Читать книгу Reiseziel Utopia - Anja Bagus, Victor Boden - Страница 8
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ОглавлениеCarmen Capiti
Ich sehe, dass Ihre Sorge gewissermaßen berechtigt ist«, sagte der Sozialarbeiter, welcher mit ihrer Mutter in der Küche saß. »Kerr ist ... ein spezielles Kind.«
»Immer wieder höre ich das Wort speziell«, antwortete ihre Mutter. »Kann mir mal jemand erklären, was genau das bedeutet?«
Kerr hatte die Beine an den Oberkörper gezogen und saß im Wohnzimmer auf dem Boden. Sie wusste, dass ihre Mutter sie sehen konnte, wenn sie den Hals streckte, darum tat sie so, als wäre sie hochkonzentriert. Sie hatte sich sogar den ausgeschalteten VR-Helm übergestreift, damit die beiden nicht merkten, dass sie lauschte.
»Andere Kinder im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren sind in ihrer Entwicklung weiter«, führte der Sozialarbeiter aus, als würde es sich dabei um Neuigkeiten handeln. »Die meisten haben bereits die ersten fünfzehn Level mit den NanoBloxx hinter sich und können die Roboter für produktive Dinge programmieren. Kerr hingegen ...«
»Kerr steckt auf den ersten paar Leveln fest, ich weiß.« Ihre Mutter klang niedergeschlagen. »Sie sträubt sich einfach dagegen, es zu lernen.«
Kerr zuckte zusammen, als etwas ihren Arm streifte. Sie streckte die Hand aus und spürte den weichen Plüsch des kleinen Roboterlöwen. Er schmiegte sich an sie und sie streichelte ihn, was ihre Beklommenheit etwas vertrieb.
Sie sträubte sich doch gar nicht gegen das Lernen. Sie hasste nur, dass es in dem VR-Helm so dunkel war. Natürlich war es an ihr, die Düsternis mit Code-Blöcken zu füllen, aber wie sollte sie die Konzentration dafür hinkriegen, wenn da einfach immer nur diese blöde Beklommenheit war?
»Wir haben andere Kinder wie sie gesehen. Noch ist nicht alles verloren«, sagte der Sozialarbeiter.
»Aber was kann ich tun, um ihr zu helfen? Es muss doch etwas geben!«
Stoff raschelte.
»Ermutigen Sie sie weiterhin zum Üben. Benutzen Sie extrinsische Motivationsfaktoren und fördern Sie intrinsische. Loben Sie sie, wann immer sie Fortschritte erzielt.«
Alles Dinge, die ihre Mutter bereits tat.
»Vielen Dank für Ihre Einschätzung.«
Das sanfte Zischen der Haustür erklang und wenig später berührte Kerr etwas an der Schulter. Sie streifte den Helm ab und wandte sich um. Eine feine Wolke reflektierender Punkte verschwand gerade in der Küche.
Kerr seufzte und nahm den Löwen in die Arme, wo er seinen Kopf gegen ihre Brust rieb und brummte. Ihn fest an sich gepresst folgte sie den Punkten.
»Liebling«, sagte ihre Mutter, die den Tisch deckte. »Wie lief es heute mit deinem Wölkchen?«
Dabei nickte sie in Richtung von Kerrs rechter Schulter, wo sich die NanoBloxx tummelten. Ihre Mutter mochte die Anfänger-Nanocloud verniedlichen, in Wahrheit waren Kerrs Roboterchen aber bedeutend größer als diejenigen in der schimmernden Wolke ihrer Mutter. Und auch bei Weitem weniger zahlreich. Während eine richtige Nanocloud gut eine Million Roboter zählte, umfassten die NanoBloxx nur um die hunderttausend.
»Gut«, sagte Kerr nur und setzte sich. Dabei stieß sie mit dem Ellenbogen gegen ein Glas Wasser und verschüttete den Inhalt über dem Tisch.
