war der erste Geistesgestörte, den ich kennen lernte. Er gehörte zu der Sorte Kids, mit denen einem der Umgang verboten wurde, und er steckte immer in irgendeinem Schlamassel. Er hatte ein Luftgewehr, mit dem er vom Dachboden aus auf Passanten schoss. Lou liebte ihn, denn er war genauso unverschämt wie er selbst, vielleicht sogar noch mehr. Ab und zu wurde er eingesperrt, er war einfach krank.“

„Einerseits hatte Lewis den Wunsch – was ich damals natürlich noch nicht wusste –, von ganz normalen Leuten akzeptiert zu werden, und andererseits fühlte er sich angezogen von all denjenigen, die von der Normalität abwichen“, sagt Andy. „Eddie war ein ziemlich verrückter Bursche, er beging manchmal Taschendiebstahl; er rauchte schon sehr früh Dope, und es liefen immer merkwürdige Geschichten mit Mädchen. Und in all diese merkwürdigen Geschichten geriet Lewis dann eben auch, wenn er mit Eddie zusammen war. Mit meinem Bruder verkehrte er zur gleichen Zeit in einer ganz anderen Szene.“

Was Lewis nach eigener Aussage von all den anderen typisch amerikanischen Jungs unterschied, war die Tatsache, dass er im Alter von dreizehn Jahren feststellte, dass er homosexuell war. Wie er in einem Interview von 1979 erklärte, war ihm früh bewusst, dass er sich von seinem eigenen Geschlecht angezogen fühlte, aber ebenso früh versuchte er auch, diese Tatsache zu ignorieren. „Ich hasste es. Es war so belastend. Sobald ich dreizehn war, hätte ich allmählich so richtig Spaß haben können, aber ich habe nicht mal an den Quatsch gedacht. Was für eine Zeitverschwendung. Wenn einem die Liebe verboten ist, beschäftigt man sich die ganze Zeit mit Hass. Wem zum Teufel bringt das was? Ich fühlte mich betrogen.“

„Nur in dem, was er schrieb, gab es Anzeichen dafür, dass er homo­sexuell war“, meint Hyman. „Im Lauf des letzten Jahres an der Highschool bezogen sich manche seiner Geschichten und Gedichte auf homosexuelle Vorstellungen. Es war eine Art Faszination, viele Bilder in seinen Gedichten bezogen sich auf diese Szene. Ich habe es eher als Lous bizarre Seite abgetan. Ich sagte zu ihm: ‚Worüber schreibst du da, warum schreibst du über so was?‘ Er antwortete: ‚Es ist interessant. Ich finde es interessant.‘“

„Ich fand, dass dieser ganze Geschlechtskram immer eine Möglichkeit für Kids war, es ihren Eltern so richtig heimzuzahlen“, sagt Lou. „Das taten nur Kids, die auf Protest aus waren. Genau dasselbe bedeutet Rock ’n’ Roll für einige Leute: Musik hören, die deine Eltern nicht mögen, sich so anziehen, dass es deinen Eltern nicht gefällt.“

In seiner frühen Jugendzeit galt Lous größtes Interesse aber seiner wahren Leidenschaft, dem Rock ’n’ Roll. 1954, mit zwölf Jahren, war er begeistert vom neuen Rhythm-&-Blues-Sound und fing auf der Stelle an, selbst Songs zu schreiben. Genau wie der gleichaltrige Teenager Paul Simon, der im nahe gelegenen Queens aufwuchs, gründete Lou eine Band und veröffentlichte mit fünfzehn eine erste Single, die er passenderweise „So Blue“ nannte. Lous Eltern fanden diese frühen Vorboten einer musikalischen Karriere eher bedenklich. Im Dunstkreis pulsierender Musik und heftiger Stimmungsumschwünge sahen sie ihre Zukunftsträume von Lou, dem Arzt, dahinschwinden. Seit er in die Pubertät gekommen war, befand sich Lou auf Konfrontationskurs und verletzte seine Eltern, indem er sie öffentlich und auch zuhause beschimpfte. Als Teenager gab Lou seinen Eltern Anlass zu der Befürchtung, dass er Rockstar und homosexuell werden würde – der Stoff also, aus dem die Albträume aller Eltern der Fünfzigerjahre gemacht waren.

