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Der FernhÄndler

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Ingo Muhs

Leider hatte ich den erhöhten Sauerstoffverbrauch erst bemerkt, als es für eine Umkehr bereits zu spät war. Also tat ich das Zweitbeste, was man in dieser Situation tun konnte und räumte auf. Das tat ich gewöhnlich nur zu den 1000-Jahres-Treffen.

Der Wohn- und Arbeitsbereich war für drei Menschen ausgelegt, aber ich flog das Handelsschiff schon seit einigen Pejott solo. Da schleifen sich bei uns Junggesellen durchaus ein paar Nachlässigkeiten ein, die ich nun beseitigte.

Ein blinder Passagier war nichts Ungewöhnliches oder Gefährliches für uns Raumfahrer, tatsächlich rekrutierten wir so neue Piloten. Auf vielen Planeten glaubte man, dass irgendwo eine mythische Raumakademie existiere, in der wir Fernhändler ausgebildet werden. Aber das war natürlich Unsinn. Ein klassisches Cockpit hatten die interstellaren Schiffe schon lange nicht mehr, die komplette Steuerung lief über die gleiche Konsole wie die Unterhaltungseinheit. Ich hatte auch direkten Zugriff auf alle Schiffssysteme durch meinen iMplantat (kleines i, großes M, wird gesprochen: »Eimplantat«). Jeder Idiot konnte so ein Schiff fliegen, Reparaturen waren selten notwendig und wurden von den Nanoschwärmen ausgeführt.

Was einen Fernhändler also auszeichnete, waren nicht seine Fähigkeiten, sondern vielmehr die Geisteshaltung. Ob abenteuerlustig oder eigenbrötlerisch, wir mussten in der Lage sein, uns auf fremde Kulturen einzustellen, und wir mussten Dinge hinter uns lassen können. In der alten Weisheit, dass ein Fernhändler jede Welt nur einmal besuchte, steckte viel Wahres.

Ein blinder Passagier, der also gerade seine Heimatwelt für immer hinter sich gelassen hatte und genügend Grips bewies, sich mit den Vorräten an Bord zu schmuggeln, brachte schonmal gute Voraussetzungen für einen Fernhändler mit. Und ich musste gestehen, dass ich mir schon länger einen Assistenten und Lehrling gewünscht hatte – idealerweise jemanden, der meine Leidenschaft teilte. Es konnte natürlich auch sein, dass ich ihn beim nächsten Aufenthalt hinauswerfen musste oder er nach ein paar Stopps das Schiff verließ, um mit einer exotischen Schönheit auf einer freizügigen Welt ein bis drei Familien zu gründen. So etwas konnte man vorher nicht wissen, und umso gespannter war ich, wer wohl mein Gast sein würde.

Als ich mit dem Zustand des Wohn- und Arbeitsbereiches zufrieden war, schaltete ich eine Verbindung zum Vorratslager.

»Herzlich willkommen auf der Axon Zwölf«, ließ ich über das Intercom verlauten. »Ihre Anwesenheit wurde bemerkt und wird mit Skepsis betrachtet. Bitte verlassen Sie Ihr Versteck und zeigen Sie sich der Kamera.« Den Spruch hatte ich geübt und manchmal nach der Abreise von einer hochtechnisierten Welt auch einfach so in den Laderaum übertragen. Man weiß ja nie.

Als sich auch nach einer Weile nichts rührte, fügte ich hinzu: »Sie können natürlich auch in Ihrem Versteck verweilen, das ist mir einerlei. In diesem Fall werde ich Sie auf dem nächsten Planeten wieder entladen. Das wird allerdings ein paar Tage dauern.«

Schließlich rührte sich etwas, und der blinde Passagier wühlte sich durch die Verpackungen ins Freie. Verflucht, blinde Passagiere waren in der Regel zwar jung, aber selten so jung. Das Mädchen war bestenfalls 12 Standardjahre. Mit verheulten Augen blickte sie in die Kamera und schluchzte, so dass man kaum ein Wort verstehen konnte: »Ich habe Mist gebaut. Ich will wieder nach Hause.«


Marja – so hieß unser Ausreißer – saß am Tisch mit einem heißen Tee zwischen ihren Händen (Earl Grey – alte Raumfahrertradition). Ich hatte sie in warme Decken gepackt, denn im Lagerraum war es naturgemäß recht kühl. Bislang hatte ich außer Schluchzen, ihrem Namen und dass sie nach Hause wollte, nicht viel aus ihr herausbekommen. Intensiv starrte sie in die Tasse, als wären dort die Lösungen aller Probleme, und ließ gelegentlich ein leises Schniefen hören.

»Kann es sein, dass ich dich auf dem großen Empfang gesehen habe? Du warst dort mit deinen Eltern, einem Diplomatenpaar vom südlichen Kontinent. Wie hieß er doch gleich? Ich kann mir diese Namen nie merken.«

»Neuropa«, kam eine schüchterne Antwort. Das ist genau der Grund, warum ich mir keine Mühe machte, diese Namen zu lernen. Jeder zweite Kontinent hieß Neuropa, Neu-Afrika oder Neurasien. Viele Städte hießen Perth, Mexiko, Luanda etc. (mit oder ohne »Neu« davor) und Planetennamen waren entweder Terra Novas (in verschiedenen Versionen toter Sprachen), Abarten des Wortes Paradies oder – in einigen Einzelfällen – von Hölle. Planetennamen merkte ich mir. Zum einen gab es davon weniger als Städte und Kontinente, zum anderen gebot das auch die Höflichkeit.

»Ja, genau, Neuropa! Gemäßigte Zone, landwirtschaftlich geprägt«, las ich vom iMplantat ab. »Oh, und der Sitz der Unterhaltungsindustrie.« Sie sah mich fragend an. »Bücher, Filme, Spiele, Cortexdramen?«, spezifizierte ich. »Naja, Cortexdramen eher nicht, dazu ist das technische Niveau nicht ausreichend.«

»Ich hab von Cortexdramen gehört, die sind gefährlich und machen dumm«, beteiligte sie sich endlich am Gespräch. Das Eis brach.