»Oh!« Sie wollte aufspringen, um einen Lappen zu holen, als sich die Nanocloud ihrer Mutter bereits wie eine Decke über das Wasser legte.
»Lass nur, Süße. Ist nicht so schlimm«, sagte ihre Mutter und küsste sie auf den Kopf. Meinte sie das Training oder die Sauerei auf dem Tisch?
Nur Sekunden später hatten die Nanoroboter die Pfütze getrocknet, das Glas hingestellt und es erneut mit Wasser aus dem Krug gefüllt.
»Ich habe heute Siene und ihren Vater getroffen«, erklärte ihre Mutter. »Sie waren auf dem Weg, Sienes Nanoboard auszuwählen.« Mit den Worten tippte sie sich selbst gegen die Schläfe, wo ein silberner Haarreif ein farbiges Plättchen mit eingelassenen Sensoren an Ort und Stelle hielt.
»Ah«, sagte Kerr und ein Knoten bildete sich in ihrer Kehle.
Sie wusste, dass ihre Mutter sie nur anspornen wollte. Zu wissen, dass bereits die ersten ihrer Altersgruppe ein Nanoboard angepasst bekamen, demotivierte Kerr jedoch mehr als alles andere. Leicht eifersüchtig schielte sie zu dem Haarreif. Wie viel angenehmer das Programmieren damit doch sein musste im Gegensatz zum klobigen und dunklen VR-Helm. Aber nur die älteren Jugendlichen, die das NanoBloxx-Training bereits absolviert hatten, kriegten ein richtiges Nanoboard. Vorher war die direkte Gehirnwellenschnittstelle schlichtweg zu teuer.
Ihre Mutter schien zu bemerken, dass sie Kerr für den Moment nicht helfen konnte, also aßen sie schweigend.
Am Abend stand Kerr vor dem Spiegel und betrachtete die grauen Klötzchen über ihrer Schulter, die sich unablässig bewegten, zu geometrischen Formen fügten und sich wieder voneinander lösten.
Wie sie die NanoBloxx hasste. Im Gegenzug zu den reflektierenden Nanorobotern der Erwachsenen waren sie hässlich und rau. Vor allem aber erinnerten sie Kerr tagein und tagaus daran,
wie viel Kummer sie ihrer Mutter bereitete. Auch jetzt hörte sie sie im Nebenzimmer schluchzen. Wenn sie es doch nur schaffen würde, sich zu konzentrieren, dann könnte sie bestimmt auch bald ihr Nanoboard aussuchen und alles wäre in Ordnung. Siene konnte ihre NanoBloxx bereits dazu bringen, ihr Gegenstände hinterherzutragen oder aufzufangen, was sie fallen ließ. Kerr hingegen kriegte ihre Bloxx nicht mal dazu, eine gleichmäßige Kugel zu formen.
Der kleine Roboterlöwe saß auf ihrem Kopfkissen und maunzte. Eine von ihrer Mutter programmierte Funktion, die sie dazu bringen sollte, zeitig zu Bett zu gehen. Bis vor einigen Jahren hatte das noch funktioniert, aber heute mochte sie sich nicht vom Kuscheltier verleiten lassen. Sie wollte endlich ihrer Mutter den Kummer nehmen und sie stolz machen.
Sie atmete tief durch und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Dann biss sie die Zähne zusammen und streifte den VR-Helm über. Als die Dunkelheit sie umfing, machte sich sofort die altbekannte Beklommenheit in ihr breit. Wie damals vor fünf Jahren, als ...
Konzentriere dich!, herrschte sie sich an.
Sie aktivierte den Helm und das gleichmäßige sanfte Rauschen des Antischall-Moduls erklang in ihren Ohren. Jetzt war sie allein, abgeschottet von der Umwelt.
Ein einzelner grauer Punkt blinkte in ihrer Peripherie und Kerr lenkte all ihren Fokus auf ihn. Sie hatte die anleitende Stimme auf stumm geschaltet, da sie die Erläuterungen zu den Lektionen bereits in- und auswendig kannte. Der Punkt vergrößerte sich etwas und Kerr erkannte die unzähligen kleinen Greifärmchen und die Module des Nanoroboters.
