Читать книгу Das Zimmer des roten Traums - Victoria Holt - Страница 7

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Beim Spaziergang im Park stieß Philip wieder einmal zu uns. Es war geradezu schon Gewohnheit geworden. Zu dntt wanderten wir vor dem Kindermädchen einher.

»Du siehst ja heute so wütend aus«, sagte Philip.

Zum erstenmal hatte ich Schwierigkeiten, mich auszudrücken. Esmeralda kam mir zuvor. »Wegen der blöden Gouvernanterei.«

»Was?« rief Philip.

»Ach so, du weißt ja noch nichts. Mama sucht einen Posten für Ellen. Sie soll zu Mrs. Oman Lemming.«

»Einen Posten?« Philip blieb stehen und starrte mich an.

»Du weißt doch, daß ich eines Tages werde gehen müssen, mein Geld zu verdienen. Offenbar habe ich schon zu lange von Wohltaten gezehrt. Selbst Familienmitglieder können das nicht ihr Leben lang erwarten.«

»Du eine Gouvernante?« Philip brach in lautes Lachen aus.

Ich finde das gar nicht so amüsant«, sagte ich verbittert.

Du sollst unterrichten? Ich lach mich kaputt.«

›Von mir aus! Für mich ist es gar nicht so lächerlich.«

»Ellen meint, es würde sich noch ein anderer Ausweg zeigen«, sagte Esmeralda, »und das meine ich auch.«

»Ja, vielleicht findet sich noch was«, sagte ich. »Wenn ich schon Gouvernante sein muß, suche ich mir lieber selbst einen Posten, aber bestimmt nicht bei Mrs. Lemming.«

»Vielleicht findest du noch eine schlimmere«, tröstete mich Esmeralda. »Erinnerst du dich an die alte Miß Herron und ihre Gesellschafterin?«

»O ja, aber die ist bestimmt nicht schlimmer als die Oman Lemming.«

»Jedenfalls werde ich dich besuchen«, sagte Philip und schob seinen Arm unter meinen.

»Das ist lieb von dir«, sagte Esmeralda sanft.

»Ach, du vergißt mich bestimmt«, sagte ich zornig.

Er antwortete nicht, ging aber fest untergehakt mit mir weiter.

Es beunruhigte mich, wie schnell die Tage vergingen. Es gab mehrere Anproben bei der Schneiderin. Mein Ballkleid war aus schwarzem Samt, und wegen des Ausschnitts kam ich mit der Schneiderin in Streit. Ich wollte einen tiefen Ausschnitt, und das stimmte nicht mit dem von Agatha ausgewählten Schnitt überein. Nachdem ich die Näherin so weit gebracht hatte, daß sie die Taille enger und den Ausschnitt tiefer machte, sah das Kleid etwas besser aus, aber es machte mich einfach zu alt. Wie Kusine Agatha richtig sagte: Ich konnte es noch in zwanzig Jahren anziehen, denn es besaß eine Eigenschaft – es war zeitlos. Nein, hatte ich scharf zurückgegeben, zeitlos war es nicht, denn es hatte noch in keine Zeit hineingepaßt und würde wohl auch nie in eine passen.

Unser Kindermädchen war traurig. Jetzt mußte sie sich von ihren Schützlingen trennen. »Man kriegt sie als Babys, tut alles für sie, und dann werden sie erwachsen ...«

»Sollen sie vielleicht immer Kinder bleiben?« sagte ich.

»Es ist trotzdem traurig«, gab sie zurück. »Aber wenn Miß Esmeralda Kinder kriegt, komme ich ja zu ihr zurück. Und bis dahin wird es gar nicht mehr so lange sein. Arme Esmeralda, sie wird jemanden brauchen, der sie genau kennt.«

Ich hörte das Gerücht zuerst von Rosie. Sie hatte es von ihrem Kutscher.

»Hüben und drüben gab es einige Konferenzen. Die planen wirklich eine baldige Hochzeit. Junge Leute seien so ungeduldig, sagen sie. Da habe ich nur gelacht. ›Ungeduldig!‹ habe ich zu meinem William gesagt. ›Unsere Miß Esmeralda wüßte ja gar nicht, worauf sie ungeduldig sein sollte!‹«

»Du meinst, sie planen Esmeraldas Hochzeit?«

»Ja, mit Philip«, flüsterte sie. »Natürlich hätten sie lieber den anderen für sie gehabt.«

»Du meinst den älteren Bruder?«

»Ja, den. Diesen Rollo.«

»Und warum versuchen sie nicht, ihn zu kriegen?«

Rosie preßte die Lippen aufeinander, wie um anzudeuten, daß sie mir gerne sagen würde, was sie wußte, aber nicht sagen durfte. Ich war sicher, daß es dazu einiger Überredung bedurfte, aber daß ich mit genügend Geduld schon herausbekommen würde, worum es ging. Und so war es auch.

»Na ja, da war doch vor einem Jahr ... dieses Theater in der Familie ... nach außen hin war es ganz geheim, ganz, ganz geheim.«

»Was denn, Rosie?«

»Ja, er hat doch geheiratet – ganz heimlich. Dauernd haben sie geredet. Nur hinter verschlossenen Türen, und die sind in der Park Lane aus dicker Eiche.«

Ich nickte verständnisvoll. »Du hast aber trotzdem was herausgefunden ...«, bemerkte ich nicht ohne innere Spannung.