»Das hat man von den anderen Dingen auch irgendwann behauptet«, gab ich lakonisch zurück.

»Aber bei Cortis stimmt es«, schniefte sie in den Tee. Ich zuckte mit den Schultern. Im Moment stand mir wenig der Sinn danach, das Für und Wider verschiedener Medien zu diskutieren.

Mit »Also, was …«, und »Können wir bitte …«, versuchten wir beide gleichzeitig, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. Ich bedeutete ihr, auszusprechen.

»Könn … Können wir bitte wieder umkehren? Bitte?« Mit großen Augen sah sie mich an. Ich schluckte.

»Ich fürchte, das ist nicht möglich. Einmal initiert kann der Sprung in ein anderes Sonnensystem nicht mehr abgebrochen werden.«

»Aber dann können wir doch zurückspringen? Ja?«

»Das ist natürlich denkbar, aber ...«

»Und wie lange dauert so ein Sprung?«

»Puh, also, du warst jetzt zwei Tage im Lager, also noch fünf Tage bis zur Ankunft in Neu-Mekka. Jeder Sprung dauert sieben Tage Rel...« Wieder unterbrach sie mich.

»Also etwa zwei Wochen. Das ist ganz schön lang. Mama macht sich bestimmt Sorgen.« Nach kurzen Überlegen fügte sie hinzu: »Und Papa.«

»Ich habe bereits eine Nachricht abgesetzt, dass du als blinder Passagier an Bord bist und es dir gut geht. Standardprozedur, sobald der Name bekannt ist. Ich vermute, es sind an dem Tag nicht viele Marjas verschwunden, also dürfte klar sein, dass du gemeint bist.«

Panisch blickte sie auf, dann schien ihr klar zu werden, dass sie ohnehin in dicken Schwierigkeiten steckte und ihren Ausflug unmöglich noch verheimlichen konnte. Oh Mädchen, du hast ja keine Ahnung, in was für einem Schlamassel du steckst!

Sichtlich erarbeitete sie sich den Mut für die nächste Frage.

»Darf ich vielleicht solange an Bord bleiben? Wenn es keine Umstände macht? … Bitte?«

»Na, ich kann dich ja wohl schlecht aus der Schleuse werfen, oder? Für die kommenden Tage werden wir uns wohl arrangieren müssen.«

»Danke sehr.«

»Sag mal, nach zwei Tagen im Lager – und der Computer zeigt keine Verunreinigungen an – musst du da nicht dringend aufs

Klo?« Sie nickte heftig. Ich wies ihr die Richtung und sie verschwand in der Hygienezelle.

Irgendwie musste ich ihr die schlechten Nachrichten klarmachen. Wenn sie zurückkam? Oder später, ich hatte ja noch fünf Tage Zeit, sie langsam an das Thema heranzuführen. Ich alter Schisser kann mit sowas nicht umgehen.


Historischer Exkurs, Teil I

Die Menschheit hatte sich auf der Heimatwelt – Erde, Earth, Tierra, Земля́, 地球 oder wie man sie in dem Sprachwirrwarr noch nannte – beinahe selbst ausgelöscht. Kaum hatte man die Gefahr der atomaren Verstrahlung technologisch in den Griff bekommen, bombte sich die Nordhalbkugel zurück in die Steinzeit. Zum Schluss musste irgendein Idiot dann doch die schmutzigen Bomben zünden, und wenn erstmal einer anfängt …

Zentren der neuen Zivilisation wurden Südamerika, Afrika und Australien – in dieser Reihenfolge. Es war die selbe krude Mischung, wie man sie heute auch auf weiteren Welten nach planetaren Katastrophen findet. Auf der einen Seite lebte ein Großteil der Bevölkerung auf niedrigstem technischen Niveau. Ich rede hier von Holzhütten und Ochsenkarren – ihr habt doch Ochsen auf eurer Welt? Auf der anderen Seite gab es Zentren der Hochtechnologie. Es gab noch Satelliten, so dass man sich global austauschen konnte. Rohstoffe und Spezialanfertigungen wie etwa Computerchips wurden Mangelware, denn die Förder- und Produktionsstätten lagen – soweit überhaupt noch vorhanden – zu weit auseinander, und die Versorgung mit Treibstoff war vollständig zusammengebrochen.

Es gibt viel Spannendes aus dieser Zeit zu erzählen, von Militärdiktaturen, dem Hungerschwarm und so weiter, aber letztendlich konnte sich die Kooperation durchsetzen. Mit dem, was an Technologie noch vorhanden war und mit dem Wissen, was technisch

möglich ist, baute die Kooperation die Welt langsam wieder auf, hob das allgemeine Niveau erneut auf den alten Stand und breitete sich von den Zentren Mexiko, Perth und Luanda auch auf die Nordhalbkugel aus. Ja, ich weiß, technisch gesehen liegt Mexiko auf der Nordhalbkugel. Schalt die Karte ab und halt die Klappe.

Durch die enge Kooperation in der Kooperation (Daher der Name. Hör auf zu kichern) hat sich auch eine neue Verkehrssprache entwickelt, die zunächst zur Gelehrtensprache und schließlich zur Weltsprache wurde. Nahezu jedes alte Idiom hat Lehnwörter in der Gemeinsprache hinterlassen, aber den größten Einfluss hatten natürlich die afrikanischen Sprachen, Spanisch, Englisch und erstaunlicherweise Deutsch. Zum einen sind viele deutschsprachige Wissenschaftler nach Afrika geflohen, zum anderen gab es in Südamerika einige deutsche Enklaven. Aber ich sehe, ich langweile dich, lassen wir die Linguistik erstmal beiseite.

