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»Wir wollten doch nur mal den Markt sehen«, erklärte ich.

»Das kann mich leicht um meinen Posten bringen«, fauchte das Mädchen giftig. »Und ich weiß genau, wer das ausgeheckt hat, Miß Ellen. Versuchen Sie ja nicht, Miß Esmeralda die Schuld zuzuschieben. Die ist nur verführt worden.«

Esmeralda flüsterte: »Ich wollte aber so gerne hin.«

»Trotzdem, Sie wurden verführt!« sagte das Mädchen. »Ich kenne doch meine Ellen.«

»Schon gut, ja, es war meine Idee. Esmeralda trifft keine Schuld.«

»Ich möchte nicht wissen, was Madame Ihnen zu sagen hat. In Ihren Schuhen möchte ich nicht stecken!«

Ohne Essen wurden wir zu Bett geschickt, was uns allerdings nicht besonders störte, und ich lag dann noch lange wach, versuchte mir vorzustellen, wie es in einem Waisenhaus war.

Spätnachts, als die Gäste das Haus verließen, kam Rosie noch herein – mit blitzenden Augen, wie immer, wenn sie bei ihrem Kutscher gewesen war. Sie setzte sich auf den Bettrand und kicherte. »Sie sind mir aber eine! Miß Esmeralda hätten Sie nicht mitnehmen dürfen. War doch klar, daß die sich verlaufen würde oder sonst was.«

»Woher sollte ich wissen, daß sie so blöd sein würde!«

»Und einfach so loszumarschieren. Meine Güte, da wird es was abgeben.«

»Weiß ich.«

»Na ja, Kopf hoch, trotzdem. Auf dem Meer geht’s noch stürmischer zu, wie mein erster Verlobter immer zu sagen pflegte.«

»Wie ist das eigentlich in einem Waisenhaus?«

Rosies Gesicht wurde ganz weich. »Meine Nichte war im Waisenhaus. Eine richtige Dame heute. Ist als Gouvernante gegangen. Nicht bloß so ein Zimmermädchen. Ist richtig in der Gesellschaft. Es gibt viele Waisen in dieser Welt.« Sie beugte sich zu mir und gab mir einen Kuß. Ich wußte, daß sie mich trösten wollte. Ihr Kutscher hatte sie glücklich gemacht, und sie wollte, daß alle Welt so glücklich wurde. Vielleicht war es gar nicht so schlimm im Waisenhaus.

Am nächsten Tag ließ mich Kusine Agatha kommen. Sie sah aus, als habe sie eine schlaflose Nacht verbracht.

»Wie du dich aufgeführt hast«, begann sie. »Ich verzweifle wirklich an dir! Ich weiß, das überkommt dich immer, es liegt dir eben im Blut. Aber was sollen wir mit dir tun, habe ich auch meinen Mann gefragt. Die meisten Leute würden dich jetzt aus dem Haus weisen, schließlich müssen wir ja an unsere eigene Tochter denken. Aber Blut ist eben ein besonderer Saft, und du gehörst nun mal zur Familie. Du stellst unsere Geduld auf eine harte Probe. Meine und die meines Mannes. Ich warne dich: Wenn du in unserem Haus bleiben willst, wirst du dich ändern müssen.«

Ich sagte, ich hätte ja nicht wissen können, daß Esmeralda sich verlaufen würde, und wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte keiner gemerkt, daß wir auf dem Markt gewesen waren.

»Betrug auch noch!« rief sie. »Es ist wirklich unerhört. Ich bin froh, daß Esmeralda sich verlaufen hatte, obwohl es mir den Abend verdarb. Wenigstens weiß man jetzt, was für eine bösartige Kreatur wir unter unserem Dach beherbergen.«

Sie hatte dem Kindermädchen aufgetragen, mich in meinem Zimmer zu halten, bis ich den Monolog der Portia über das Erbarmen aus dem Kaufmann von Venedig auswendig konnte. Vielleicht würde das helfen, mich denen gegenüber dankbar zu zeigen, die mir Erbarmen zeigten. Nur Brot und Wasser sollte ich bekommen, bis ich die Rede tadellos aufsagen konnte, und ich sollte meine Verdammung dazu nutzen, mir vor Augen zu führen, was ich Entsetzliches angestellt hatte. »Was die Carringtons von dir dachten, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie Philip nicht mehr mit dir zusammenkommen ließen.«

Damit wurde ich entlassen. Den Monolog lernte ich innerhalb kürzester Zeit. Später merkte Kusine Agatha, daß ich Gedichte liebte und es mir nicht schwerfiel, sie auswendig zu lernen. Daraufhin gab man mir Näharbeiten, und das war eine ganz andere Sache für mich. Schön klingende Worte und Sätze zu lesen, immer wieder zu lesen, machte mir Vergnügen. Einen Stoff zu besticken, war mir eine Qual. Das hatten sie damals allerdings noch nicht entdeckt.

Die arme Esmeralda konnte ihren Monolog nicht so schnell wie ich, und als sie ihn der Gouvernante aufsagen sollte, machte ich mich dicht an sie heran und half ihr weiter.