»Na ja, so Kleinigkeiten kamen dann heraus. Sie sind beide geflohen. Entführung und so weiter ... Die Familie hatte keine große Freude daran. Und dann hat Mr. Rollo sie davon überzeugt, daß alles in Ordnung ist, und sie haben sich versöhnt. Sie haben wir aber nie gesehen. Das war das komische daran. Es hieß nur, Mr. Rollo sei mit seiner Frau im Ausland ... Sehr komisch. Man hat sie nämlich nie im Haus gesehen. Und dann haben wir herausgefunden, wieso ...«

»Was denn, Rosie?«

»Offenbar hat bei der Ehe etwas nicht gestimmt. Mr. Rollo hat einen schrecklichen Fehler gemacht. Sie ist jetzt irgendwo, ins Haus kommt sie aber nie.«

»Und er ist noch immer mit ihr verheiratet.«

»Natürlich ist er noch verheiratet, und darum müssen sie Mr. Philip für Esmeralda nehmen.«

Ich dachte lange über Rollo nach. Immer schon kam mir vor, als sei etwas Ungewöhnliches an ihm und als könne ihm gar nichts Gewöhnliches passieren. Offenbar hatte ich recht damit.

Eine gute Woche verging. Die Carringtons hatten uns ins Theater eingeladen und zu meiner größten Freude auch mich mitgenommen. Philip hatte sein Wort gehalten. Kusine Agatha war ganz empört: »Ich möchte nur wissen, warum Lady Emily Ellen ausdrücklich einlädt«, hörte ich sie den Vorfall kommentieren. »Ich finde es höchst unpassend, wo sie doch bald in unseren Kreisen arbeiten wird. Es könnte zu peinlichen Situationen führen. Ob ich mit Lady Emily darüber reden sollte?«

Wie ekelhaft sie nur war, viel mehr als je zuvor. Und vor allem deswegen, weil ich mich vor dem, was meine Zukunft brachte, so fürchtete.

Ich versuchte, mich nicht daran zu stören, aber meine übliche Methode, alles Unangenehme zu übergehen und mir einzureden, das würde nie passieren, war diesmal nicht ganz so erfolgreich wie sonst.

Wir sahen das zweite Stück von Oscar Wilde, Eine Frau ohne Bedeutung, im Theater am Haymarket. Mich faszinierte vor allem die Darstellungskunst von Mr. Tree, und in den Pausen diskutierte ich lebhaft mit Philip und seinem Vater, zwischen denen ich saß.

Ich bemerkte, daß Kusine Agatha mich höchst mißbilligend betrachtete, aber es war mir egal. Ich fühlte mich herrlich. Rollo war nicht dabei, und Esmeralda, die zu Philips anderer Seite saß, sprach wenig.

Am nächsten Tag kriegte ich etwas zu hören.

»Du redest zuviel«, sagte Agatha. »Das wirst du in Zukunft unterdrücken müssen. Ich glaube, Mr. Carrington war es ein wenig peinlich.«

»Das schien mir keineswegs so«, gab ich zurück. »Er war sehr freundlich und schien sich für alles zu interessieren, was ich sagte.«

»Meine liebe Ellen«, sagte Agatha in einem Ton, der zeigte, daß ich keineswegs ihre liebe Ellen war, »Mr. Carrington ist ein Gentleman und würde nie daran denken, seine Mißbilligung zu zeigen. Ich meine, es war doch nicht so klug von Lady Emily, dich einzuladen, angesichts deiner zukünftigen Position. Ich muß dich nochmals bitten, daß du dich in Zukunft bescheidener benimmst.«

Was immer sie auch sagte, es konnte mir die Freude an dem Abend nicht nehmen, und ich war sicher, daß Mr. Carrington sich über die Kommentare amüsiert hatte und auch über die kleinen Kabbeleien zwischen Philip und mir. Und Lady Emily war, wie ich entdeckt hatte, eine ziemlich zerstreute Person, vermutlich wußte sie nicht einmal genau, daß ich noch einmal die Freiheit genoß, ehe ich die Trauerwelt der Gouvernanten betrat.

Bald schon sollte der Ball stattfinden. Die drei Salons im ersten Stock wurden zu einem recht geräumigen Ballsaal verwandelt. Alle Zimmer hatten Balkons, auf der einen Seite mit Blick auf den Park, auf der anderen sah man interessante Gebäude. Immergrüne Pflanzen standen in schön geschmückten Behältern auf den Balkonen, die Zimmer wurden mit Blumen sehr hübsch dekoriert.

Im Eßzimmer gab es ein kaltes Büfett, man hatte dort viele kleine Tische aufgestellt. Musikanten spielten zum Tanz auf. Kosten wurden keine gescheut bei diesem Fest, denn Esmeralda wurde ja in die Gesellschaft eingeführt, und Kusine Agatha wollte alle wissen lassen – vor allem die Carringtons –, daß Esmeraldas Eltern sehr wohlhabend waren und man eine gute Mitgift erwarten konnte.

Die Erregung packte auch mich, obwohl mir mein Kleid immer noch nicht ganz gefiel. Schwarz war nicht eine meiner Farben, der Schnitt zu streng, und man konnte es kaum als ein richtiges Ballkleid bezeichnen. Als ich Esmeraldas wunderschönes Rüschen- und Spitzengebilde in Meeresblau, beinahe grün, sah, packte mich der Neid. Es ging mir dabei wirklich nur um das Kleid. Das aber bestimmt nicht eines von der langlebigen Sorte war und sicher nicht jahrelang hielt wie mein schwerer Samt.