Die Kooperation hatte, nachdem das Goldene Zeitalter eingeläutet war, ein gewaltiges Problem, meiner Ansicht nach eines der besten Probleme, die man haben kann. Es gab keine Rüstungsindustrie mehr, die zuvor einen großen Wirtschaftsfaktor dargestellt hatte. Wie schon bei den alten Ägyptern mit dem Bau ihrer Pyramiden brauchte man also ein neues Großprojekt als Ausgleich. Schau nicht wie ein Ochse – schlag es nach. Frühgeschichte, Heimatwelt, Ägypten. Halt, nein, nicht jetzt. Mach das später.

Über zwei Jahrhunderte steckte die Kooperation einen Großteil der Ressourcen in den Bau von Generationsraumschiffen zur Besiedelung anderer Welten. Wie gesagt, es füllte die Lücke der Rüstungsindustrie, außerdem wollte man verhindern, dass bei einem möglichen erneuten Zusammenbruch die Menschheit als solche ausgelöscht wurde. Man erstellte also quasi Backups auf fremden Planeten. Und schlussendlich – denn auch in der Kooperation war nicht alles eitel Sonnenschein – nutzte man einige der Schiffe zur ethischen Säuberung der Heimatwelt. Umbringen wollte man Andersdenkende nicht mehr, aber behalten auch nicht, also stellte man diversen Gruppen Raumfahrzeuge zur Verfügung und überredete sie mit Nachdruck, als komplette Einheit die Erde zu verlassen. Die Sklavenhalter von Madagaskar, religiöse Gruppen, Genoptimierte, Anarchisten jeglicher Couleur. Einige gingen freiwillig und mit Freuden, andere wurden geradezu interniert, besonders in der Endphase vor dem Zusammenbruch der Kooperation. Von hier an reden wir nicht mehr über Heimatweltgeschichte, hier beginnt die interstellare Geschichte.


»Nuckelavee! Nuckelavee! Nuckelaviihihihi!« Das letzte Wort in ihrem Song ließ Marja in einem Wiehern enden. Dann fing sie wieder von vorne an. Den gesamten Shuttleflug von Neu Mekka zurück zum Schiff ging das nun so, und wäre ich nicht leicht angetrunken, wäre es mir wahrscheinlich ziemlich auf die Nerven gegangen. Als Teil des Handels hatte ich ein dreitägiges Entertainmentpaket für eine Zwölfjährige erbeten, mit ganz klarer Beschränkung, welche Themen absolut Tabu sind. Marja kommt von einer eher traditionellen Welt, und nicht jeder Planet legt das Mindestalter für Erwachsenenthemen auf dieselbe Weise fest. Auch das Thema Flugdauer und Relativität ließ ich aus offensichtlichen Gründen sperren. Anscheinend hatte sie den letzten Tag im großen Nuckelavee-Freizeitpark verbracht, welcher auf einer Kinderserie beruht, die derzeit auf ganz Neu-Mekka beliebt war. Sie besteht hauptsächlich aus knuddeligen Pferde-Hamster Hybriden, die Abenteuer erlebten und von Freundschaft sangen. Nach kurzer Recherche im iMplantat hatte ich beschlossen, Marja den Tag nicht zu vermiesen, in dem ich sie über die Herkunft des Wortes »Nuckelavee« aufklärte. Für die Produzenten war es wohl einfach ein knuffiges Wort, das irgendwas mit Pferden zu tun hat, und damit war es gut.

»Oh Mann, das war sooo toll!«, begann sie eine weitere Erzählung ihrer Erlebnisse, die nach persönlicher Wichtigkeit sortiert war statt nach Chronologie. Trotz meiner beruflichen Erfahrung mit unterschiedlichsten Erzählstilen konnte ich ihr nicht folgen, allerdings schien es mir, dass pferdeartige Tiere anscheinend eine

ganz besondere Faszination auf junge Mädchen ausübten. Insbesondere, wenn sie bunt waren und sangen.

»Wenn diese ‘Vees einen Pferdekörper, aber einen Hamsterkopf haben, wieso wiehern sie dann? Müssten sie nicht eher pfeifen?«, versuchte ich einen Einwand, aber Marja ereiferte sich bereits über unseren Besuch im Greater Canyon. Wie gesagt – keinerlei Chronologie.

Schließlich ging aber auch ihr die Energie aus, und sie wurde etwas ruhiger.

»Danke, dass du mich überredet hast, den Planeten zu besichtigen, bevor wir zurückfliegen.«

»Naja, wann sieht man schon mal einen fremden Planeten?«

»Das war so ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.«

»Enttäuscht?«

»Nein, nein, überhaupt nicht!« Sie boxte mich auf den Oberarm, wissend, dass ich sie nur aufziehen wollte. »Ich dachte nur, dass die Leute da ganz anders drauf sind. Wegen dem Namen und so.«

»Wieso das?«

»Naja, Mekka war doch so eine heilige Stadt auf der Heimatwelt, und die Siedler waren streng religiöse Arabier.«

»Woher weißt du denn etwas über Araber?«, hakte ich nach.

