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Dunkelheit
Ende August 2006 bis Dezember 2008
Dunkelheit. Im Lexikon wird Dunkelheit als „Abwesenheit von Licht, Finsternis, Fehlen von Wissen oder Aufklärung“ definiert. Diese Definition fasst die Zeit zwischen Mitte August 2006 und Ende Dezember 2008 perfekt zusammen. In dieser Zeit bin ich total schwach und sowohl körperlich als auch mental sehr fragil. Mein Gehirn ist verwirrt und ich durchlaufe verschiedene Bewusstseins-Phasen. Manchmal bin ich klar, aber dann bin ich wieder unfähig, selbst die einfachsten Aufgaben und Aktivitäten zu begreifen. Oft ist mir nicht bewusst, wer ich bin, wo ich bin, und wer die Menschen sind, die mir am nächsten stehen. Ich bin verloren, so verloren. Es ist unglaublich schwer, über diese Zeit zu schreiben, da ich, ehrlich gesagt, nur wenig oder gar keine Erinnerung daran habe. Dieses Kapitel fällt also kurz aus.
Mein Leben und meine Tagesabläufe sind schnell zusammengefasst. Da ich nichts erklären kann und keine Fragen beantworten kann, bleibt meiner Familie nichts anderes übrig, als jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt. Sie gehen auf meine jeweilige Verfassung ein. Meine Familie hört nicht auf, für mich zu kämpfen, Antworten zu suchen und mich bedingungslos zu lieben. Sie tun mir ehrlich leid. Ich lebe nicht; ich existiere grade noch so. Trotzdem kümmern sie sich um mich und bringen mir so viel Liebe und Unterstützung und Freundlichkeit entgegen. Die meisten denken jetzt vielleicht: Das ist doch selbstverständlich. Dazu sind Familien doch da. Aber mir ist bewusst, dass nicht alle Familien so sind. Die meisten werden irgendwann müde und sind mit einer solchen Ausnahmesituation auf Dauer einfach überfordert. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das öfter passiert, als man denken würde.
Trotzdem sucht meine Mutter, da sie immer noch keine Antworten auf die Ursache meines Zustandes hat, überall nach Behandlungsmöglichkeiten, um ihre Tochter zurückzubekommen. Sie liebt mich bedingungslos und kümmert sich bewundernswert um mich. Meine Eltern und Geschwister versuchen, normal zu sein und zu einem Leben außerhalb des Krankenhauses zurückzukehren. Meistens kann ich bei ihnen zu Hause sein. Mein Zustand ist stabil und verschlechtert sich nicht; verglichen mit der Verfassung, in der ich vor nicht allzu langer Zeit noch war, ist das eine gewisse Entspannung. Meine Mutter sucht verschiedene Heilpraktiker auf und findet Möglichkeiten, meinen Körper am Leben und halbwegs stabil zu halten. Die Ärzte wissen immer noch nicht, was meinen Zustand ausgelöst hat, aber sie finden zumindest die Ursache für die Schmerzen. Es gibt kaum eine schlimmere Pein als Nervenschmerzen. Und genau an diesen Schmerzen leidet mein Körper. Nach mehreren Versuchen mit verschiedenen Medikamenten finden die Ärzte schließlich heraus, dass ein bestimmtes Medikament gegen die Symptome, die mich von Anfang an außer Gefecht gesetzt haben, hilft. Nach fast neun Monaten bin ich endlich schmerzfrei. Dass diese Qualen nun vorüber sind, ist für meine Familie eine große Erleichterung und macht mein Leben definitiv etwas leichter. Trotz meiner sehr hohen Schmerztoleranz bin ich unglaublich froh und erleichtert, dass ich das nicht mehr ertragen muss.
Die Schmerzen waren echt.
Ich war nicht verrückt.
Leider ist diese Erleichterung aber nur von kurzer Dauer.
Die Ärzte können immer noch nicht diagnostizieren oder erklären, was mit mir los ist. Und so lebt meine Familie mit der Ungewissheit und versucht ihr Möglichstes, damit mein Zustand stabil bleibt und sich nicht wieder verschlechtert.
Ich bin wie eine Zweijährige im Körper eines Teenagers. Menschen versuchen, mit mir zu sprechen; Freunde, die mich kennen, seit ich fünf war, sind für mich Fremde, weil sich mein kognitives Bewusstsein immer wieder ausschaltet. Oft sind mir sogar meine eigenen Familienangehörigen fremd. Ich bin eine vollkommen andere Person in einem Körper, der voller Erinnerungen an ein anderes Leben ist. Die Abläufe sind mechanisch, die Suche nach Antworten geht weiter, während ich immer noch in diesem fremden Körper gefangen bin.
Ich bin ein Geist.
Ich treibe.
Ich treibe davon.
In eine Welt, die ich nicht kenne.
Mit einem Leben, zu dem ich keinen Bezug habe.
Untersuchungen ergeben, dass die Blutgefäße in meinem Gehirn entzündet sind, aber die Ärzte können den Grund dafür nicht finden. Sie wissen auch nicht, wie man verhindern kann, dass es schlimmer wird. Doch genau das passiert. Ich bin eine tickende Zeitbombe. Und meine Familienangehörigen sind die wehrlosen Opfer.
Schlag eins.
Schlag zwei.
Schlag drei.
Das Spiel ist vorbei.
Nach ungefähr anderthalb Jahren schaltet sich mein Körper noch mehr ab.
Ich verliere … die, die Kontrolle.
M-m-mein Körper reagiert nicht.
Ich spüre den Schraubstock wieder.
Plötzlich kehren die quälenden Kopfschmerzen mit rätselhaften Krämpfen zurück. Jeder Kopfschmerzattacke folgt ein Krampfanfall, der sich anfühlt, als würde ich vom Blitz getroffen.
Z, Z, Zaaaaaappp.
„Victoria, Victoria? Was fühlst du? Kannst du Mama bitte sagen, was los ist?“
Ich bin, ich bin, ich bin …
Fort.
Meine Mutter will aufgrund unserer schrecklichen Erfahrungen unbedingt verhindern, dass ich wieder ins Krankenhaus komme. Sie versucht, mir nach Kräften zu helfen und sich um mich zu kümmern. Doch sie kann nicht verhindern, dass ich kurz darauf wieder in die Notaufnahme gebracht werden muss. Die Krampfanfälle und Kopfschmerzen und mein Gesamtzustand haben sich dramatisch verschlimmert. Ich werde stationär aufgenommen und weitere Untersuchungen werden durchgeführt. Die Ärzte erkennen sofort, dass etwas sehr Ernstes mit mir los ist. Deshalb soll ich in ein größeres Krankenhaus in Massachusetts verlegt werden. Ein Déjà-vu-Moment! Meine Eltern weigern sich, noch einmal in dieses Krankenhaus im Süden zu gehen. Deshalb wird entschieden, dass ich in eine Klinik im Norden verlegt werden soll. Dort werde ich sofort auf die Kinderintensivstation gebracht. Die Krampfanfälle kommen inzwischen alle paar Minuten, mein Pulsschlag schießt in die Höhe, und ich habe Schwierigkeiten zu atmen. Die Ärzte wollen mehrere Untersuchungen durchführen, aber dazu müssen sie meinen Körper lahmlegen. Deshalb versetzen sie mich in ein künstliches Koma.
Dunkelheit.
Wieder.