»Okay«, flüsterte sie. »Jetzt der Code.«
In ihrer Erinnerung durchstöberte sie die Codefragmente, die sie auf den einzelnen Roboter anwenden konnte. Doch kaum schwenkte ihre Konzentration vom leuchtenden Punkt vor ihren Augen ab, fühlte es sich an, als fiele sie in ein schwarzes Loch. Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen und ein dicker Knoten
bildete sich in ihrem Hals. Mit einem Schlag kehrte die Panik zurück, die sie damals verspürt hatte, als ihre Durchblutungsstörung sie kurzzeitig hatte erblinden lassen. Sie wollte schreien, sich irgendwo festhalten, doch ihre Hände fassten ins Leere.
Schließlich riss sie sich den Helm vom Kopf und schmetterte ihn quer durch den Raum. Tränen quollen aus ihrem Augen und sie konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten.
Der Roboterlöwe war vom Bett gesprungen und jagte dem davonrollenden Helm hinterher, bevor sich seine viel zu weichen Zähne in dessen Polster verbissen.
»Ja«, schniefte Kerr. »So sehe ich das auch.«
Sie versuchte erfolglos, ihre Atmung zu beruhigen. Stattdessen überflutete sie das schlechte Gewissen. Sie brauchte sich doch nur stärker bemühen! Siene und die anderen kriegten es auch alle auf die Reihe und früher hatte immer Kerr als das aufgeweckte, kluge Kind gegolten.
Sie schluckte einen verzweifelten Schrei hinunter und sprang auf die Beine. Es war vorbei. Sie konnte so nicht weitermachen. Ihre Mutter hatte genug um die Ohren, als dass sie noch so eine Versagerin wie sie als Tochter verdient hätte.
Mit zittrigen Händen zerrte sie ihren Rucksack hervor und entleerte ihn auf dem Bett. Dann begann sie einzupacken, was sie für wichtig hielt. Eine Jacke, frische Unterwäsche, einen Schal.
Der Plüschlöwe hatte ihre Aufbruchbereitschaft aufgeschnappt und rannte freudig im Zimmer hin und her, um ihr Dinge zu bringen, die sie benötigen könnte. Irgendwann schlich er aus dem Raum und trug allerlei aus dem gesamten Haushalt zusammen. Kerrs Sicht war durch die erneuten Tränen verschwommen und sie stopfte einfach alles in ihren Rucksack. Irgendwie würde sie all das schon brauchen. Zum Schluss wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und schulterte die Tasche. An der Haustür schlich der Löwe ihr derart um die Beine, dass sie es nicht über sich brachte, ihn zurück zu lassen. Immerhin war er ihr Begleiter seit sie ein Kind war. Um ehrlich zu sein, hatte ihre Mutter ihn ihr gekauft, als sie damals wegen ihrem Augenleiden in Behandlung gewesen war.
»Na schön«, sagte sie zu ihm und packte ihn sich unter den Arm.
Auf der Straße drehte sie sich noch einmal um. Hätte sie eine Nachricht hinterlassen sollen? Nein. Ihre Mutter wäre sicher glücklich, wenn sie fort war und eine Erklärung brauchte es nicht wirklich. Sie würde es schon wissen.
Die NanoBloxx surrten beständig neben ihrem Ohr und wann immer sie sie verscheuchen wollte, wichen sie ihren Händen aus und kehrten danach an Ort und Stelle zurück.
Kerr hatte gehört, dass es Menschen gab, die keine Nanocloud auf sich geprägt hatten. Sie lebten außerhalb der Stadt und keiner bekam sie je zu Gesicht, weil sie von der Gesellschaft ausgestoßen waren. Diese Leute mussten eine Möglichkeit kennen, wie Kerr ihre dummen Bloxx los wurde. Wenn sie sie nicht befehligen konnte, dann brauchte sie sie auch nicht um sich herum. Da draußen würde sie glücklich werden. Da draußen hatte niemand Erwartungen an sie.
