Читать книгу Das Zimmer des roten Traums - Victoria Holt - Страница 10
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ОглавлениеEines Tages gingen wir ein Haus am Finlay Square besichtigen. Wie aufgeregt war ich, als Philip den Haustürschlüssel herauszog und öffnete. Es war ein vier Stockwerke hohes weißes Gebäude aus der Queen-Anne-Zeit, mit einem Gärtchen davor. Leere Häuser haben immer irgend etwas Menschliches an sich. Sie können einen willkommen heißen oder sehr abweisend sein.
Ich glaube nicht, daß ich ein übergroßes Ahnungsvermögen besitze, eher vielleicht eine zu starke Phantasie. Dieses Haus mutete mich ähnlich an wie die Mansardenzimmer im Landhaus der Carringtons. Es hieß mich nicht willkommen, sondern war total abweisend. Irgendwas Fremdes spürte ich darin, und zum erstenmal seit Beginn meiner Glückszeit rührte mich etwas Kaltes an. Vielleicht nur deshalb, weil das Haus etwas Wirkliches darstellte und das übrige nur Träume gewesen waren?
Mein ganzes Leben sollte ich mit Philip verbringen. All die Jahre, die noch vor mir lagen, würde ich bei ihm sein. Wir würden zusammen alt werden, einander ähnlich werden. Jeder dem anderen der wichtigste Mensch im Leben. Ein ernüchternder Gedanke.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, in einen Käfig gesteckt worden zu sein, in einen angenehmen, vergoldeten Käfig, aber außerhalb des Käfigs war die Welt, die ich bis zu diesem Tag leider noch nicht erforscht hatte.
Ich sah zu Philip auf. Er fragte eifrig: »Gefällt es dir?«
»Ich habe es ja noch gar nicht gesehen. Ein Haus kann man doch nicht nach der Eingangshalle beurteilen.«
»Also dann komm mal mit.«
Er nahm mich bei der Hand, und wir durchstreiften zuerst die unteren Zimmer. Sehr anheimelnde Räume, aber die Wände schienen sich um uns zu schließen. ›Nein‹; dachte ich, ›nein!‹
Dann rannte Philip die Treppe hinauf und zog mich hinter sich her. Die Zimmer im ersten Stock waren hell und luftig. Sie gefielen mir schon besser.
»Hier werden wir unsere Gesellschaften geben«, meinte er.
»Recht elegant, nicht?«
Danach ging es weiter in die zweite Etage. Wieder sehr große Räume. Noch ein Stockwerk und dann die Dachkammern.
»Es ist zu groß«, sagte ich, um irgendeine Ausrede zu finden. Er sah mich ganz erstaunt an. Nach dem Maßstab der Carringtons war es recht klein.
»Wir brauchen all die Räume. Die Dienerschaft muß ja auch irgendwo leben. Und dann die Kinderzimmer. Was ist denn los? Du willst doch Kinderzimmer?«
»Ja, sehr gern sogar. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, daß hier etwas ... äh ... nicht ganz richtig ist.«
»Was meinst du damit ... Geister oder so was?«
»Natürlich nicht. Es sieht nur so ...« – ich zögerte – »... so leer aus!«
Er lachte mich aus. »Wie soll es denn sonst aussehen, du Dummchen. Komm, sehen wir uns noch einmal alles an.« Er war ganz begeistert. »Genau das richtige Haus zu finden, ist heute gar nicht mehr so leicht. Und je eher wir eines haben, um so eher können wir heiraten. Fangen wir noch einmal von unten an?«
»Ich möchte lieber hier oben bleiben … ein bißchen allein sein.«
»Warum denn das?«
»Damit ich spüre, wie sich das Haus ›anfühlt‹.«
»Närrin!« sagte er, ging aber dann doch hinunter.
Da stand ich nun in der Mitte des Raumes und sah beim langen, schmalen Fenster in den Garten hinaus, der zwar klein war, in dem sich aber immerhin zwei Bäume und ein rundes Blumenbeet befanden.