In der Nacht vor dem Ball träumte ich noch einmal von dem Zimmer mit dem roten Teppich. Ich stand neben dem Kamin und hörte wie stets flüsternde Stimmen. Diesmal schienen sie näher zu sein. Und dann überkam mich wieder dieses verzweifelte Gefühl, ich starrte auf die Tür, und – das war neu in meinem Traum – sie öffnete sich langsam. Schreckliche Angst überkam mich. Ich konnte meine Augen nicht von der Tür abwenden. Ich wußte, daß irgend etwas Furchtbares dahinter lauerte.

Dann wachte ich auf. Ich zitterte und schwitzte vor Angst. Der Traum war unheimlich lebhaft gewesen, das war er zwar immer, aber diesmal schien das Unheil näher gerückt.

Ich setzte mich im Bett auf. Wie konnte man sich von einem Traum nur so schrecken lassen, wo er doch gar nichts weiter zeigte! Außer einem Zimmer.

Und dann sah ich, daß die Tür meines Kleiderschranks sich geöffnet hatte, und ich meinte eine Gestalt sehen zu können. Wieder überkam mich ein fürchterlicher Schrecken. Und dann sah ich, daß es nur mein schwarzes Ballkleid war. Offenbar hatte ich die Tür nicht gut verschlossen. Ich lehnte mich in die Kissen zurück und rief mich selbst zur Ordnung. Aber warum träumte ich immer wieder den gleichen schrecklichen Traum – Jahr um Jahr?

Ich versuchte, die Ahnung herannahenden Unheils abzuschütteln. Aber wie konnte ich es denn? Vor sechs Wochen hatte man mich Mrs. Lemming vorgestellt. Die Zeit meiner Anstellung rückte näher.

Jetzt kam aber erst einmal die Ballnacht. Sicher, ich hatte nur das schwarze Kleid, das ich nicht mochte, aber es reichte immerhin für den Zweck. Ich tanzte so gerne, konnte es viel besser als Esmeralda, die keinen Sinn für Rhythmus hatte. Den Gedanken an die Lemmings würde ich einfach aus dem Gedächtnis streichen.

Am Vormittag kam ein Schächtelchen an, zu meiner Überraschung war es an mich adressiert. Rosie brachte es herauf, sie hatte es am Lieferanteneingang übernommen.

»Schauen Sie nur mal, Miß Ellen!« sagte sie. »Das ist für Sie! Ich wette, von einem Verehrer!«

Und da lag in einer Schutzhülle die schönste, zarteste, hellila Orchidee, die ich je gesehen hatte. Genau der Schmuck, den ich brauchte, um mein schwarzes Kleid zu beleben.

Sicher von Esmeralda, dachte ich und dankte ihr gleich. Sie sah mich verständnislos an. »Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, Ellen. Genau richtig für dein Kleid. Ich dachte, es gäbe sowieso für jeden genug Blumen.«

»Aber nicht für arme Verwandte«, antwortete ich. Ich fühlte keine Bitterkeit gegenüber Esmeralda. Sie war immer so gut zu mir. Ich war nur selig, diese Orchidee bekommen zu haben.

Wer mochte sie mir geschickt haben? Vielleicht Cousin William, denn auch er schien nicht allzu glücklich zu sein, daß ich für Mrs. Lemming arbeiten sollte. Rosie hatte gehört, wie er zu seiner Frau sagte, daß ich doch gar nicht wegzugehen brauchte.

»Er hat vorgeschlagen, daß du mit Esmeralda gehen könntest, wenn sie heiratet, als eine Art Gesellschafterin und Sekretärin. Wenn sie Philip heiraten würde, hätte sie sehr viel zu tun, denn als seine Frau müßte sie viele Gesellschaften geben. Ich glaube, ihm gefällt es gar nicht, daß du weg mußt, aber sie bleibt fest dabei.«

Es war also durchaus möglich, daß die Blume von ihm kam. Wunderschön war sie, und sie verschönte auch zweifellos mein Kleid. Jetzt fühlte ich mich nicht mehr so mausgrau. Esmeralda gab mir eine Anstecknadel mit einem einzelnen Diamanten, damit ich die Blume feststecken konnte. Ich kleidete mich sehr sorgfältig an, steckte mein Haar hoch und kam mir sehr elegant vor.

Esmeralda sah reizend aus in ihrem phantastischen Kleid, aber sie war nervös, war sich zu sehr bewußt, daß dieser Ball für sie gegeben wurde, und hatte offensichtlich Angst, einen Heiratsantrag zu bekommen.