»Hab ich nachgelesen! Aber die Leute da waren gar nicht so, sondern richtig nett.«

»Was hattest du dir denn so vorgestellt?«

»Naja«, sie wurde rot, »mehr arabisch halt. Turban und Bart und Pluderhosen, sowas in der Richtung.«

»Meine Güte, wo hast du das denn her? 1001 Nacht?«

Sie nickte. »Aber hier waren ganz normale Leute. Ich musste kein einziges Mal zu Allah beten oder einen Schleier tragen oder so.«

»Ja, so ist das mit den Menschen. Egal was du für eine Gruppe Kolonisten nimmst, nach ein paar Generationen wächst sich das alles raus und du hast wieder dieselbe alte Mischung. Die Welten sind ständig im Wandel.«

»Aber wenn man jetzt zum Beispiel nur superschlaue Leute nimmt …«

»… dann muss immer noch jemand die schwere Arbeit machen. Falls die Schlauköpfe die Aufbauphase der Kolonie überleben, hast du hinterher ganz schnell wieder Gruppen von mehr und von weniger Gebildeten.«

Marja wirkte enttäuscht. »Also sind alle Planeten gleich?«

»Aber überhaupt nicht! Sie sind sich zwar ähnlich, so wie sich zwei Menschen ähnlich sehen – Kopf, Arme, Beine, Nase, Augen – aber trotzdem grundverschieden sein können. Fandest du, Neu-Mekka war genauso wie dein Planet?«

»Die haben hier fliegende Autos! Aber auf dem Klo benutzen sie noch Papier.« Marja kicherte. »War schon anders als zu Hause, aber doch irgendwie ähnlich.«

»Was hältst du davon, dir noch eine Welt anzuschauen?«, wagte ich den Vorstoß. »Auf die eine Woche kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wann wirst du jemals wieder eine solche Gelegenheit bekommen?«

Jubelnd fiel sie mir um den Hals. Anscheinend hatte sie selbst schon versucht, den Mut für die Frage aufzubringen. Ich hatte eine Gnadenfrist gewonnen.

Später sichteten wir die Geschenke, die sie von Neu-Mekka mitgebracht hatte. Neben erstaunlich viel Nuckelavee-Merchandising brachte sie besonders ein Prinzessinnen-Diadem in Verzückung. »Das muss unglaublich wertvoll sein!«, vermutete sie.

»Darf ich mal? Das sind wahrscheinlich bloß Diamanten«, erwiderte ich. Reiner Kohlenstoff in Gitterstruktur, das war das Einfachste, was der Assembler zusammensetzen konnte.

»Ja, Diamanten«, bestätigte ich nach der Analyse. »Sehr hübsch gemacht und sicher ein tolles Geschenk, aber das Wertvollste, das du bekommen hast, ist das da.« Ich zeigte auf den Datenträger mit der kompletten Nuckelavee-Serie. »Dafür, mein Kind, fliege ich durch das All. Dafür bin ich Fernhändler.«

»Für Kinderserien?«, fragte sie erstaunt.

»Quatsch, ich handele doch nicht mit Kinderserien!”

»Aber womit handelst du denn dann? Ich hab eigentlich keine Ahnung, was du so durchs All fliegst.«

»Außer blinden Passagieren, meinst du? Also gut, da muss ich etwas weiter ausholen. Zeit für die nächste historische Lektion!«

Sie seufzte gespielt auf, fügte sich aber und hörte mir brav zu.


Historischer Exkurs, Teil II

Das Aussenden der Kolonieschiffe hatte eine gewisse Endgültigkeit. Die ersten Jahre konnte man noch Kontakt halten, aber selbst der beste Richtfunk kann nur beschränkte Entfernungen überwinden, und zumindest die Schiffe verfügten ab einer bestimmten Distanz einfach nicht mehr über Sender mit der ausreichenden Präzision und Stärke. Und da Signale auch nur Lichtgeschwindigkeit erreichen, vergingen Jahre zwischen Sendung und Empfang. Der Philosoph Tayo Osei sagte: »Im Prinzip besteht kein Unterschied zwischen Genozid und dem Exodus – sie sind von dem Planeten getilgt. Wir können lediglich besser schlafen.«

Einige der Kolonien scheiterten kläglich, manche Schiffe erreichten ihr Ziel nie. Der Rest, einschließlich der Heimatwelt, unterlag dem Puls der Zivilisationen. Im ewigen Auf und Ab erlangte immer mal wieder ein Planet die Reife zur interstellaren Raumfahrt. Weitere Kolonieschiffe wurden ausgesandt, aber eine wichtige Variable hatte sich inzwischen verändert. Man wusste nun, dass es da draußen andere von Menschen besiedelte Welten gab, und man wollte erfahren, wie es den Brüdern ergangen war. Man wollte sich mitteilen und man wollte selbstverständlich an den besonderen Reichtümern der Planeten teilhaben.

Ein zum Zweck des Handels gebautes Schiff konnte viel kompakter ausfallen. Es hatte eine kleinere Crew, da man keinen langfristig stabilen Genpool gewährleisten musste. Alle ansonsten wertlose Nutzlast zum Aufbau einer Kolonie ersetzte man durch Laderaum oder sparte sie sich komplett. Der Bau solcher leichteren Raumer war viel früher für eine Zivilisation umsetzbar. Der Nutzen erschloss sich potenziell aber nur für die Crew, die in

Stasis die Jahrhunderte des Fluges überdauerte. Jeder planetare Investor war bis zu der Rückkehr eines Schiffes entweder gestorben, falls es sich um eine Person handelte, oder von der Geschichte hinweggefegt, falls es sich um eine Institution handelte.

Sehr bald – und wir reden hier von Jahrhunderten – stellte man fest, dass sich materielle Güter nicht zum interstellaren Handel eigneten. Nehmen wir mal Rohstoffe, also Metalle, Kristalle, Hölzer und so weiter. Die Menge, die transportierbar ist, ist limitiert und für jede Zivilisation nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Erfährt eine Gesellschaft einen Mangel an einem bestimmten Rohstoff, so hat sie in der Zeit, bis der Stoff von außen geliefert wird, längst Alternativen gefunden, die ähnliche Materialeigenschaften haben. Da bedient man sich eher an den Ressourcen im eigenen Sonnensystem, als auf andere Systeme zurückzugreifen.

Verarbeitete Materialien sind noch schwieriger. Der Nutzen einer Ladung Nanochips hängt ab von dem technischen Niveau des Zielortes zur Zeit der Ankunft. Wer sich hauptsächlich mit Ochsenkarren oder Verbrennungsmotoren herumschlägt, kann mit den Chips nichts anfangen, und wer technologisch viel weiter entwickelt ist, hat nur ein müdes Lächeln für diese Chips übrig.