Ich versuchte mir vorzustellen, ich sei allein im Haus. Ein merkwürdiges Gefühl! Ich wußte nur, daß ich hier nichts verloren hatte. Es war dasselbe Gefühl wie in meinem Traum. Merkwürdig, dachte ich und wurde unruhig, denn dieses Haus war nicht mein Haus und konnte es auch nie werden.
Ich ging in das Zimmer darunter, stellte mich ans Fenster und sah wieder in den Garten hinaus. Plötzlich bewegte sich etwas hinter mir. Hände umfaßten meine Kehle. Ich keuchte vor Entsetzen.
»Hokus, pokus, fidibus!« rief Philip. »Ich bin der Geist des letzten Besitzers. Man fand mich aufgehängt an einem Dachbalken.«
Er drehte mich zu sich herum, küßte mich, und wir lachten beide. Dann nahm er mich bei der Hand und stürzte mit mir die Treppe hinunter.
Ich konnte meine unguten Gefühle über das Haus am Finlay Square nicht abschütteln, wußte aber, daß Philip es unbedingt kaufen wollte. Er meinte, wir sollten nicht Monate mit der Suche nach Häusern verbringen. Ein Haus zu kaufen, sei auch im besten Falle eine langwierige Angelegenheit.
»Und wenn es uns nicht gefällt, können wir es ja immer noch verkaufen. Später werden wir sowieso etwas Größeres haben wollen.«
Das Haus war das Hochzeitsgeschenk seines Vaters. Ich wollte seine Begeisterung nicht trüben. Konnte auch gar nichts Bestimmtes am Haus finden, was mir mißfiel. Aber eines stand fest: Seit wir es uns angesehen hatten, schien mein Glück getrübt. Merkwürdigerweise hatte ich wieder einmal den Traum, was mich sehr verwunderte, da er mich ja erst vor kurzem, vor der großen Ballnacht, bedrängt hatte.
Das Haus beschäftigte mich so stark, daß ich eines Tages den Makler um einen Schlüssel bat, weil ich es noch einmal allein sehen wollte. Man sagte mir, daß Philip ja bereits einen habe. Ich erklärte, daß ich allein hingehen wolle, und bekam einen zweiten.
Ich kam gegen drei Uhr nachmittags an am Finlay Square. Zuerst blieb ich in der Anlage in der Mitte des Platzes stehen und betrachtete das Haus von dort aus. Wieder beschlich mich dieses ungute Gefühl. Mein erster Impuls war, sofort wegzugehen, den Schlüssel zurückzugeben und dem Makler zu sagen, daß wir das Haus nicht nehmen würden. Philip würde zwar enttäuscht sein, aber ich konnte es ihm bestimmt begreiflich machen.
Und dann schien mich eine unbekannte Kraft über die Straße zu treiben. Ich wollte gar nicht gehen, aber es drängte mich etwas hinüber. Gut, ich würde aufsperren und von Zimmer zu Zimmer gehen, mich davon überzeugen, daß es ein ganz gewöhnliches Haus war, das sich in nichts unterschied von tausend anderen Häusern.
Als ich das Gartentor öffnete, quietschte es, protestierend, wie mir schien. Ich suche ja geradezu nach bösen Vorzeichen, sagte ich mir selbst. Ich wollte solchen Phantastereien nicht nachgeben, ging rasch den Weg zum Haus vor, sperrte auf, schloß die Tür hinter mir, und dann stand ich in der Halle. Und da überkam es mich wieder. Das eigenartige Gefühl einer Vorahnung. Es war, als wolle das Haus mich wegschicken. Es hieß mich nicht willkommen. Hier drohte mir nur Unheil. War das im Grunde alles nur Einbildung?
Ich blickte zu der hohen verzierten Decke hinauf und betrachtete die wirklich wunderschön geschwungene Treppe. Und immer noch hatte ich das Gefühl, daß das Haus mich zurückwies.
Vermutlich hatte ich zuviel Phantasie, die meine guten und festen Absichten durchkreuzte. Nur eine Phantastin hatte wohl solche immer wiederkehrenden Träume und würde dann noch etwas daraus lesen wollen. Sicher träumten viele Leute und vergaßen die nächtlichen Bilder am Tag. Ich war einfach dumm.