»Wenn man doch nur nicht erwachsen werden müßte«, sagte sie zu mir. Offensichtlich war ihr der Gedanke an eine großartige Heirat zuwider. »Alle glauben, ich würde Philip heiraten, aber ich fürchte, er hat mich nie richtig gemocht. Und er hat mich doch in den Teich gestoßen.«

»Da waren wir doch noch Kinder. Männer verlieben sich oft in Mädchen, die sie als Kinder gar nicht beachtet haben.«

»Beachtet hat er mich ja ... genügend jedenfalls, um mich ins Wasser zu stoßen.«

»Ja, wenn du ihn nicht heiraten willst, kannst du den Antrag ja ablehnen.«

»Aber Mama möchte es doch und ...«

Ich wußte Bescheid. Was sie wollte, bekam sie auch meist. Ich tröstete Esmeralda. Ihr Vater war auf ihrer Seite. Also warum sollte sie jemanden heiraten, den sie nicht wollte? Einige Tage vor dem Ball hatte ich von Kusine Agatha Instruktionen erhalten. »Du wirst dich bei dem Ball nützlich machen. Im Eßzimmer kümmerst du dich darum, daß alle gut bedient werden, gib vor allem auf Mrs. Lemming acht und sorge dafür, daß ihre Wünsche erfüllt werden. Ich werde dich ein paar Herren vorstellen, vielleicht bitten sie dich um einen Tanz.«

Ich konnte mir den Abend lebhaft vorstellen. Ellen, die arme Verwandte. In düsterem Schwarz, so daß sie sich von den übrigen Gästen abhob. »Ellen, sag doch bitte Wilton, daß wir noch Lachs brauchen.« Oder: »Ellen, der alte Herr Soundso sitzt ganz allein, ich stell dich ihm vor, vielleicht bittet er dich um einen Tanz.« Und dann würde Ellen mit dem rheumatischen alten Herrn Soundso herumstolpern, während sich ihre Füße danach sehnten, leicht über den Tanzboden dahinzuschweben. Und wie anders dann alles kam, gar nicht so, wie ich es befürchtet hatte!

Gleich von Anfang an hatte ich Philip an meiner Seite.

»Also hast du meine Orchidee doch erhalten!«

»Deine?«

»Sonst wird dir hoffentlich niemand Blumen geschickt haben?«

Und dann tanzten wir. Ob Kusine Agatha es bemerkte? Hoffentlich! Wie gut wir zusammenpaßten. Das wußte ich schon lange, denn wir hatten auf dem Land schon oft miteinander getanzt. Tänze, die wir selbst erfanden.

»Wußtest du nicht, daß ich heute abend wieder einmal die arme Verwandte bin?« sagte ich.

»Was soll denn das wieder heißen?«

»Ich muß ein wachsames Auge auf vernachlässigte Gäste haben.«

»Schon gut. Dann hab doch ein Auge auf mich. Wenn du es nicht tust, werde ich mich sehr vernachlässigt fühlen.«

»Ausgerechnet du ... einer der Carringtons«, stotterte ich.

»Aber nur der jüngere Sohn!«

»Ist Rollo der Große heute hier?«

»Rollo der Große ist weit weg. Er ist selten hier.«

»Das macht einen guten Fang der Saison aus dir, nehme ich an.«

»Jetzt paß mal auf«, sagte er. »Ich muß mit dir reden. Ich muß dir eine Menge sagen. Wo können wir uns ruhig unterhalten?«

»Es gibt noch zwei kleine Räume auf dieser Etage. Sie sind für Privatgespräche reserviert.«

»Dann gehen wir dorthin.«

»Sollten wir das wirklich tun, du und vor allem ich? Kusine Agathas Adleraugen werden bald nach mir Ausschau halten, wenn sie einen ältlichen Herrn erblickt, der vielleicht mit mir ein paar Tanzrunden schwingen will.«

»Ein Grund mehr, zu flüchten.«

»Ist das ein Spiel? Denk dran, daß wir nicht mehr vierzehn sind.«

»Gott sei Dank, und die Sache ist verdammt ernst.«

»Was ist denn los?«

»Das wirst du gleich erfahren. Ich muß mit dir sprechen, Ellen.«

Wir betraten eines der kleinen, blumengeschmückten Zimmer. Ein Sofa und ein paar Stühle standen darin. Ich ließ mich auf dem Sofa nieder, Philip setzte sich neben mich.

»Ellen«, begann er, »ich habe da so einiges gehört. Unsere Dienerschaft tratscht mit eurer und eure mit der unseren. Die Leutchen wissen genausoviel über unsere Angelegenheiten wie wir selbst oder sogar noch mehr. Nach dem Geflüster muß ich annehmen, daß du tatsächlich Gouvernante der gräßlichen Lemming-Kinder werden sollst.«

»Ich habe dir ja gesagt, daß es stimmt.«

»Ich konnte es einfach nicht glauben. Du und Gouvernante!«

»Die einzige Beschäftigung für eine mittellose Dame von guter Herkunft und Bildung.«

»Aber warum jetzt ... nach so vielen Jahren?«

»Kusine Agatha hat ihre Pflicht gegenüber einem hilflosen Kind erfüllt. Das Kind ist jetzt zur Frau geworden und muß sich selbst durchbringen und erhält einen zarten, aber durchaus bestimmten Schubs in die grausame Welt.«

»Das müssen wir verhindern. Du darfst keinesfalls als Gouvernante zu diesem Weib gehen. Sie ist die reinste Hexe.«

Ich wandte mich zu ihm. Die Angst vor der Zukunft drohte mich plötzlich zu ersticken.

