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Die Pickwick-Periode

Bei Pickwick International: 1964–1965

„Die Erfahrung, die Lou bei Pickwick sammelte, war der Schritt hin zum reifen Musiker. Was er hier lernte, war entscheidend für das, was später aus ihm wurde.“

— Donald Schupak

Lou ging nicht, wie die meisten der aufgeweckten Absolventen der Fakultät für englische Literatur, von Syracuse nach New York, sondern zog sich in die Bequemlichkeit und Sicherheit seines Elternhauses zurück. Im Sommer 1964 konzentrierte er sich darauf, seiner Einberufung in die Armee zu entgehen. Er wusste, dass er bei der Musterung eine gute Vorstellung geben musste, um der Militärbehörde glaubhaft zu machen, dass er krank oder verrückt oder beides gleichzeitig war. Er entschied sich dafür, sie von beidem zu überzeugen.

Durch schicksalhafte Fügung wurde er dabei von einer wirklichen Krankheit unterstützt, die einige Tage nach seiner Rückkehr in Freeport ausbrach. Er fühlte sich fiebrig und erschöpft, und man stellte fest, dass er sich eine gefährliche Form von Hepatitis zugezogen hatte; später behaup­tete er, er habe sich in einem Fixertreff infiziert, wo er sich die Spritze mit einem matschgesichtigen Schwarzen namens Jaw geteilt habe. Als er von der Diagnose erfuhr, führte Lou sofort ein teures Ferngespräch mit ­Shelley und warnte sie, dass sie sich eventuell bei ihm angesteckt haben könnte, da sie die letzte Zeit miteinander verbracht hatten. Dann machte er sich daran, genügend medizinische Beweise für seine Wehr­untauglichkeit zusammenzutragen.

Lou zufolge erreichte er dieses Ziel in einer Rekordgeschwindigkeit von zehn Minuten: Er präsentierte sich vor der örtlichen Einberufungskommission und kaute dabei auf seinem bevorzugten Downer herum, eine Dosis von siebenhundertfünfzig Milligramm Placidyl in Form einer großen, grünen Pille, die aufgrund ihrer beruhigenden, für Hypnose empfänglich machenden, einschläfernden Wirkung verschrieben wurde. Diese Wirkung tritt ungefähr fünfzehn Minuten nach Einnahme ein und wird durch Alkoholkonsum, Barbiturate oder andere Beruhigungsmittel, die auf das zentrale Nervensystem einwirken, erheblich verstärkt.

Placidyl war in den Sechzigerjahren rezeptfrei erhältlich, heutzutage ist es aufgrund der schweren, zu Selbstmord führenden Depressionen und der Abhängigkeit, die es auslösen kann, verschreibungspflichtig. „Ich erzählte ihnen, dass ich ein Gewehr haben wollte, um alles und jeden vor meiner Nase umzuballern“, erinnert sich Lou. Falls diese superschlaue Behauptung nicht den Ausschlag für seine Ablehnung gab, dann waren es sicher seine angegriffene Leber und die durch das Anfangsstadium seiner Hepatitis hervorgerufene gelbliche Leichenblässe auf seinem Gesicht. „Ich wurde als geis­tig unreif eingestuft und so klassifiziert, dass ich nur dann eingezogen werden konnte, wenn wir gegen China in den Krieg zögen. Das war zumindest ein positives Ergebnis meiner Schockbehandlungen.“

Es war Sommer 1964. Sein Vater bot ihm einen Job in seinem Steuerberatungsbüro an, das Lou später übernehmen und weiterführen sollte. Aber Lou hatte keine Lust dazu, an einem Schreibtisch zu sitzen und auf eine Rechenmaschine zu starren. Er sagte Sidney, er solle Elizabeth (die zu der Zeit fünfzehn Jahre alt war) das Geschäft übergeben, sie hätte dafür den besseren Kopf. Stattdessen gründete Lou eine Band und spielte in den umliegenden Klubs und Bars, die während der Sommermonate mehr Auftrittsmöglichkeiten boten, und so häufig wie möglich für ein ausschließlich schwules Publikum.

Lou verübelte seiner Familie sowohl, dass sie die Elektroschockbehand­lung zugelassen hatten, als auch ihre derzeitige Ablehnung seines Lebensstils, und er machte sich daran, sie mit dieser negativen Einstellung zu quälen. Oder, wie es in „Families“, einer seiner Verachtungstiraden, heißt: „Families who live out in the suburbs often make each other cry (Familien draußen in den Vorstädten machen sich oft selbst fertig).“

In jedem Fall war der Kampf noch nicht beendet. Dass wohlhabende Eltern großzügig darüber hinwegsahen, wie ihre Kinder die Sommer­monate mit süßem Nichtstun auf der Insel verbrachten, war eine Sache, im Herbst jedoch wurde von allen erwartet, dass sie einer sinnvollen Tätigkeit nachgingen. Hyman war bereits an einer juristischen Fakultät eingeschrieben. Auch Lous Eltern nahmen an, dass sich ihr Sohn nun zu irgend­einer akzeptablen Karriere durchringen würde.