Langsam und fest entschlossen ging ich die Treppe hinauf und studierte nochmals die Gesellschaftsräume im ersten Stock. Sie waren elegant. Mit langen, bis zum Boden reichenden Fenstern – typisch für den Baustil jener Zeit. Wunderschön die überaus einfachen Kamine, vielleicht von Adam. In Gedanken möblierte ich dieses Zimmer und sah mich selbst als Gastgeberin graziös zwischen den Gästen hin und her bewegen – eine Carrington-Gastgeberin, dachte ich und spitzte spöttisch die Lippen. »Oh, schönen guten Abend, Kusine Agatha. Wie lieb von dir, daß du gekommen bist. Philip und ich freuen uns sehr.« Und: »Ach, Mrs. Oman Lemming, wie nett, Sie und Ihre Töchter zu sehen. Zwei haben Sie, nicht wahr?« Alle waren sie begeistert, bei den Carringtons eingeladen zu sein. Ich lachte insgeheim schon im voraus über die Parodie, die ich nachher Philip zum besten geben würde.
Dann ging ich ins nächste Stockwerk hinauf. Hier würden wir schlafen. Ein kleines Zimmer hatte man bereits zum Bad umgestaltet. »Viel müssen wir nicht ändern«, hatte Philip gesagt.
»Das Haus ist wirklich ideal.«
»Das Haus ist ideal«, wiederholte ich laut. Ich stand ganz still da, lauschte und meinte, spöttisches Gelächter zu hören.
Weiter ging es in den nächsten Stock, dort wollten wir die Kinderzimmer unterbringen, und dann in die Dachräume, wo die Dienerschaft wohnen sollte. Für die Kinderzimmer stellte ich mir weiße Wände und einen blauen Tierfries vor. Ein kleines weißes Holzbett mit blauer Decke.
Weit in die Zukunft sah ich schon hinein; aber schließlich heiratete man ja, um Kinder zu haben. Darum wollten es ja auch die Carringtons. Philip mußte früh heiraten, weil es so aussah, als würde Rollo nie Kinder haben. Komisch, sich Philip und mich als Eltern vorzustellen.
Und dann packte mich Entsetzen. Ich spürte mein Herz, wie es heftig schlug. In der Stille des Hauses hatte ich etwas gehört. Ich blieb stehen und horchte. Es war wieder ruhig. Hatte ich mir auch das nur eingebildet? Merkwürdig, wie manchmal ohne das geringste Geräusch eine menschliche Gegenwart zu spüren ist. Ich hatte das unheimliche Empfinden, daß jemand im Haus sei. Stand immer noch still in der Mitte des Zimmers und hörte dann wieder ein Geräusch. Nein, ich hatte mich nicht geirrt. Es war jemand im Haus.
Mein Herz schlug schmerzhaft. Wer war es? Philip konnte es nicht sein. Er hatte an diesem Morgen mit seinem Vater ins Büro fahren müssen.
Wieder horchte ich. Da, noch einmal. Ein unterdrücktes Geräusch. Das Knirschen einer sich öffnenden Tür. Und dann hörte ich Schritte auf der Treppe.
Konnte mich fast nicht bewegen, war wie versteinert. Das Haus war zum Verkauf ausgeschrieben. Da wir es noch nicht genommen hatten, warum sollte es also nicht ein anderer Käufer besichtigen?
Die Schritte kamen näher. Fasziniert starrte ich die Tür an. Jemand stand unmittelbar davor. Die Tür öffnete sich, ich schrie leise auf – Rollo Carrington stand darin.
»Nanu«, sagte er. »Ich dachte, es sei niemand hier.«
»Das glaubte ich eigentlich auch.«
»Habe ich Sie erschreckt?«
»Ich ... ich habe unten jemanden gehört und ...«
Er sah so unendlich groß aus, und mir fiel ein, daß Philip seinerzeit etwas über die Wikinger erzählt hatte. Der Name paßte wirklich zu ihm.