Er nahm mich bei den Schultern und drückte mich lachend an sich. »Ellen, du Dummchen, meinst du denn, ich würde das je zulassen?«

»Und womit willst du das erreichen?«

»Mit dem besten aller Argumente. Du gehst jedenfalls nicht als Gouvernante zu diesen Kindern! Ich weiß, daß sie gräßlich sind. Ich habe immer gewußt, daß wir zwei zusammengehören. Du und ich, wir werden einfach heiraten. Das ist meine Antwort. Ich habe es mir immer so gewünscht.«

»Du willst ... mich heiraten? Aber du heiratest doch Esmeralda, es ist doch schon alles arrangiert. Dafür ist doch heute dieser Ball.«

»Unsinn!«

»Da irrst du dich aber gewaltig. Der Ball ist für Esmeralda, und ich weiß aus verläßlichster Quelle, daß man während des Festes oder danach die Verlobung zwischen dir und ihr zu verkünden hofft.«

»Und die Hoffnung gründet ewig in des Menschen Brust … Aber diese ›mans‹, womit du vermutlich die Lorings meinst, werden leider feststellen müssen, daß sie sich geirrt haben. Verlobung ja, aber mit Ellen und nicht mit Esmeralda.«

»Du willst wirklich heute abend noch unsere Verlobung bekanntgeben?«

»Ja, natürlich. Für dramatische Szenen war ich immer schon zu haben. Das weißt du doch.«

»Und was werden deine Eltern sagen?«

»Sie werden sehr erfreut sein.«

»Über mich? Du machst wohl Witze.«

»Mache ich nicht.« Er sah mich ernst an. »Mein Vater mag dich. Er sagt, daß du sehr amüsant bist, und er mag solche Menschen.«

»Und Lady Emily?«

»Sie wird dich auch gerne haben. Vor allen Dingen will sie, daß ich glücklich bin.«

»Mag schon sein, aber als deine Frau werden sie mich kaum akzeptieren.«

»Da irrst du dich aber gewaltig. Ich habe es ihnen schon angedeutet, und sie sind ganz dafür. Beide meinen, daß ich bald heiraten sollte.«

Ich konnte es noch nicht glauben. War ganz verwirrt. Philip hatte immer gerne seine Späßchen gemacht. Sicher, ich war mit ihm gut befreundet gewesen, im Gegensatz zu Esmeralda. Immer hatte er es bedauert, wenn ich zu geselligen Anlässen, die Agatha arrangierte, nicht erschienen war. Ich hätte es wissen müssen. Aber ich liebte ihn nicht. Ganz bestimmt nicht. Denn sonst hätte mir die Vorstellung, daß Esmeralda ihn heiraten würde, Schmerz bereiten müssen. Und Kusine Agatha hatte mir meinen niedrigen Stand und die großartige Position der Carringtons so eingebleut, daß ich mir einfach nicht vorstellen konnte, je m diese Familie hineinzuheiraten – nicht einmal bei Philip. Jetzt war ich über die Möglichkeit ganz aufgeregt – leider nicht wegen Philip, obwohl ich ihn sehr gerne hatte, sondern weil eine Ehe mit ihm bedeuten würde, daß ich nicht Gouvernante bei der gräßlichen Mrs. Oman Lemming und ihrer Brut werden müßte, die genauso unangenehm war wie sie selbst. Und vor allem genoß ich wohl, die Auserwählte zu sein. Der Anblick von Agathas Gesicht bei der Verkündung unserer Verlobung würde mir Genugtuung bieten für all die Jahre der Erniedrigung, und es war wohl nur menschlich, daß mich der Gedanke daran in Hochstimmung versetzte. Und Esmeralda, die ich wirklich mochte, war bestimmt nicht darüber enttäuscht. Sie hatte ja nie einen Carrington heiraten wollen und hatte noch heute darauf bestanden, daß Philip sie verachtete, seit er sie damals in den Teich gestoßen hatte.

»Na«, sagte Philip, »du bist ja ganz stumm vor Staunen. Das sehe ich bei dir zum erstenmal.«

»Es ist auch mein erster Heiratsantrag.«

»Wir werden eine Menge Spaß miteinander haben.«

Ich sah ihn lange an. Das mochte, wohl stimmen.

»Ich habe mir dich nie als Ehemann vorgestellt«, sagte ich.

»Und warum nicht? Ich dachte, das sei wohl klar.«

»Du hast es nie erwähnt.«

»Nun, dann erwähne ich es eben jetzt.«

Er nahm meine Hände in seine und küßte mich.

»Also«, sagte er dann mit einem verliebten Blick. »Was nun?«

»Gib mir bitte Zeit«, sagte ich. »Ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen.«

»Du wirst doch nicht plötzlich schüchtern werden, das sähe dir gar nicht ähnlich.«

»Du mußt es aus meiner Sicht betrachten. Ich bin ja in der Erwartung hergekommen, daß man Esmeraldas Verlobung verkünden wird.«

»Mit mir!«

»Natürlich mit dir. Kusine Agatha hat es sich in den Kopf gesetzt, einen Carrington zum Schwiegersohn zu bekommen. Und was sie sich in den Kopf setzt, bekommt sie auch meistens.«

»Dann wird sie sich aber mit einem Schwiegercousin begnügen müssen.«

»Zweiten Grades ... nur ganz entfernt verwandt.«

»Kann uns ja im Grunde auch ganz egal sein.«

»Du gefällst mir jede Minute mehr.«

Erlegte den Arm um mich. »Es wird unwahrscheinlich schön werden, Ellen. Und keine Arme-Verwandten-Dramatik mehr. Als ich hörte, daß du Gouvernante werden solltest, wußte ich, daß ich etwas unternehmen mußte. Meine Familie wünscht, daß ich heirate. Schon seit einiger Zeit plagen sie mich damit. Ich glaube, sie wollen unbedingt Enkel haben, nachdem Rollo ihnen offenbar keine bescheren wird, nicht einmal Enkelinnen.«