Kaum war sie einige Schritte gegangen, hielt ein Taxipod neben ihr. Sie zögerte kurz, dann fiel ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie an die Stadtgrenze kommen sollte. Also stieg sie in die Kapsel und wählte einen Zielpunkt ganz außen am Stadtrand.
»Herzlich willkommen an Bord, Kerr«, sprach eine automatisierte Stimme.
Die Kapsel stieg in die Höhe und reihte sich über den Dächern der Wolkenkratzer zwischen unzähligen weiteren Pods ein.
Müde beobachtete Kerr die Lichter unter sich. Genauso stellte sie sich vor, dass es unter dem VR-Helm aussehen könnte, wenn sie es hinkriegen würde. Lauter bunte Lichter in der Dunkelheit, die sich bewegten, wie sie wollte. Vielleicht wäre es aber auch vollkommen anders. Die anderen Jugendlichen sprachen immer sehr unterschiedlich von ihrem eigenen Kreationsraum im VR.
Irgendwann löste sich der Pod aus der Reihe und setzte zu einem Sinkflug an. Kerr guckte nach unten und ein kalter Schauer überkam sie. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war.
»Natürlich nicht«, sprach sie sich selber zu. »Das wusstest du auch, Dummchen.«
Sie drückte den Löwen an sich und er begann, mit seiner trockenen Stoffzunge über ihre Hände zu lecken.
Zweifel erwachten in ihr. Was, wenn diese ausgestoßenen Leute sie nicht mochten? Wenn sie sie angreifen würden, nur weil sie die NanoBloxx bei sich hatte? Vielleicht hätte sie gar keine Zeit, zu erklären, was sie von ihnen wollte, bevor sie sie verjagten.
Als sie gelandet waren, nahm Kerr allen Mut zusammen und schlüpfte aus dem Pod.
»Vielen Dank, Kerr. Der Betrag wurde abgebucht.«
Die Straße war leer. Der Schein der gelbweißen Straßenbeleuchtung erhellte sie zwar und die Stadt schickte eine trübe Helligkeit herüber, aber in praktisch keinem der Fenster war das Licht an. Wie unheimlich. In der Stadt brannte immer und überall Licht.
Gleichzeitig war alles so still.
Der Löwe strampelte in ihren Armen und sie setzte ihn auf den Boden. Mit zwei Sätzen war der Kleine um die nächste Ecke verschwunden.
»Warte!«, rief Kerr und rannte ihm hinterher.
Kaum war sie in die Straße eingebogen, prallte sie mit etwas zusammen, was sie auf ihren Hintern bugsierte.
»He!«, sprach eine raue Stimme über ihr.
Kerr schrie vor Schreck, sprang auf die Beine und hetzte in die andere Richtung davon. Sie wusste nicht, wovor sie wegrannte, aber sie spürte, dass man sie verfolgte. Auf einmal kam es ihr vor, als wäre der Boden aus Gummi. Sie strauchelte und fiel der Länge nach hin.
Sofort lagen Hände auf ihren Schultern und fassten sie grob an. Nur einen Moment später stand sie wieder auf den Füßen. Ein Mann hatte sie aufgestellt und redete auf sie ein, doch sie hörte nicht hin. Sie schüttelte vehement den Kopf und versuchte sich zu befreien.
»He«, drang es zu ihr durch. »Ganz ruhig.«
Der Griff um ihre Schultern lockerte sich, aber der Mann ließ sie nicht gehen. Als sie die Ausweglosigkeit erkannte, verharrte sie und wagte es, ihn direkt anzuschauen.
Er sah nicht aus wie ein Ausgestoßener. Sein Gesicht war jung und ernst, aber er hatte freundliche Augen und gar keine Narben oder so. Die Ausgestoßenen hatten nämlich keine Medizin, hatte sie gehört. War er möglicherweise gar keiner? Kerr konnte weit und breit keine Nanocloud sehen, also musste er doch einer von ihnen sein?