Lou hatte Spaß daran, dass der Schock und die Sorge darüber, einen homosexuellen Sohn zu haben, seine Eltern zermürbte, während er sich gleichzeitig mit Mädchen verabredete und auf seine Freunde durchaus den Eindruck machte, heterosexuell zu sein. „Seine Mutter war sehr unglücklich“, erinnert sich ein Freund. „Sie verstand einfach nicht, warum er sie so sehr hasste und woher seine Wut kam. Zuerst waren sie nicht bös­willig, sie versuchten zu verstehen, was da vor sich ging. Aber irgendwann hatten sie die Nase voll von ihm.“

Während seiner Teenagerjahre versuchte Lou alles, um die Gleichförmigkeit des Lebens in Freeport zu durchbrechen, besonders Dinge, die außerhalb der Konvention lagen. Dabei traf er auf Leidensgenossen, die ebenfalls verzweifelt versuchten, der Langeweile zu entkommen. Ein indirek­ter Anlass dazu war beispielsweise sein Interesse an Musik. Jeden Abend klinkte sich der aufregendere Teil der Highschool-Jugend von Freeport in das WGBB-Radioprogramm ein, um die neueste Musik zu hören, Musikwünsche zu äußern und irgendjemandem Lieder zu widmen. Oft riefen so viele Teenager an, dass die Telefonverbindungen zusammenbrachen und sich überkreuzten; so entstand eine Art Teenager-Party-Line, über die sich dann Freundschaften entwickelten. Bei einer dieser Gelegenheiten erwärmte sich Lou für eine Anruferin. „Da war dieses Mädchen, sie lebte in Merrick“, erinnert sich Allen Hyman. „Sie war für die damalige Zeit ziemlich fortschrittlich, und es endete damit, dass Lou sich mit ihr verabredete. Er kam von seinem Date zurück, rief mich an und sagte: ‚Ich habe gerade eine irre Erfahrung gemacht. Ich bin mit dem Mädchen zum Valley Stream Drive-In gefahren und sie holte einen Joint raus.‘ Ich sagte: ‚Ist sie süchtig nach Marihuana?‘ Zu der Zeit glaubten wir ja noch, dass man von Marihuana süchtig wird. Er sagte: ‚Nein, es war cool. Ich hab den Joint geraucht, es war echt super.‘“

Die Zeit, in der Lou aufwuchs, die Fünfziger- und die frühen Sechzigerjahre, waren gekennzeichnet durch ein fehlendes Problembewusstsein der Mittelschicht und ihrem ausgeprägten Bedürfnis nach Sicherheit. Fast genauso wie in der TV-Serie Happy Days waren die meisten Teenager mehr daran interessiert, sich zu amüsieren, als die Welt zu verstehen. „Es wurde nicht sonderlich viel darüber nachgedacht, was auf dem Planeten so vor sich ging“, kommentiert Allen Hyman. „Aber Lou war immer daran interessiert, Autoritäten zu hinterfragen, zu provozieren, und er war auf jeden Fall ziemlich exzentrisch.“

Diese exzentrische, rebellische Seite von Lou fand in der weißen, konservativen Nachbarschaft so einiges, mit dem sie sich auseinander setzen konnte. Hyman erinnert sich, dass Lou alles um ihn herum hasste, obwohl er sich nach außen höflich verhielt. Dieser Hass konzentrierte sich ins­besondere auf Allens Vater, der politisch rechts außen stand. „Der Grund, warum er meinen Vater überhaupt nicht mochte, war der, dass er in ihm den typischen republikanischen Anwalt sah. Politisch unterschiedliche Haltungen bei Menschen waren ihm schon ziemlich früh bewusst. Wir lebten in einer Zeit, die republikanisch und konservativ war, und dagegen rebellierte er. Ich konnte nicht begreifen, warum ihn das so sehr beunruhigte. Meinen Eltern gegenüber hat er sich aber immer respektvoll verhalten.“

Mr. Reed und Mr. Hyman hielten nicht viel von einer musikalischen Karriere ihrer Söhne. „Er war der Ansicht, dass sich da übles Gesindel herumtrieb, was ja auch stimmte“, erinnert sich Lou. „Die Angst der Erwachsenen vor der Rockmusik sagt mehr über die Paranoia und Unsicherheit der Fünfziger- und Sechzigerjahre aus als die Rockmusik selbst“, schreibt Richard Aquila in That Old Time Rock And Roll. „Dieselben Erwachsenen, die sich vor Ausländern fürchteten, weil der Kalte Krieg sich zuspitzte, und die die Rosenbergs und Alger Hiss als den letzten Beweis für die bedrohte innere Sicherheit betrachteten, sahen die Rockmusik als ausländische Musik an, die eine Bedrohung der amerikanischen Gesellschaft darstellte.“ Lewis kam durch seine Mittelstandserziehung in den Genuss aller möglichen Annehmlichkeiten, aber er verhielt sich so, als habe er keinerlei Beziehung zu den geltenden Wertmaßstäben des amerikanischen Vorstadt­lebens. Einige seiner berühmtesten Songs, die eine Reaktion auf diese Wertmaßstäbe seiner Eltern darstellen, sprechen eine deutliche, verzweifelte Sprache, die ebenso für Millionen anderer Kinder gilt, die im Überfluss der wie betäubten Fünfzigerjahre des Nachkriegsamerika aufwuchsen.