»Warum nicht?«

»Ach ... das ist alles recht kompliziert. Seine Frau ist ein bißchen ... eigenartig. Ich erzähl dir mal darüber. Jedenfalls liegt meiner Familie sehr daran, daß ich bald heirate.«

»Du wirst aber ein sehr junger Ehemann sein.«

»Und du eine noch jüngere Frau.«

Langsam gewöhnte ich mich an den Gedanken, und er gefiel mir immer mehr. Ich mußte mir nur einfach meinen alten Freund Philip als Ehemann vorstellen. So schwer war das nicht. Ich fing an, den neuen Zustand zu genießen.

Philip erzählte mir dann, daß er mich immer schon geliebt habe, wenn er es auch in der Kinderzeit nicht als Liebe empfand. Er hatte meine Nähe stets genossen. Wenn er aufs Land fuhr, dachte er zuerst daran, ob ich wohl da sein würde. »Wie schön diese Zeiten doch waren, Ellen«, schwärmte er. Und dann sprach er von unserem zukünftigen gemeinsamen Leben. Wegen seiner Geschäfte würden wir viel reisen. Rollo erledigte zwar das meiste, aber er mußte ihm später dabei helfen. »Das macht uns bestimmt großen Spaß«, meinte er. Wir würden nach Indien und Hongkong fahren und dort auch eine Weile bleiben. Er wurde jetzt noch in die Geschäfte seines Vaters eingeführt, und ich konnte ihm auch hier viel helfen, denn in London mußte er oft Gesellschaften geben.

Was für eine glänzende Zukunft er vor mir ausbreitete! In der Nähe seines Elternhauses würden wir unser eigenes Heim haben. Er wollte sich darum bemühen, daß ich Kundin bei der besten Schneiderin der Stadt werde. »Mit den richtigen Kleidern wirst du toll aussehen«, sagte er. »Du bist eine Schönheit, aber bisher wurde das nie richtig herausgestellt.«

»Kusine Agatha besteht darauf, mein Licht unter den Scheffel zu stellen«, spottete ich. »Nur daß es bei mir auch da noch herausleuchtet.«

»Ganz recht so. Mein Gott, Ellen, werden wir es schön haben!«

»Ja«, bestätigte ich. »Das glaube ich jetzt auch.« Wieder drückte er mich an sich.

»Wer hätte das gedacht.« Ich lachte. »Wo du mich immer so schikaniert hast.«

»Das war bereits heimliche Liebe«, sagte er. »Wirklich?«

»Das weißt du doch genau. Ich habe wohl schon vor Jahren beschlossen, dich zu heiraten.«

»Ein Geheimbeschluß. Einer von denen, die dem, der ihn beschließt, selbst geheimbleiben«, spottete ich wieder. »Du hast mich andauernd kritisiert.«

»Das war nur ein Symbol für meine Gefühle.«

»Und wie sieht ein Symbol deines Lobes aus?«

»Wart’ es nur ab.«

Wie glücklich ich war! Unsere alte Neckerei lebte weiter, und was er mir da anbot, war wirklich herrlich.

»Du weißt natürlich, daß ich keine Mitgift habe.«

»Ich nehme dich auch ohne.«

»Von Esmeralda würdest du eine schöne Mitgift kriegen.«

»Würde mich gar nicht locken. Ich will Ellen oder keine.«

Da legte ich ihm die Arme um den Nacken und küßte ihn herzlich. Und genau in dem Augenblick mußte natürlich Kusine Agatha auftauchen.

»Ellen!« schrie sie, zornig und ungläubig zugleich.

Ich löste mich von Philip und stand auf.

»Was tust denn du hier? Diese Schande! Mit dir rede ich noch später. Und unsere Gäste hast du völlig vernachlässigt.«

»Aber nicht alle«, sagte Philip ganz frech. Es hatte ihm immer schon Spaß gemacht, Kusine Agatha zu irritieren, und das gelang ihm auch, denn sie hätte natürlich gerne ihre Indigniertheit gezeigt, aber wie konnte sie das einem Carrington gegenüber?

»Ich gehe gleich mal nachsehen ...«, sagte ich. Ich wollte so schnell wie möglich weg, denn ganz glaubte ich es noch nicht, daß Philip es ernst meinte. Er versuchte, mich bei der Hand festzuhalten, aber ich hatte mich schon aus dem Staub gemacht. Was würde er Kusine Agatha jetzt wohl erzählen? Später sagte er mir, daß sie nur eine Bemerkung über das Wetter gemacht habe, was sie natürlich als überaus taktvoll ansah und als feinste diplomatische Wendung, das Thema zu wechseln.

Ich war total verwirrt. Im Vorüberlaufen sah ich mich selbst in einem der großen Spiegel. Hochrote Wangen und glänzende Augen, und das schwarze Kleid stand mir gar nicht einmal so schlecht.