»Hast du dir weh getan?«, fragte er.
Kerr schüttelte nur den Kopf, ihren pochenden Hintern ignorierend.
»Hier.« Der Mann ließ sie los und hob etwas vom Boden auf. Dann streckte er ihr lächelnd ihren Roboterlöwen hin. Kerr nahm das Haustier entgegen und hielt es fest in den Armen.
»Keine Angst. Dir passiert schon nichts. Warum bist du so ...« Er blinzelte mehrmals verwirrt, als sein Blick auf ihre NanoBloxx fiel. Kerr begann unweigerlich zu zittern.
»Oh«, sagte er langgezogen. »Wie bist du denn hierher gekommen, Kleine?«
Erneut brachen Tränen aus Kerrs Augen und sofort ließ sich der Mann vor ihr auf die Knie nieder.
»Hast du dich verirrt?«
Kerr schüttelte den Kopf, versuchte, tief durchzuatmen, und strich sich dann die Tränen von den Wangen.
»Nein«, sagte sie mit so fester Stimme wie möglich. »Ich bin mit dem Taxipod gekommen.«
Der Mann lachte auf. »Mit dem Taxi? Aus der Stadt? Das hört sich nach einem echten Abenteuer an. Weißt du was, lass uns drinnen weiter reden.«
Er streckte ihr die Hand entgegen und mangels Alternativen ergriff sie Kerr. Er schien ihr nichts Übles zu wollen, nur weil sie die NanoBloxx dabei hatte.
Er führte sie zwei Straßen weiter und öffneten eine Tür für sie, ganz altmodisch mit einem externen Signal von seinem Handcomputer.
Fasziniert betrat Kerr einen Aufzug, der ohne Sprachsteuerung auskam, bis sie schließlich im Wohnzimmer in einer kleinen Wohnung standen.
»Ich bin Janier«, sagte der Mann und wies auf das Sofa.
Kerr setzte sich schüchtern, den Löwen immer noch an sich gepresst, obschon dieser sich los zu strampeln versuchte.
»Ich heiße Kerr.«
»Ich mach dir was zu trinken, Kerr. Möchtest du heißen Kakao?«
Sie nickte und Janier verschwand in einem angrenzenden Raum. Sie hörte die Geräusche, die sie aus veralteten Filmen kannte, wenn jemand mit manuellen Küchengeräten hantierte, das Knirschen, Knacken und Surren alter Motoren. Die ganze Wohnung sah irgendwie aus wie aus einem Film.
Kurz darauf setzte Janier eine dampfende Tasse vor ihr ab und platzierte sich mit einer eigenen ihr gegenüber auf einen Sessel.
»Also Kerr. Erzähl doch mal, warum du alleine in den Straßen von Basic unterwegs bist.«
»Basic?«, fragte sie und pustete in den Kakao.
Janier lächelte. »Irgendwer hat irgendwann damit begonnen, unser Quartier so zu nennen. Du weißt doch, wo du hier bist, oder?«
»Ja«, sagte sie langgezogen. »Bei den Ausgestoßenen.« Kaum hatte das Wort ihren Mund verlassen, verschüttete sie vor Schreck etwas Kakao.
Sie blickte Janier aus großen Augen an und hoffte, dass er ihr den Ausdruck nicht übel nahm.
Aber Janier lachte nur. »Ausgestoßene. Erzählt man sich diese Ammenmärchen immer noch in den Unterrichtsstunden? Faszinierend, wie beharrlich sich gewisse Dinge halten.«
Kerr biss sich auf die Lippen und sagte nichts. Janier beugte sich verschwörerisch zu ihr hinüber.
»Wir sind keine Ausgestoßenen. Jeder von uns lebt freiwillig hier. Und jeder darf auch zurück in die Stadt, wann immer er oder sie will.«
»Aber hier hat es so wenig Licht. Und keine Menschen auf der Straße«, sagte Kerr ungläubig.