Klar, sicher, man könnte eine Spannbreite technischer Geräte laden und nur die jeweils Passenden handeln. Oder detaillierte Anleitungen mitgeben, um die Welt auf das jeweilige Niveau zu heben. Das wurde versucht, aber letztlich waren die Geräte den Lagerraum nicht wert. Die technologischen und wissenschaftlichen Daten hingegen, das waren für lange Zeit die wahren Schätze der Fernhändler.

Hier ergab sich ein anderes Problem: Wenn Materielles keinen Wert hat, wie bezahlt man dann den Händler? Nichts, was auf einer Welt gefördert oder produziert wird, hat einen Wert für ihn. Wenn nicht beide ein ähnliches Technologieniveau haben, ist der Austausch für eine Seite uninteressant. Die Lösung zeichnete sich hier schon ab, aber ich will noch kurz auf das Ende der Zeit des Technologietransfers eingehen.

Jeder Besuch eines Fernhändlers gab einer Welt einen gewaltigen potentiellen Schub, und das ist bis heute so. Ich habe an Bord eine komplette Datenbank allem von Menschen gesammelten Wissen. Doch irgendwann war das Plateau erreicht, irgendwann wussten wir alles, was man über dieses Universum in physikalischer, chemischer oder mathematischer Hinsicht wissen konnte. Wir können unsere Schiffe auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, wir haben Gravitationskontrolle, Materie-Assembler und eine Lebensspanne von über 150 Pejotts (= PJ = Persönliche Jahre). Aber wir wissen, dass wir unsere physikalischen Möglichkeiten in dieser Hinsicht ausgereizt haben. Überlichtgeschwindigkeit ist nicht zu erreichen, Punkt. Wahre künstliche Intelligenz – viele Jahrhunderte ebenso herbeigesehnt wie gefürchtet – ist nicht möglich. Sämtlicher Fortschritt bezieht sich nur noch auf minimale Verbesserungen in der Herstellung und dem Design von Luxusgütern. Kein Planet kann mir in technologischer Hinsicht irgendetwas wirklich Wertvolles mehr bieten.

Eine Ware aber hat jede Zivilisation zu bieten, selbst wenn sie noch in Höhlen haust. Und diese Ware wird auch von allen Zivilisationen hoch geschätzt: Geschichten. Hier gibt es kein Plateau, das uns beschränkt. Geschichten entstehen aus dem kulturellen und persönlichen Kontext und sind allein dadurch – und das ist wiederum mathematisch beweisbar – unbegrenzt. Zumindest für alle praktischen Anwendungen bis zum Wärmetod dieses Universums.

Auf jeder Welt, die ich besuche, tausche ich einen wesentlichen Teil meiner Datenbank voller Geschichten ein. Im Gegenzug erhalte ich die Archive jener Welt sowie sämtliche erdenklichen Annehmlichkeiten während meines Aufenthalts. Kannst du dir vorstellen, welch ein Schatz in unseren Datenbanken lagert? Bei jedem Handel kommen etwa eintausend Jahre Geschichte, Geschichten und Überlieferungen hinzu, die zuvor nie den Planeten verlassen haben. Dabei versuche ich in der Regel die Finger von den Ergüssen der letzten 50 Jahre zu lassen, da die noch nicht den Test der Zeit überstanden haben. Aber Geschichten, die sich in jedweder Gesellschaft über 100 Jahre oder länger halten, sind

auf die eine oder andere Weise relevant. Und die wahren Schätze sind solche, die von anderen Welten stammen, irgendwann von uns Händlern eingeführt wurden und über das Jahrtausend fest in die lokale Kultur eingeflossen sind. Diesen Test bestehen die allerwenigsten Stories.

Warum wir die einzelnen Planeten so selten anfliegen? Das liegt an der Lichtgeschwindigkeit. Der durchschnittliche Abstand zwischen zwei bewohnbaren Welten liegt bei etwa 80 Lichtjahren, eine Tour besteht bei mir aus 12 Flügen. Das macht dann 960, also knapp 1.000 Jahre, da wir für jedes Lichtjahr exakt ein Jahr brauchen, um die Strecke zurückzulegen. Du guckst verwirrt. Wegen der Zeitdilatation ist es so, dass für uns auf dem Schiff währenddessen die Zeit quasi still steht. Während das Schiff also 80 Jahre fliegt, vergeht für uns keine Zeit. Hey? Hey! Was ist denn los? Wo willst du denn hin? Oh … fuck.

Ich sollte echt nicht trinken und dozieren.


Ich saß mit dem Rücken an der Wand vor Marjas Kabine, die Beine angewinkelt und den Kopf auf den Knien, und wusste nicht, was ich tun sollte. Aus dem Raum kam ihr Schluchzen, mal leiser, mal brach es laut aus ihr heraus.

Normalerweise ist es fantastisch, jemandem im Augenblick einer gewichtigen Erkenntnis beobachten zu können. Wenn endlich alle Puzzleteile zusammenfallen und das große Ganze einen Sinn ergibt. Wenn diese Erkenntnis aber ist, dass alle Verwandten und Bekannten seit Jahren tot sind und man nie wieder in seine Heimat zurückkehren kann, dann ist es einfach nur scheiße. Etwa 170 Jahre waren bereits auf Marjas Heimatwelt vergangen, wenn ich den aktuellen Sprung mitrechnete, während der Abflug für uns nur zwei Wochen zurücklag. Ein Rückflug würde ebenso lange dauern. Genau das hatte Marja nun herausgefunden und begriffen.

Ich war zu feige gewesen, es ihr zu sagen, hatte immer auf »den richtigen Moment« gewartet, obwohl ich wusste, dass es ihn nicht

gab. Ich meine – mal ehrlich – wie muss ein Moment beschaffen sein, in dem man mal so nebenbei sagen kann: »Hey, übrigens, du sitzt erstmal hier fest, alles was du bisher kanntest, ist nicht mehr« ?