Sie hatten die Lage jedoch völlig falsch eingeschätzt: In einem Schachzug, der sowohl Delmore Schwartz als auch seine Eltern vor den Kopf stoßen sollte, nahm Lou einen Job als Pop-Songwriter bei einer drittklassigen Plattenfirma namens Pickwick International an. Dort hatte er auf Bestellung Popsongs zu liefern und warf damit in den Augen seiner Eltern eine teure Ausbildung über Bord. Pickwick hatte sich darauf spezialisiert, ein naives Massenpublikum mit Schummelaufnahmen zu Schleuderpreisen auf Wühltischen zu täuschen. Beispielsweise war auf dem Album Bobby Darin Sings The Blues der schmachtende Darin nur einmal zwischen zehn anderen von Jack Borgheimer gesungenen Songs zu hören; dann gab es ein Album der Roughnecks, bei dem auf der Hülle vier herumschä­kernde Burschen (ohne Lou) abgebildet waren, die den Beatles ähnelten, in Wirklichkeit aber vier Studiomusiker mit teigigen Gesichtern und Pilzkopfperücken waren. Rückblickend stellte Phil Milstein, einer von Lous bestinformierten und aufmerksamsten Kritikern, der 1978 die ­Velvet Underground Appreciation Society gründete, fest: „In vieler Hinsicht ist das der verrückteste Teil einer völlig verrückten Geschichte. Nichts, was Lou je getan hat, war so trivial wie seine Arbeit für Pickwick.“

Der Song „You’re Driving Me Insane“ von den Roughnecks begann mit einem unmelodischen Brummen der Gitarren und fügte dann einem laienhaft kratzigen Sound der Kinks einige Riffs von Chuck Berry hinzu. Auf diesen dumpfen, undeutlichen Klangteppich wurde der halb gesprochene, halb gepresst heruntergeleierte Text gelegt, zu dem im Hintergrund ein Haufen von Partygästen mit geradezu unheimlicher Hemmungslosigkeit skandierte: „The way you rattle your brain, / You know you’re driving me insane.“ Ein anderer Song namens „Cycle Annie“ von einer weiteren nicht existierenden Gruppe, den Beachnuts, dessen Text von Lou stammte, stach besonders durch ein Gitarrensolo hervor, das den Surfsound mit einer Art von atonaler Musik vermischte, in der schon erste Anklänge an Velvet Underground zu erkennen waren. Mit diesem Song setzte sich Lou zum ersten Mal auch als Songschreiber durch: Er erzählt eine schäbige Geschichte von einem „real tough chick, who just didn’t come any meaner (eine richtig knallharte Puppe, die man sich nicht ärger vorstellen konnte)“. Die bizarren Gestalten des Texts und die verspielte Liebe zum Rock ’n’ Roll mit drei Akkorden machten „Cycle Annie“ zu einem Song, der ebenso gut auf das Album White Light/White Heat gepasst hätte.

Der Mann, der diesen ersten Schritt Lous auf seinem Weg zum Song­writer veranlasste, war niemand anders als ein alter Freund aus Syracuse, Donald Schupak, der Manager von L. A. And The Eldorados. „Ich brachte Lou mit einem Typen zusammen, mit dem ich hier in der Stadt eine Partnerschaft aufgebaut hatte, Terry Phillips“, erinnert sich Schupak. Phillips, der in den frühen Sechzigern mit dem genialen Produzenten Phil Spector zusammengewohnt hatte, überzeugte Pickwick davon, den Schritt ins Rock’n’Roll-Geschäft zu wagen. „Alles, was sie über Rock ’n’ Roll wissen, haben Terry Phillips und ich ihnen beigebracht“, erzählt Schupak weiter. „Danach wurde aus ihnen Musicland, und die Leute, die wir damals davon überzeugen mussten, mit diesem Studio anzufangen, dessen Kosten sich auf achtzig Dollar beliefen, haben seither das Zehn- oder sogar Hundertfache an Millionen Dollar im Rockbusiness gemacht.“

Lou wurde aufgrund von Schupaks Empfehlung eingestellt. „Mit Pickwick fing Lous Karriere an“, erinnert sich Donald. „Sie haben ihm Dis­ziplin beigebracht. Es war sein Einstieg ins Musikgeschäft.“