»Das stimmt. Aber das ist so gewollt. Wir sind der Meinung, dass die Stadt schon hell genug leuchtet. Weißt du, dass man ganz weit außerhalb sogar die Sterne am Himmel sehen kann?«
Kerr schüttelte den Kopf.
»Außerdem haben wir Arbeits- und Ruhezeiten, die die meisten hier einhalten. In der Nacht sind darum nur wenige Leute unterwegs. Auch wegen der Wildhunde, die sich ab und zu hierhin verirren.«
»Hunde?« Kerr machte große Augen. »So richtige?«
»Ja. Sie finden hier Futter und Wärme und in der Nacht ist es ruhig, weshalb sie sich bis zu uns vorwagen. Wenn man weiß, welche Ecken man im Dunkeln meiden sollte, machen sie keine Probleme.«
»Oh«, sagte Kerr fasziniert. »Und warum lebt ihr so?«
»Es gefällt uns schlichtweg besser. Technik ist schön und gut, aber im Großen und Ganzen gibt es in der Stadt einfach etwas zu viel davon. Wir finden es so angenehmer und der Stadtrat hat keine Probleme damit.«
»Und die Nanocloud?«
»Haben einige von uns nie kennen gelernt, andere haben sich von ihrer trennen lassen, als sie hierherkamen. Ganz unterschiedlich.«
Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, hob Janier den Zeigefinger. »Jetzt bin ich an der Reihe, junge Dame. Warum bist du ganz alleine in einem Taxipod hierhergekommen?«
Kerr ließ sich tief in die Polster zurücksinken. Der Geruch von Kunstleder überschwemmte sie. Und was war das, was ihr in der Nase kitzelte? Staub? Wie ungewöhnlich für das Innere einer Wohnung. Sie bemerkte, wie ihre Gedanken abschweiften, und zwang sie zum Gespräch mit Janier zurück.
»Ich ... ich möchte bei euch leben. Ohne Nanocloud.«
Janier hob überrascht eine Augenbraue. »Du hast erst die Bloxx, warum weißt du, dass du gar nicht erst die Cloud willst?«
»Ich weiß es einfach«, antwortete sie trotzig.
»Ich verstehe.«
Für einen Moment starrten beide in ihre Tassen.
»Weißt du«, sagte Janier dann. »Wenn du später keine Nanocloud willst, lässt du dich einfach mit keiner koppeln. Aber es ist ziemlich schwierig, die Behörden zu überzeugen, dass du die Bloxx abstoßen möchtest.«
»Habt ihr sie euch denn nicht selber entfernt?«, fragte Kerr kleinlaut.
»Selber? Du meinst uns gegenseitig hier in Basic? Aber nein, warum sollten wir? Wir gehen zu den entsprechenden Zentren in der Stadt für sowas, wie alle anderen auch. Die machen das umsonst und wissen, wovon sie reden.«
Kerr sackte in sich zusammen und krallte die Hände ins Fell ihres Löwen. »Das heißt, ich kann nicht hier leben?«
Janier stand auf und ging um den Stubentisch herum zum Sofa hin. »Nicht ohne Einwilligung deiner Eltern. Das verstehst du doch sicher? Wissen sie denn, dass du hier bist?«
Kerr presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Luft ab und Tränen füllten ihre Augen. Sie sprang auf die Beine und rannte zur Tür.
Das sollte alles viel einfacher sein!
»Kerr!«, rief Janier und lief ihr hinterher.
Doch sie wollte nicht mehr mit ihm reden. Sie wollte raus aus dieser stickigen Wohnung mit all dem Staub und weg aus Basic, wo man sie offenbar auch nicht haben wollte. Hinter ihr polterte es und sie hörte Janier fluchen.
Sie packte ihren Rucksack und eilte die Treppe hinab. Auf der Straße rannte sie ziellos in eine Richtung, nahm Gassen, überquerte Plätze und glaubte fest daran, irgendwann wieder in der Stadt ankommen zu müssen.