Die Kabine war verriegelt, aber als Schiffseigner konnte ich die Verriegelung natürlich aufheben. Wäre das richtig, oder ein weiterer Vertrauensbruch? Was sollte ich nur machen?

Ich beschloss, erstmal nichts zu tun. Armselig, oder?

Irgendwann wurde das Weinen leiser, ich möchte fast sagen, erschöpfter. Dann fragte sie durch die Tür: »Hast du meinen Eltern die Nachricht geschickt?«

Ich konnte nur mit einem überraschten »Was?« antworten, und sie schrie mit sich überschlagender und brechender Stimme »Die Nachricht! Dass ich an Bord bin, dass es mir gut geht! Hast du die wirklich geschickt?«

»Ja.«

»Wie lange hat es gedauert, bis sie angekommen ist?«

»Etwa sechs Jahre.«

Das verursachte einen weiteren Weinkrampf, und meine Beschwichtigungsversuche blieben ungehört. Aber was hätte ich denn sagen sollen?

Marja weinte sich (und mich) in den Schlaf. Nach ein paar Stunden schlich sie sich aus der Kabine, holte sich am Assembler etwas zu essen und huschte schnell zurück. Ich stellte mich schlafend, ich wollte sie nicht verschrecken und damit vom Essen abhalten, außerdem wusste ich eh nicht, was ich hätte sagen sollen.

Am nächsten Morgen hörte ich sie in ihrem Raum rumoren und gelegentlich auch schluchzen, aber sie reagierte nicht auf meine Zurufe. Erst zum Mittag kam sie heraus und nahm schweigend am Tisch Platz, um ihre Suppe zu löffeln. Sie sah so elend aus, wie ich mich fühlte.

Eine Weile setzte ich mich dazu und aß ebenfalls, was sie stillschweigend duldete. Dann versuchte ich eine Erklärung.

»Wenn der Sprung einmal initiiert ist, kann man ihn nicht mehr abbrechen. Als ich dich gefunden habe, war es zu spät.«

»Ich weiß. Hab ich nachgelesen.«

»Tut mir leid. Ich wusste einfach nicht, wie ich es dir hätte sagen sollen.«

»Ist schon gut.« War es nicht, das konnte ich am Tonfall hören. Ebenso den Wunsch, ich solle besser die Klappe halten. Also tat ich das.

Von dem lebhaften, neugierigen Kind, als das ich Marja kennengelernt hatte, war während des laufenden Sprunges nicht viel zu sehen. Nur langsam näherten wir uns wieder an, vermieden aber bestimmte Themen. Beim nächsten Stopp reduzierte ich das Geschäftliche auf das absolut notwendige Minimum, so dass wir in zwei Tagen fertig waren. Dann setzte ich Kurs auf das 1000-Jahre-Treffen und übersprang damit die drei folgenden regulären Stopps. Ich brauchte eine Lösung für das Marja-Problem.


Historischer Exkurs, Teil III

Elementarteilchen verbinden sich zu Atomen, Atome zu Molekülen. Diese verbinden sich zu komplexeren Strukturen bis hin zu Einzellern. Viele Einzeller bilden einen Organismus. Hochentwickelte Organismen gründen soziale Gruppen, die sich wiederum zusammenschließen und Staaten bilden. Auf jeder Ebene gibt es Botenstoffe, die die Einzelteile verbinden – seien dies Elektronen, Hormone, Worte oder Briefträger. Und auf jeder Ebene erschafft der Zusammenschluss etwas Neues, noch nie da gewesenes.

Wir sind inzwischen auf der interstellaren Ebene angekommen, und die Verbindung zwischen den einzelnen Planeten stellen wir Fernhändler dar. Nicht ohne Grund benennen wir unsere Schiffe »Axon« oder ähnlich – das Axon ist der lange schlauchförmige Fortsatz von Nervenzellen, mit dem sie die anderen Nervenzellen erreichen und Kontakt halten. Was konkret dieser riesige Zusammenschluss von besiedelten Planeten darstellt? Das wissen wir nicht, aber ebenso wenig weiß das Elektron, was ein Molekül ist.

Seit die Fernhändler ihre Touren fliegen und regelmäßig Welten mit einer Infusion neuer und vergessener Geschichten und Ideen versehen, sind nachweislich die Fälle seltener geworden, in denen sich eine Kolonie selbst auslöscht. Dunkle Zeitalter sind im Schnitt kürzer und weniger heftig, wir haben also in jedem Fall einen positiven Einfluss. Und keine Idee ist zu abstrus, als dass sie nicht auf irgendeiner Welt bis zur Gänze ausprobiert und erforscht wird, so dass man sie dann getrost verwerfen oder in das galaktische Erbe aufnehmen kann. Außerdem sorgt der Shakespeare-Effekt (benannt nach einem alten Schriftsteller von der Heimatwelt) für eine annähernd gleiche Sprache auf allen Welten, wenn die Sprachverschiebungen stets wieder zurückjustiert werden.

Wir Fernhändler koordinieren uns, und das ist bei den Gegebenheiten keine leichte Angelegenheit. Ein zufälliges Zusammentreffen ist extrem unwahrscheinlich. Kaum eine Gesellschaftsform übersteht mehr als 500 Jahre, was also einst ein sicherer Treffpunkt war, kann nun eine atomare Wüste sein, in der Bücherleser erschossen werden.

Also wurden die 1000-Jahres-Treffen eingeführt. Alle 1000 normalen Jahre treffen wir uns an einem bestimmten Ort. Ausrichter ist ein gigantisches Trägerschiff, welches selbst die Zwischenzeit auf Lichtgeschwindigkeit verbringt, so dass wir stets eine gewohnte Umgebung, technologisch kompatible Werften und bekannte Gesichter antreffen.