Das so großartig britisch klingende Label Pickwick International bestand in Wirklichkeit aus einer quadratischen, aus Ziegeln erbauten Lagerhalle auf der anderen Seite des East River. Alle Aktivitäten der Firma gingen von dieser Lagerhalle aus, die mit billigen, ­zusammengepfuschten Platten voll gestopft war. Im Untergeschoss befand sich ein Aufnahmestudio, das „mit einem miesen alten E-Piano und einem Roberts-Tonband­gerät ausgerüstet war“, wie sich Schupak erinnert, der dort als Label­manager tätig war. Lou, der für seine Bemühungen fünfundzwanzig Dol­lar pro Woche erhielt – und keinerlei Rechte an seinen Arbeiten hatte –, pendelte jeden Tag die fünfundzwanzig Minuten zwischen Freeport und Long Island City hin und her. Im Studio angekommen, wurde er mit drei weiteren Mitarbeitern in einen winzigen Raum gepfercht: Phillips, dessen teigiges Gesicht, Bleistiftbärtchen und mit Pomade zurückgekämmtes Haar sowie sein Polyesteranzug seine geisterhafte Distanz zur Realität ausdrückten, und zwei weiteren Songschreibern, Jerry Vance (alias Jerry Pellegrino) und Jimmie Sims (Jim Smith). Während Schupak herauszufinden versuchte, worin seine Arbeit bestand, nahm Phillips die Rock­abteilung unter seine Fittiche.

Lou und die anderen Songschreiber schrieben, so schnell sie konnten, auf Bestellung Songs für die zurechtfrisierten Sammelalben. Obwohl diesem Ambiente der übliche Glamour des Rock’n’Roll-Lebensgefühls fehlte, hatte die Arbeit doch einen erzieherischen Wert, der dieses Manko ausglich. „Wir vier waren buchstäblich in dem Raum eingesperrt, um Songs zu schreiben“, erzählt Lou. „Wir lieferten die Songs wie am Fließband, das war alles. Sie sagten zum Beispiel: ‚Schreibt zehn California-Songs, zehn Detroit-Songs‘, und dann gingen wir für ein oder zwei Stunden runter ins Studio und schusterten drei oder vier Alben auf die Schnelle zusammen, was später sehr nützlich für mich war, denn ich kannte mich in einem Studio aus, nicht sehr gut vielleicht, aber ich konnte wirklich sehr schnell arbeiten. Anders gesagt: Auf dem Album stand dann später, dass es Aufnahmen von vier Gruppen enthielt, aber natürlich waren das nur vier verschiedene Varianten von uns, und die wurden dann im Supermarkt für neunundneunzig Cent oder einen Dollar verkauft. Während ich damit beschäftigt war, schrieb ich auch eigene Sachen, aber damals wagten sich die Leute noch nicht an dieses Material. Ich meine, wir schrieben ‚Johnny Can’t Surf No More‘ und ‚Let The Wedding Bells Ring‘ und ‚Hot Rod Song‘. Ich fand das damals überhaupt nicht schizophren. Ich hatte einfach einen Job als Songschreiber, einen echten Knochenjob. Die kamen rein, gaben mir ein Thema, und wir schrieben einen Song.

Ich mochte den Job, ich hatte Spaß daran, aber ich konnte nicht das tun, was ich wirklich wollte. Ich hoffte einfach, ich würde irgendwie hineinkommen, was dann ja auch passiert ist. Es ist zwar auf eine komische Weise passiert, aber zumindest hatte es irgendwas mit Musik zu tun.“

Natürlich erzählte Lou seinen Freunden, dass er es hasste, bei Pickwick zu arbeiten, und wie unendlich sauer er darüber war, dass Phillips seine Kompositionen nicht zu schätzen wusste. „Ich fragte: ‚Warum nehmen wir das denn nicht auf?‘“, erinnert sich Reed, „und sie antworteten: ‚Nein, solches Zeug können wir nicht aufnehmen.‘“

In Wahrheit war der losgelöste Beobachter in Lou dabei, sich alle wichtigen Sachverhalte genau zu merken. Eigentlich hätte er Pickwick für die praxisnahe Ausbildung, die er erhielt, Geld geben sollen. Er lernte, wie man ein Aufnahmestudio benutzt und mit hilfreichen Kollegen zusammen­arbeitet, die er binnen kurzem alle dringend brauchen würde. Niemals war er produktiver als während seiner Zeit bei Pickwick. Im Lauf von ­wenigen Monaten veröffentlichten Reed und seine drei Mitarbeiter mindestens fünf­zehn Songs. Die fünf Monate, die er von September 1964 bis Februar 1965 bei Pickwick verbrachte, waren das beste Training, das er sich für eine Rock’n’Roll-Karriere nur hätte wünschen können.

Lou Reed - Transformer

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