Immer wieder wird Lou, in einem Versuch, sich selbst zu definieren, über seine Kindheit schreiben. Alles, was er jemals geschrieben hat, untersuchte die Kräfte, die auf seine Persönlichkeit einwirkten und sie formten. Tatsächlich handelte es sich bei Lou Reed um einen Songwriter, der sich seiner selbst sehr bewusst war. Sein einziges Thema war und ist er selbst. „Meine Eltern bringen uns noch alle ins Grab“, beklagt er sich in dem klassischen „Rock And Roll“. „Zwei Fernseher und zwei Cadillacs helfen da auch nicht weiter.“ Eine Freundin legt den Finger auf den wunden Punkt, wenn sie darauf hinweist, dass Lou ein besonderer Fall von Shpilkes war – ein Ausdruck aus dem Jiddischen, der seine widersprüchliche Persönlichkeit ausgezeichnet auf den Nenner bringt: „Eine Person mit Shpilkes kratzt sich nicht nur da, wo es ihn selbst juckt, sondern muss ihre Nase in alles stecken, unter jeden Deckel gucken. Wenn Lewis als Teenager in dein Haus gekommen wäre, hättest du gesagt: ‚O Gott, er hat aber wirklich Shpilkes. Er ist ja ganz niedlich, kuschelig und liebenswert, aber schafft ihn bitte raus, er stiftet nur Unheil, und ich wage nicht, ihn eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er macht nur Ärger, er nervt mich entsetzlich, er ist wirklich die Pest.‘“ Lou zufolge hatte er niemals ein gutes Gefühl, was seine Eltern anbelangte. „Ich gab mir wirklich alle Mühe, um der ganzen Geschichte zu entfliehen“, sagte er, als er vierzig Jahre alt war. „Ich hatte damals keine Beziehung dazu und habe es auch jetzt noch nicht.“ Oder, wie er sich selbst in einem seiner Lieblings­gedichte von Delmore Schwartz sieht: „… Er saß da / auf der Fensterbank und war zehn Jahre alt / den ganzen Nachmittag, unglücklich, einsam und verzweifelt / allein, mit schweren Augen …“ Ein anderer Vorwurf, den Lou seinen hilflosen Eltern machte, war ihr elender Reichtum. Das war jedoch pure Erfindung. Wie gewöhnlich dramatisierte Lou die Situation. Während Lous Kindheit war das Gehalt seines Vaters nach amerikanischen Maß­stäben eher bescheiden. Die genügsame Familie besaß ein Auto und lebte in einem einfach, aber geschmackvoll eingerichteten Haus, ohne jede Spur von Luxus oder anderen Zeichen von Verschwendung. Tatsache war, dass Ende der Fünfzigerjahre, mit den Gebühren für die Elektroschocktherapie, den College­gebühren für Lou und den Kosten für Tochter Elizabeth, die inzwischen auch zehn Jahre alt geworden war, die Reeds ihre finanziellen Möglichkeiten voll ausgeschöpft hatten.

Das Jahr, in dem er sich der Elektroschocktherapie unterzog, 1959 bis zum Sommer 1960, war ein verlorenes Jahr für Lou. Von da an verbrachte er den Großteil seines Lebens damit, sich selbst zu finden und das zu bekommen, was er haben wollte. Der erste Schritt, den er in diese Richtung unternahm, bestand darin, sich der Kontrolle seiner Familie zu entziehen, die er nur als Einrichtung zur Bestrafung und Beeinträchtigung seiner Freiheit ansah. „Ich kam aus dieser kleinen Stadt auf Long Island“, erklärte er. „Von Nirgendwo. Ich meine es wirklich so, nirgendwoher. Vom langweiligsten Ort auf der Welt. Das einzig Gute daran war, dass man ­wusste, man würde da irgendwie herauskommen.“ Im August nahm Lou den Song „You’ll Never, Never Love Me“ auf und veröffentlichte ihn. Eine tief sitzende Abneigung gegen seine Eltern wurde schnörkellos in einem anderen Song, „Kill Your Sons“, zum Ausdruck gebracht. „All diese nichtsnutzigen Psychiater verpassen euch Elektroschocks“, sang er wie ein Zombie. „Sie sagen, dass ihr dann zuhause leben dürft, bei Mama und Papa, und nicht im Irrenhaus.“ Später sagte er, die Musik habe ihn wieder zum Leben erweckt und ihm zu neuen Träumen verholfen. „Musik bedeutet alles“, schrieb er in einem wunderbaren Prosastück namens From The Bandstand. „Leute sollten dafür sterben. Leute sterben für alles Mögliche, warum also nicht auch für die Musik. Es würde einige Leben retten.“

Lou Reed - Transformer

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