Sie lief und lief, bis sie schwer keuchte und ihre Beine sie nicht mehr tragen mochten. Sie befand sich an einer Kreuzung einiger schmaler Straßen, wo es nur spärliche Beleuchtung gab.
Kerr setzte sich schluchzend an die Straßenecke und presste ihren Rucksack an ihre Brust.
Alles war umsonst gewesen. Niemand hier würde ihr helfen und dieser Janier wollte sie nur zurückbringen zu ihrer Mutter. Dabei würde sie ihr damit nur noch mehr Kummer bereiten.
Um den mächtigen Kloß in ihrem Hals runterzuspülen öffnete Kerr ihren Rucksack. Als sie nach ihrer Wasserflasche tastete, spürte sie auf einmal etwas Ungewöhnliches. Sie zog es heraus und hielt das Nanoboard ihrer Mutter in den Fingern. Kerr schlug die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Wie war das hierher gekommen? Der Löwe mauzte leise und rieb seinen Kopf an ihren Beinen.
»Oh du«, keuchte Kerr und drehte das Board vor ihrem Gesicht.
Der Haarreif war von filigranen silbernen Fäden umwickelt und mit blauen Perlen versehen. Das Schnittstellenplättchen glänzte perlmuttfarben, als sie es im spärlichen Licht drehte. Ohne zu überlegen, setzte sie es auf und spürte sofort ein leises Kribbeln an ihrer Schläfe, als sich der Reif automatisch an ihre Kopfform anpasste. Danach spürte sie es schon beinahe nicht mehr. Ihre Mutter zog das Board nur aus, wenn sie sich schlafen legte, da sie Angst hatte, es zu beschädigen. Was würde sie sagen, wenn sie am Morgen erwachte und es war weg? Wie würde sie ihren Tag bestreiten, ohne die Möglichkeit, ihre Nanobots zu kontrollieren?
Verzweiflung überkam Kerr und sie presste das Gesicht in den Stoff des Rucksackes.
»Du dummes Tier du.«
Der Plüschlöwe fauchte auf und Kerr zuckte zusammen. Er mochte einfache Sprache verstehen, hatte jedoch noch nie aggressiv reagiert, wenn sie ihn rügte. Ruckartig blickte sie auf. Hörte sie Schritte? Überall tanzten die Schatten der großen Stadt, aber sie konnte nichts in ihrer unmittelbaren Nähe erkennen.
»Janier?«, fragte sie zaghaft.
Anstelle von einer Antwort erklangen ein tiefes Knurren und ein Schaben auf dem Beton.
Kerr sprang auf die Beine und presste sich gegen die Fassade hinter ihr, als könnte sie durch sie hindurchschlüpfen.
Das war nicht Janier. Es waren keine Menschen. Als ein Paar runde Augen im Dunkel aufleuchteten, rannte Kerr los.
Hinter sich hörte sie nun deutlich das schnelle Kratzen von Krallen auf dem Boden und ein Hecheln. Ihr Herz raste so schnell, dass ihre Füße nicht mitkamen. Sie strauchelte, fing sich und lief weiter. Nun erklang ganz deutlich ein Bellen, schnell gesellten sich zwei weitere hinzu.
Die Hunde waren ganz nah.
Kerr rannte einfach weiter die Straße entlang. Bis diese aufhörte. Ihr entfuhr ein Schrei, als sich auf einmal eine Mauer vor ihr auftat.
»Nein!«
Sie warf einen Blick hinter sich. Drei Wildhunde waren dicht hinter ihr stehen geblieben, bellten und sabberten. Da sprang etwas an ihr vorbei in Richtung der Bestien. Der kleine Plüschlöwe wurde im Flug von einem der Hunde gepackt und so lange hin und her geschüttelt, bis der Körper erschlaffte und an die nächste Wand geworfen wurde. Die Hunde entblößten ihre Zähne und traten näher, bis ihre Tatzen einen breiten Streifen Licht betraten, den eine Lampe auf den Grund warf.