Um die Weihnachtszeit fing man an, die Sache mit dem Markt zu vergessen. Philip tauchte in den Schulferien wieder auf und durfte im Park mit uns spielen. Ich erzählte ihm vom Markt und wie Esmeralda sich dort verlaufen hatte; er fand das so verächtlich, daß er sie in den Serpentinenteich stieß. Esmeralda kreischte auf, und Philip lachte sie aus. Er blieb am Ufer stehen, während ich hineinrannte und sie an den Rand zog. Da kam schon das Mädchen angelaufen und jagte uns beide nach Hause zurück, wo wir uns umziehen mußten, damit wir uns nicht den Tod holten. »Das wird man mir in die Schuhe schieben«, rief ich Philip zu.

»Geschieht dir recht«, schrie er zurück. Ihm wäre es sicher ganz egal, ob Esmeralda sich den Tod holte oder nicht.

Als Esmeralda sich danach erkältete, erzählte das Kindermädchen einigen Mädchen vom Personal, was passiert war, und ich wußte, daß sie alle der Meinung waren, ich hätte Esmeralda ins Wasser gestoßen.

Arme Esmeralda! Ich glaube, wir waren alle rücksichtslos ihr gegenüber. Philip und ich, wir verbündeten uns zwar nicht gerade gegen sie, aber ihr fehlte einfach unsere Abenteuerlust, und wir waren zu jung, um zu erkennen, daß sie anders geartet war als wir. Ich erinnere mich noch, wie sehr sie sich vor dem »Toten Mann« fürchtete. Allein der Name dieses Ortes konnte einen ängstlichen Menschen erschrecken, und das traf zumindest bei Esmeralda zu. Die Stelle lag nicht weit von Trentham Towers. Man mußte ziemlich weit hinaufklettern. Von oben ging es dann ganz steil nach einer Seite hinunter. Es war recht gefährlich, denn der schmale Pfad lief den Steilhang entlang und war bei Regenwetter sehr schlüpfrig. Auf dem Weg dorthin standen viele Warnschilder: BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR! Und genau das zog Menschen wie Philip und mich erst recht an.

Nicht nur gefährlich war es dort oben, sondern auch unheimlich, und man sagte, daß Gespenster umgingen, da sich viele Menschen von dort oben hinuntergestürzt hatten. In der Nachbarschaft sagte man zu melancholisch aussehenden Leuten: »Was ist denn los mit dir? Willst du vielleicht vom ›Toten Mann‹ hinunterspringen?«

Philip und ich liebten den Platz, und wir spotteten über Esmeralda, wenn sie zögerte, mitzukommen. Philip stand gerne am obersten Rand des Abgrunds, nur um zu zeigen, wie mutig er war, und ich mußte es ihm natürlich nachtun. Einmal wurden wir dort gesehen, und als Philips Hauslehrer davon erfuhr, verbot man uns, nochmals dort hinauf zu klettern. Dadurch wurde die Sache natürlich nur noch interessanter. Wir beide liebten das Verbotene.

Der »Tote Mann« wurde zu unserem Treffpunkt. »Also dann, beim ›TotenMann‹«, sagte Philip ganz nonchalant und hoffte insgeheim, daß ich Angst haben würde, alleine hinaufzugehen. Ich tat es aber jedesmal, obwohl es mir oben richtig unheimlich wurde, besonders wenn man alleine hinkam.

Die Zeit verrann immer rascher, und bald schon gab es einen neuen Vorfall, der Kusine Agatha wirklich Anlaß gegeben hätte, mich loszuwerden. Ich war vierzehn – in einem Alter also, da ich schon gescheiter hätte sein können. Es geschah während unseres Landaufenthaltes.

Philip wollte im Freien Tee trinken. Mit selbstgemachtem Feuer, Wasserkessel darüber und dazu ein Leben wie die Indianer oder Zigeuner (welche von beiden, wußte er noch nicht genau) – auf jeden Fall war das Großartige daran das Feuer. Wir brauchten einen Kessel, den sollte ich bringen.

»Habt ihr doch jede Menge davon in der Küche«, sagte Philip. »Ganz bestimmt. Bring Tee mit und Wasser und auch Kuchen. Dann machen wir ein Feuer.«

Esmeralda mußte den Kuchen aus der Küche besorgen, und ich kümmerte mich um den Kessel. Philip brachte Paraffin mit, damit ließ sich ein herrliches Feuer anfachen.

»Ich glaube, wir sind doch lieber Zigeuner«, sagte er. »Wir haben Esmeralda entführt. Sie ist aus ihrem Haus hinausgeschmuggelt worden, und wir binden sie fest und verlangen ein Lösegeld für sie.«

Sie jammerte: »Kann ich nicht auch eine Zigeunerin sein?«

»Nein, kannst du nicht«, sagte Philip barsch.

Arme Esmeralda. Immer mußte sie das Opfer sein.