Mr. Carrington bat mich um einen Tanz, ich gewährte ihn ihm. Er war höflich und charmant wie immer. Wir sprachen von dem Stück, das wir zusammen gesehen hatten, und ich setzte mich nachher mit ihm an ein Tischchen. Philip kam bald danach zu uns.

»Sie hat ja gesagt, Vater«, sagte er zu Mr. Carrington.

Der nickte lächelnd, nahm mich bei der Hand und drückte sie mir fest. »Ich bin sehr glücklich«, sagte er. »Du bist eine außerordentliche junge Frau.«

»Wir verkünden es dann beim Abendessen«, meinte Philip.

»Am besten machst du es, Vater. Mutter ist zu zerstreut. Sie vergißt am Ende, wer die Braut ist, und plötzlich habe ich eine ganz unpassende Partnerin.«

Ich tanzte mit Philip; es war ein Walzer, und unsere Schritte paßten sich fehlerlos aneinander an. Schließlich waren wir ja auch zusammen in die Tanzstunde gegangen.

»Deine Kusine Agatha sieht aus wie das reinste Gorgonenhaupt«, informierte er mich.

»Von mir aus«, antwortete ich kalt. »Dieses Gorgonenhaupt kann mich nicht mehr zu Stein verwandeln, nicht mal in eine Gouvernante.«

»Ich habe das Gefühl, daß dir das Leben recht gut gefällt.«

»Ich weiß jetzt genau, wie es Aschenputtel zumute war, als es zum Ball ging.«

»Ich muß ja einen schönen Prinzen abgeben.«

»Er hat sie aus der Asche geholt. Du hast mich von Kusine Agatha und der ehrenwerten Mrs. Oman Lemming weggeholt. Die sind noch viel schlimmer als Aschenputtels Asche.«

»Vergiß es ja nicht, Ellen, ich werde dich in den nächsten fünfzig Jahren oft daran erinnern.«

»Und danach?«

»Werde ich dich bereits so dankbar gemacht haben, daß man dich gar nicht mehr daran erinnern muß. Das reicht dann für die nächsten zwanzig Jahre.«

»Komisch, sich das vorzustellen. Wir beide und alt.«

»Ein Schicksal, das uns alle erwartet, auch meine glückliche Ellen.«

»Ach, Philip, ich bin so glücklich. Das Leben wird so herrlich, so ... amüsant sein, nicht wahr?« Ich kam ins Schwärmen.

»Stell dir nur vor, wir beide ohne das Kindermädchen als Anstandswauwau. Und ohne die dumme kleine Esmeralda mitschleifen zu müssen.«

»Sei nicht so häßlich zu Esmeralda. Im Grunde magst du sie recht gerne, und mir ist sie sehr ans Herz gewachsen. Und vergiß nicht, daß sie heute abend einen Bräutigam verliert.«

»Ihre Eltern können das doch unmöglich ernst genommen haben?«

»Warum nicht, sie wollten sie verheiraten, deine Eltern wollten offenbar dich verheiraten. Zwei von Finanzgenies regierte Familien! Was konnte es Besseres geben als so eine Fusion. Und jetzt hast du alles verdorben mit deiner Wahl – die armen Verwandten.«

»Du hast es verdorben. Wer hätte denn Esmeralda anschauen mögen, wenn du daneben bist?«

Nach dem Walzer brachte er mich zu meinem Platz zurück, und wir sprachen über die Zukunft. Die herrliche Gegenwahrt nahm mich jedoch so gefangen, daß ich gar nicht über das Kommende nachdenken konnte. Beim Abendessen verkündete Mr. Carrington dann die Verlobung. Sagte, wie froh er über den Entschluß seines Sohnes sei, einer jungen Dame den Heiratsantrag zu machen, und daß er von ihr akzeptiert worden sei. Alle sollten auf die Gesundheit und das zukünftige Glück von Miß Kellaway und seinem Sohn trinken.

Was für ein Geflüster und Gemurmel sich daraufhin im Eßzimmer verbreitete! Den großen Mitteltisch hatten Wilton und seine Leute wunderbar dekoriert. Er war überladen mit kaltem Lachs, Fleisch aller Art, Salaten und Desserts, und die schwarzgekleideten Serviermädchen mit den weißen Häubchen und Schürzen standen wie Wachen in Abständen um ihn herum, um die Gäste zu bedienen. Aller Augen waren auf mich gerichtet. Ich wußte, daß einige der ehrwürdigen Damen dachten, es sollte doch Esmeralda sein, und wenn schon nicht Esmeralda, dann wenigstens eine der eigenen Töchter, die doch viel passender gewesen wären als die arme Verwandte der Lorings.

Und da stand ich in meinem einfachen schwarzen Kleid, geschmückt mit Philips Orchidee, und war plötzlich attraktiv, weil ich die Erwählte war. Wußte, daß meine Augen glänzten, meine Wangen sanft errötet waren. Spürte, daß Philip, der mich bei der Hand hielt, stolz auf mich war. Ich war so glücklich wie selten. Ein Wunder war geschehen! Mrs. Oman Lemming hatte sich verflüchtigt wie ein Alptraum bei Tagesanbruch. Keine Erniedrigungen mehr. Einfach unmöglich, daß ich, die Verachtete, eine Carrington wurde. Und da stand Philip neben mir, zog mir, bildlich gesprochen, Aschenputtels Schuh über den Fuß und erklärte, daß er mich erwählt hatte.