Kerr sank an Ort und Stelle zu Boden und schloss die Augen, um nicht sehen zu müssen, was auf sie zukam. Helle Punkte blitzten vor ihren Lidern auf, so fest presste sie sie zusammen. Wie tanzende Lichter.
Wie unter dem VR-Helm.
Das Kribbeln in ihren Schläfen wurde stärker und auf einmal war sich Kerr ihrer NanoBloxx bewusster als jemals zuvor. Sie riss die Lider auf und fixierte die Lichtfläche vor ihr. Vor ihrem inneren Auge entstand eine Bühne. Darauf tummelten inexistente Partikel, stapelten sich aufeinander und begannen, sich zu einem Gebilde aufzutürmen. Kerr hielt den Atem an und starrte wie gebannt auf das Bild, von dem sie wusste, dass es nur in ihrem Kopf existierte. Sie konzentrierte sich auf die Einzelteile, rief die
Routinen ab, die sie längst verinnerlicht hatte und gab der Gestalt eine Form.
Da erwachten die Partikel zum Leben.
Kerr schrak zurück, als ein lautes Brüllen erklang. Neben ihr thronte der undeutliche Schemen eines grau schimmernden Löwen, mehr als doppelt so groß wie die Hunde, die Vorderpfoten angriffslustig in den Boden gestemmt. Ein weiteres Mal riss das Konstrukt den Rachen auf und brüllte. Die Wildhunde vor ihm legten die Ohren an und jagten winselnd in die andere Richtung davon.
Kerr starrte mit offenstehendem Mund auf die Kreatur. In dem Moment fielen die NanoBloxx ineinander zusammen und sammelten sich wieder über ihrer Schulter. Der Löwe war verschwunden.
Ein verstörtes Lachen drang über Kerrs Lippen, gleichzeitig mit einer Welle der Erleichterung.
Als sich ein neuer Schatten über sie legte, zuckten die Nano- Bloxx bereits vor, doch dann erkannte sie Janier.
»Ho«, sagte er atemlos. »Das war beeindruckend. Bist du in Ordnung?«
Sie atmete tief durch die Nase ein und aus, dann nickte sie.
»Was für ein Glück! Ich dachte, ich komme zu spät.« Er ließ sich neben ihr zu Boden sinken und zog etwas zu sich heran. »Oh je.«
Kerr blickte betrübt auf das, was von ihrem Roboterlöwen übrig war. Der zerrissene Stoff gab die desolate innere Mechanik und Elektronik preis.
»Keine Angst«, sagte Janier und legte ihn in ihre Arme. »Den kriegen sie in der Stadt schon wieder hin.«
Ein Zittern überkam Kerr urplötzlich, und als es nicht aufhören wollte, umfasste Janier ihre Hand.
»Es ist alles in Ordnung. Du hast sie vertrieben.«
Ein müdes Lachen entwich ihr. »Ich?«
»Deine NanoBloxx waren ganz schön angsteinflößend. Wie hast du das geschafft?«
Ja, wie?
Auf einmal war da die Bühne gewesen, geflutet vom Licht der Straßenbeleuchtung. Oder vielmehr ihr Kreationsraum? Sie hatte die einzelnen Partikel vor ihrem inneren Auge gesehen und hatte sie formen und befehligen können. Warum war ihr das sonst noch nie gelungen?
»Weil es immer dunkel war«, schoss es ihr durch den Kopf. »Unter dem Helm herrscht immer diese eiskalte Dunkelheit. Wie damals.«
Sie betastete das leichte Nanoboard auf ihrer Stirn.
Als sie nicht antwortete, stand Janier auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm. Lass uns verschwinden.«
Kerr versuchte, ihre rasenden Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Als sie das Surren der NanoBloxx neben sich vernahm, beruhigte sie sich und nickte.
»Ja. Ich möchte nach Hause. «
ENDE