Leider hatten wir bei diesem Abenteuer die Wirkung des Paraffins nicht einkalkuliert. Philip sammelte Reisig und goß jede Menge Öl darüber. Erst freuten wir uns an den hell auflodernden Flammen, dann erschraken wir. Wir konnten nicht mehr nahe daran kommen, Esmeralda lag aber mit zusammengebundenen Knöcheln und geknebelt in sehr unbequemer Lage nahe am Feuer.

Wir versuchten, der Flammen Herr zu werden, aber sie breiteten sich immer mehr aus. Ich hatte noch soviel Geistesgegenwart, Esmeralda loszubinden. Das ganze Feld schien inzwischen ein einziges Flammenmeer zu sein.

Es blieb uns nichts weiter übrig, als um Hilfe zu rufen. Alle Bedienten bemühten sich, das Feuer einzudämmen und zu verhindern, daß es auf die nahen Getreidefelder übergriff.

Wir bekamen einiges zu hören.

»Noch dazu bei den Carringtons«, sagte Kusine Agatha, als wäre deren Land geheiligt. Glücklicherweise war ein Carrington auch beteiligt, aber Kusine Agatha gab mir die meiste Schuld. Ich hörte sie zu Cousin William sagen: »Ellen ist einfach nicht zu bändigen. Ich zittere schon bei dem Gedanken, was sie Esmeralda das nächste Mal antun wird.«

Wieder bekam ich eine Vorlesung verpaßt.

»Du bist jetzt vierzehn Jahre alt. Viele mittellose Mädchen deines Alters verdienen sich da schon einige Jahre lang ihr Geld. Wir vergessen keineswegs, daß du mit uns verwandt bist, und haben deshalb versucht, gut zu dir zu sein. Aber die Zeit kommt immer näher, da du an deine Zukunft denken mußt. Weder mein Mann noch ich würden dich je auf die Straße setzen, und wir werden alles tun, um dir zu helfen, obwohl du es uns so oft mit Undank gelohnt hast. Aber diese letzte böse Eskapade scheint mir wieder einmal zu zeigen, daß all unsere Bemühungen umsonst waren. Du hast einfach keine Disziplin. Man muß dich bestrafen, und zwar am besten mit dem Stock. Ich habe meinem Mann gesagt, daß er dies übernehmen soll; er wird dich in deinem Zimmer aufsuchen und sich dieser schmerzlichen Pflicht entledigen. Außerdem wirst du ein neues Sticktuch beginnen, ich werde es jede Woche kontrollieren.«

Damit war sie aber noch nicht am Ende. Es kam viel schlimmer.

»Ich habe mit meinem Mann über deine Zukunft gesprochen, und wir sind beide der Meinung, daß du dein Geld einmal selbst verdienen mußt. Schließlich kannst du nicht erwarten, daß wir dich ewig unterhalten. Wir haben dich mit Esmeralda aufwachsen lassen – leider übst du keinen guten Einfluß auf sie aus, sie wäre oft ohne dich besser dran gewesen –, in wenigen Jahren wird man aber einen Ehegatten für sie finden, und sie braucht dich dann nicht mehr. Wir werden rechtzeitig den richtigen Posten für dich suchen, denn ein Mitglied unserer Familie kann wohl schlecht als Dienstbote arbeiten. Gouvernante oder Gesellschafterin käme allenfalls in Frage. Ganz so einfach, wie du dir das wohl denkst, wird es allerdings nicht sein, denn wir möchten dich nicht in einem Haushalt wissen, in dem wir manchmal zu Gast sind. Das wäre doch sehr peinlich. Wir müssen also den Posten mit größter Sorgfalt auswählen. Inzwischen solltest du dich auf diese Zeit vorbereiten. Viel lernen, noch mehr arbeiten, vor allem an deiner Näherei. Ich werde mit der Gouvernante darüber sprechen. Und wenn Esmeralda in die Gesellschaft eingeführt ist und heiratet, werden wir wohl schon wissen, wo wir dich unterbringen werden. Ich hoffe, du bereust wenigstens, was du getan hast. Nimm deine Strafe in Empfang, du verdienst sie wahrhaftig. Geh in dein Zimmer, mein Mann kommt dann zu dir.«

Armer Cousin William. Er tat mir leid. Ganz zaghaft trat er ein, den Rohrstock in der Hand, mit dem er mich züchtigen sollte. Seine Aufgabe war ihm sichtlich verhaßt. Ich mußte mich mit dem Gesicht nach unten auf mein Bett legen, und er strich leicht mit dem Stock über meine Schenkel. Am liebsten hätte ich hell aufgelacht.

Ganz rot war er im Gesicht und fühlte sich offenbar ganz elend. Plötzlich sagte er: »So, das hat dich hoffentlich eines Besseren belehrt« und verschwand.

Es war tröstlich für mich, über Cousin William lachen zu können, denn beim Gedanken an die Zukunft war mir nicht zum Lachen zumute.

In jener Nacht träumte ich wieder von dem Zimmer mit dem roten Teppich und wachte mit einem Gefühl übler Vorahnung auf.

Das Zimmer des roten Traums

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