Lady Emily schwebte heran und küßte mich aufs Ohr. Vermutlich wollte sie die Wange treffen, aber bei ihr ging immer etwas schief. Dann nahm mich Mr. Carrington bei der Hand, küßte sie und lächelte mich warm und herzlich an. Esmeralda kam und umarmte mich stürmisch. Liebe Esmeralda! Wenn sie auch Philip nicht hatte heiraten wollen, vielleicht hatte es sie doch ein wenig irritiert, daß sie übergangen worden war. Aber nein, sie sah, daß ich glücklich war, und war auch zufrieden.

Philip und ich setzten uns dann mit seinen Eltern zusammen. Kusine Agatha und Cousin William kamen nach einer Weile mit Esmeralda dazu. Eine Art Ritual. Die zwei Familien feierten gemeinsam das glückliche Ereignis. Kusine Agatha versuchte tapfer, ihren Zorn zu verbergen, und ich muß gestehen, daß es ihr fast perfekt gelang. Nur in ihrem Blick, wenn sie mich einmal ansah, lagen Gift und Galle.

Mr. Carrington meinte, wir sollten so bald wie möglich heiraten. Wenn zwei Menschen sich einmal darüber einig seien, gäbe es keinen Grund, dies weiter hinauszuzögern. Als ich Philip gute Nacht sagte, versprach er, am nächsten Morgen vorbeizukommen. Wir mußten so vieles gemeinsam planen, und er war wie sein Vater der Meinung, daß die Heirat baldigst stattfinden sollte.

Ich ging in mein Zimmer. Zog das »praktische« Ballkleid aus, das ich nun gut aufheben würde, selbst wenn ich noch die wunderbarsten Carrington-Ballkleider bekommen würde. Bei dem Gedanken an die Ehrfurcht, mit der dieser Name in unserem Haus ausgesprochen wurde, mußte ich lachen. Bald würde auch ich so heißen.

Als ich meine Haare ausbürstete, öffnete sich die Türe. Agatha trat ein. Sie atmete heftig und versuchte offenbar, ihre Gefühle einigermaßen im Zaum zu halten.

Auf ihre Art sah sie grandios aus. Der Riesenbusen wogte, ihre Juwelen glitzerten. Äußerst passend wäre es gewesen, hätte sie in der einen Hand Gift getragen und in der anderen ein Schwert und mich aufgefordert, zu wählen.

»Ellen«, begann sie, »du hast uns ja schön zum Narren gehalten!«

Ich saß im Unterrock da, das Haar fiel mir über die Schultern.

»Ich?« sagte ich unschuldig und konnte mich nicht halten, boshaft hinzuzufügen: »Ich dachte, es würde euch freuen. Jetzt seid ihr mich doch los.«

»Tu doch nicht so unschuldig. Ich gebe zu, du hast für dich das Beste gewählt. Sicher hast du es schon lange gewußt, und unsere arme Esmeralda meinte, daß ihre Heirat verkündet werde.«

»Ich glaube, sie ist gar nicht enttäuscht darüber.«

»Du Undankbare! Aber das warst du ja immer schon. Von dem Augenblick an, wo du dieses Haus betreten hast, gab es mit dir nur Mühe und Sorgen. Du bist bösartig veranlagt, und die Carringtons können mir nur leid tun.«

Warum wollte ich sie immer noch mehr erregen, als ich es bereits getan hatte? Auch diesmal hatte ich nicht widerstehen können, aus dem Gefühl absoluter Sicherheit heraus. Das muß ich Philip erzählen, dachte ich, und war bereits überglücklich, in der Zukunft alles mit ihm teilen zu können. Zum erstenmal wurde mir bewußt, wie alleine ich mich immer gefühlt hatte.

»Nach deinen Worten dachte ich immer, die Carringtons seien die wichtigste Familie in ganz London«, sagte ich. »Sie werden also dein Mitleid kaum benötigen.«

»Offenbar sind sie sich nicht klar darüber, was für eine ... eine ...«

»Natter sie an ihrem Busen nähren, wolltest du doch sagen.« Ich war ziemlich frech. Aber mein Erfolg hatte mich übermütig gemacht.

»Geh ja nicht zu weit mit mir. Du hast unser Vertrauen schmählich mißbraucht.«

»Ich weiß, daß eine solche Heirat für mich nicht vorgesehen war, und Gouvernante bei den Lemming-Kindern wollte ich nicht sein. Das Schicksal hat sich eingeschaltet und hat mich aus einer Arme-Verwandten-Rolle gehoben, die – das kann ich dir versichern, liebe Kusine – oft nicht leicht zu ertragen war.«

»Wenn ich daran denke, was wir alles für dich getan haben ... dich bei uns aufgenommen ...«

»Weil du es meiner Großmutter fest versprochen hast.«

»Weil du zur Familie gehörst.«

»Und dabei nicht einmal zur engsten«, fügte ich hinzu. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Wußte, daß sie besiegt war. Zu sehr war mir der Sieg dieses Abends zu Kopf gestiegen. Sie wandte sich um und sagte: »Das Ganze war ein abgefeimter Plan. Aber ich hätte es mir denken können, bei solch einer Mutter!«

Mit diesen Worten ging sie hinaus. Gott sei Dank, denn wäre sie geblieben, ich weiß nicht, was ich ihr sonst noch alles erzählt hätte.

Das Zimmer des roten Traums

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