Eine Tour aus zwölf Sprüngen dauert für mich etwa 24 Pewochs und führt mich kreisförmig zum 1000-Jahres-Treffen zurück. Gefällt es mir irgendwo besonders gut, bleib ich auch mal einen Monat oder ein Jahr dort. Im Schnitt verbrauche ich im Verlauf der 1000 Jahre etwa acht bis zwölf Monate meiner Lebenszeit. Zum Ende ist immer etwas Puffer, da fliege ich dann einen kleinen Umweg in Lichtgeschwindigkeit, um die fehlenden Jahre aufzubrauchen, während für mich keine Zeit vergeht. Schlussendlich kommen wir stets punktgenau zum Treffen an.

Unsere Zusammenkunft ist nur eine von vielen. Manche Piloten reisen zwischen den verschiedenen Treffen hin und her

und verbinden dadurch diese Knotenpunkte. Das Universum ist unglaublich groß! Und wenn du glaubst, 1000 Jahre Geschichten einer Welt sind bereits beeindruckend, dann überschlag einmal, welche Mengen an Daten auf einem 1000-Jahre-Treffen umgeschlagen werden …

Auf dem Zusammenkünften koordiniert man die Routen für die nächsten 1000 Jahre, so dass alle Planeten immer mal wieder besucht, neue Systeme erforscht und Mehrfachbesuche in kurzer Zeit vermieden werden. Dabei ist alles freiwillig, niemand ist gezwungen, zu den Treffen zu kommen oder exakt diese Welten anzufliegen. Es hat sich einfach als ungeheuer praktisch erwiesen. Und es tut unglaublich gut, hin und wieder bekannte Gesichter zu sehen und Freundschaften mit Menschen zu schließen, die nicht beim nächsten Sprung von der Zeitdilatation gefressen werden.

Ich glaube, wir werden auf dem Treffen eine gute Möglichkeit finden, dich irgendwo unterzubringen.


Man ist als Reisender ja viel gewohnt, aber der Empfangsball des 1000-Jahre-Treffens war an Opulenz kaum zu übertreffen. Was sich hunderte von Welten in Millennien ausdenken können, wurde hier zur Wirklichkeit. Ich war jedes Mal überwältigt und stolz, ein Teil davon sein zu dürfen.

Marja trug ein entzückendes Kleid aus der Nuckelavee-Kollektion. Meine Einwände, dass keine Sau die Viecher kennt, hatte sie mit der Bemerkung vom Tisch gewischt, dass sie dies in den kommenden Jahrtausenden zu ändern gedenke und am besten gleich hier und jetzt damit beginnen würde. Ihr emotionaler Zustand war im Großen und Ganzen stabil, ebenso unser Verhältnis zueinander. Ich selbst trug einen maßgeschneiderten Anzug, wie er auf Hellgate der neueste Schrei ist (oder besser: war, inzwischen sind dort etwa 700 Jahre vergangen. Aber egal – das Teil sieht einfach geil aus).

Der Saal wurde dominiert von filigranen Kristallskulpturen, die in milchigem Beigeton den Raum beleuchten. Möglich wird dies durch biolumineszierende Organismen, die in die Kristalle eingeschlossen sind. Verschiedenste Köstlichkeiten wurden gereicht, während man sich an Kunstgegenständen und Genkreationen hunderter Welten ergötzen konnte.

Marjas erster Eindruck war ein simples »Whoaaa!«

Ich zeigte zur Decke und entlockte ihr ein noch inbrünstigeres »WHOAAAA!«

Der Saal war kugelrund, alle Gäste bewegten sich durch die künstliche Schwerkraft gehalten auf der Innenseite der Hohlkugel. Von hier konnte man sehen, dass die Kristalle nicht etwa zufällig, sondern nach einem ästhetischen Muster aufgestellt waren, welches nur von der jeweils anderen Seite erkennbar war. Dazwischen fügten sich die flanierenden, tanzenden und pausierenden Gäste ein und gaben dem Ganzen etwas harmonisch Fließendes.

Ich grüßte viele bekannte Gesichter und stellte Marja vor, während ich zielstrebig unseren Weg zum Regenbogenfarn suchte, einer Skulptur, die aus Pflanzen aus verschiedenen Systemen bestand und deren Blätter in allen denkbaren Farben leuchten. Dort hatte ich mich per iMplantat mit einer guten Freundin verabredet.

Sie war gekommen, und sie trug das schwarze Kleid, das ich so an ihr mochte. Eine Weile waren wir mehr als nur Freunde gewesen, und es gab eine Zeit, da wünschte ich, wir könnten unsere Schiffe zusammenlegen.

Schelmisch grinste sie uns an. »Mein alter Freund, schön, dich zu sehen! Du hast dich kaum verändert, stattlich wie eh und je!«

»Elisabeth … Elli … du siehst auch sehr … gut aus«, stammelte ich mir zurecht. Ich konnte das Vergnügen in ihren Augen erkennen. Mit voller Absicht hatte sie mich auflaufen lassen.

»Ach, du alter Charmeur! Alt bin ich geworden, das wolltest du sagen. Das rote Haar ist weiß und die Haut alt und schrumpelig. Ich bin schon lange nicht mehr das feurige Mädchen, mit dem du einst ausgingst.«

Ja, stimmt. Elli hatte seit dem letzten 1000-Jahre-Treffen mindestens 60 Jahre zugelegt.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin etwas überrascht. Was ist passiert? Ich meine, was hat dich aufgehalten?«

»Ach, das ist schon in Ordnung. Ich habe halt einen Gonzales gezogen.«

›Einen Gonzales ziehen‹ war Fernhändlerjargon dafür, auf einer Welt einen Partner zu finden und sein Leben dort zu verbringen. Ähnlich wie die Robinsonade lässt sich der Begriff auf einen einflussreichen Roman zurückführen. Die Höflichkeit hatte eine Standardreaktion auf diese Floskel parat, die ich direkt nutzte:

»Und, war er es wert?«

»Er war ein Arschloch, das habe ich recht schnell gemerkt. Aber sie war wundervoll!«

»Oh, eine Sie? Ich wusste gar nicht, dass du …«

Sie lachte ihr glockenhelles Lachen, das sich kein bisschen verändert hatte.