Obwohl ich ihn schon von früher kannte, kam es mir so vor, als sähe ich ihn jetzt zum erstenmal. Er strahlte Kraft und Macht aus und eine Art von Magnetismus. Ich hatte das Gefühl, wenn er das Zimmer betrat, müsse jedermann dessen gewahr werden.
»Sie sind Philips Bruder. Ich bin Ellen Kellaway, seine Verlobte.«
»Ich weiß. Meinen allerbesten Glückwunsch.«
»Danke. Ich wußte gar nicht, daß Sie in London sind.«
»Bin gestern abend heimgekommen. Hörte natürlich gleich von eurer Verlobung.«
Ob er wohl deswegen heimgekommen war?
»Philip erzählte mir von dem Haus, und ich versprach ihm, es mir anzusehen. Er gab mir den Schlüssel.«
»Ich wollte es mir auch noch mal alleine ansehen.«
Er nickte. »Natürlich liegt Ihnen sehr daran, daß es euch wirklich gefällt.«
»Werden Sie Ihrem Vater raten, es zu kaufen? Es scheint mir ein recht günstiges Angebot zu sein, ganz sicher bin ich mir natürlich noch nicht.«
Er fixierte mich mit seinen Augen, und mir war unheimlich dabei, weil es mir schien, als wolle er meine innersten Gedanken erraten. Was er von mir dachte, wußte ich ja nicht.
Andauernd mußte ich an seine arme Frau denken – eine ganz schattenhafte Gestalt in meiner Vorstellung –, wie sie in den Dachzimmern von Trentham Towers gelebt hatte und er zu der Entscheidung kam, daß er eine Betreuerin für’ sie brauchte.
Man konnte sich diesen Menschen nicht in eine leidenschaftliche Liebesgeschichte verwickelt vorstellen, aber die mußte es doch gegeben haben, wenn er so eilig geheiratet hatte. Ich meinte, einen Zug von Bitterkeit um seinen Mund entdecken zu können. Sicher war er dem Schicksal gram, daß es seine schöne Frau nervenkrank werden ließ und er dies erst nach der Hochzeit entdeckte. Er wirkte ungemein kühl, ganz beherrscht – und diesen Eindruck hatten alle von ihm, so daß ich die Geschichte mit der wilden, romantischen Liebe nicht mit ihm in Einklang bringen konnte.
»Sind Sie schon im ganzen Haus gewesen?« fragte er.
»Nein, noch nicht richtig.«
»Wollen wir es uns zusammen ansehen?«
»Ja, bitte.«
»Dann fangen wir doch einmal oben an.«
Er sprach dann von den Schwächen, auf die man zu achten hätte, ich hörte aber kaum zu. Ich wollte eigentlich nur seine Stimme hören, die tief und bestimmt klang, wollte vieles über ihn erfahren – alles. Verglichen mit Philip wirkte er so erwachsen. Er sprach auch von Philip, und offensichtlich war ich für ihn auch noch sehr jung.
»Ich habe da schon einige Erfahrung mit solchen Käufen«, sagte er. »Man muß sehr aufpassen, Sie wissen schon.«
Wir gingen alle Räume ab und dann hinaus in den Garten. Dort blieben wir unter einem der Bäume stehen.
Ich starrte das Haus an. Es schien mir bedrohlicher denn je, und ich hatte große Lust wegzulaufen, obwohl Philips Bruder neben mir stand und mich vor allem Unglück, das über mich kommen konnte, beschützen würde.
Er ging wieder zum Haus, und ich folgte ihm. Die Wände schienen sich um mich zu schließen wie ein Gefängnis. Und es fiel mir so schwer, meine Vorahnungen abzuschütteln, daß ich schon meinte, man würde es mir ansehen. Rollo schaute mich an, als wolle er mir etwas sagen, überlegte es sich aber dann offenbar. Er öffnete die Haustür, und beim ersten Schritt nach draußen überkam mich eine ungeheure Erleichterung.
»Ich rufe eine Droschke«, sagte er, »und bring Sie dann heim.«