»Nein, du Dummkopf. Sie, damit meine ich meine Tochter. Aber wie ich sehe, warst du auch nicht untätig.«

Sie blickte in Richtung Marjas, die sichtlich genervt den unverständlichen Worten der Erwachsenen lauschte.

Schnell stellte ich die Damen einander vor und erklärte, wie Marja an Bord der Axon Zwölf gekommen war. Elisabeths Gesicht (ich konnte sie einfach nicht mehr Elli nennen) wurde ernst, und ihr Blick durchbohrte mich, als wüsste sie bereits, was ich vorhatte.

»Soso, ein blinder Passagier also. Weißt du, ich habe Robert und Bo bei den Frosch-Spirituosen gesehen, vielleicht sagst du mal Hallo und ihr plaudert über die alten Zeiten. Ich unterhalte mich derweilen mit Marja, von Frau zu Frau.«

Das lief besser als erwartet. Ich hatte zwar das Gefühl, die Initiative verloren zu haben, aber Frauenthemen waren mir eh unangenehm, Rob und Bo waren klasse Typen und Frosch-Spirituosen … nun ja, die sind kompliziert, ich erkläre das vielleicht später mal.


Dem Detox war zu verdanken, dass ich bei halbwegs klarem Verstand war, als Elisabeth mich am Ohr vom Frosch-Tresen wegzog. Wahrscheinlich war ich nur deshalb überhaupt noch am Leben, obwohl ich mir nicht sicher war, ob das gerade von Vorteil war.

Mit erstaunlicher Kraft zog mich die alte Frau in ein Separee, welche für private Gespräche überall im Kugelsaal zugänglich waren. Dort erwartete mich schon Marja. Sie hatte offensichtlich wieder geweint.

»Du bist ein gewaltiger Vollidiot, das weißt du hoffentlich?«, fragte mich Elisabeth mit gefährlich ruhiger Stimme. Ich blickte sie an, blieb aber still, da ich ahnte, dass ich trotz der Frage noch keine Redeerlaubnis hatte.

»Dieses Kind hat seine ganze Familie, seine Welt verloren, und dir fällt nichts Besseres ein, als sie auf die größte Party im Universum zu schleppen? Du hast sie belogen, ihr Dinge verheimlicht und dann kein Sterbenswörtchen gesagt, um sie durch ihren Schmerz zu begleiten? Und jetzt versuchst du wohlmöglich, die unangenehme Sache loszuwerden, indem du sie mir als Lehrling aufschwatzen willst?«

Ups … Bingo.

»Ich kenne dich, mein Jüngelchen, das wäre genau dein Stil!«

Ich öffnete den Mund zur Widerrede, doch sie unterbrach mich.

»Und komm mir jetzt nicht mit Regularien und Fernhändler-Regeln!«

Ich schloss den Mund. Eine peinliche Pause entstand.

»Ach, Mensch, du hättest mein Gonzales sein können«, setzte sie mit weicherer Stimme fort, »aber deine Achtlosigkeit hat dir immer schon im Weg gestanden. Also – was machen wir jetzt? Bei mir kannst du sie nicht abgeben, dazu bin ich inzwischen zu alt. Und außerdem hast du noch eine Schuld abzutragen.«

Ich fühlte mich elend, vermied den Augenkontakt mit beiden Frauen und stammelte irgendwas Entschuldigendes vor mich hin. Verdammt, warum mussten mir ausgerechnet jetzt die Augen tränen und die Nase laufen?

»So wird das nichts«, lenkte meine alte Freundin ein, nachdem

sie mich eine Weile hatte zappeln lassen. »Du musst lernen, Verantwortung zu übernehmen und Menschen in dein Leben zu lassen, auch für länger als einen Planetenbesuch. Und du«, wandte sie sich an Marja, »brauchst jemanden, der dir diese neue Welt erklären kann. Und dafür ist keiner besser geeignet als der Idiot da. Wenn ihr euch also beide einverstanden erklärt« – ihr Tonfall ließ uns wissen, dass wir hier keineswegs eine Wahl hatten – »dann bleibt Marja bis auf weiteres auf der Axon Zwölf, und ihr lernt, euch damit zu arrangieren.«

Das lief überhaupt nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Dass es ein paar harte Worte und schwierige Verhandlungen gäbe, davon war auszugehen, aber ich war doch fest überzeugt gewesen, dass Elli oder später Elisabeth sich des Mädchens annehmen würde. Aber die alte Frau hatte mich mit ihrer Lebenserfahrung ausmanövriert. Tatsächlich fühlte es sich aber gar nicht mal schlecht an. Klar, auf der einen Seite wollte ich niemanden, der meine Unabhängigkeit dauerhaft störte und für den ich letzten Endes auch noch verantwortlich wäre. Auf der anderen Seite aber spürte ich eine Art von Erleichterung und auch Freude, wenn ich mir vorstellte, Marja auch weiterhin an Bord zu haben. Und – hey – ich wurde ja quasi dazu gezwungen! Äußere Einflüsse! Ich selbst nix Schuld!

»Also, Marja, wenn das ok für dich ist und du etwas Geduld mit so einem Eigennbrötler wie mir hast, dann würde ich dich sehr gerne an Bord der Axon Zwölf haben«, bot ich schließlich an.

»Ja, ich denke auch, das wäre ganz ok«, schniefte sie.

»Kleiner Tipp: Ihr dürft euch auch durchaus mal umarmen«, bemerkte Elisabeth, und sofort flog mir Marja um den Hals.

Ich glaube, das tat uns beiden sehr gut.

ENDE

Reiseziel Utopia

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