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Die Jahre vergingen immer schneller. Mein achtzehnter Geburtstag lag hinter mir. Die Zeit war nahe, da ich in die Welt hinaus und mein eigenes Geld verdienen mußte. Esmeralda tröstete mich: »Wenn ich erst einmal verheiratet bin, hast du bei mir immer ein Zuhause.«

Ich beneidete sie nicht. Sie war so gut. Etwas hübscher war sie geworden, aber wenn wir zusammen ausgingen, merkte ich jedesmal, daß die Leute mir nachschauten. Mein schwarzes Haar und die dunkelblauen Augen fielen auf. Und meine neugierige Nase – wie Philip sie nannte – wirkte stets so, als stelle ich eine Frage. Aber Esmeraldas Zukunft war wenigstens gesichert. Wir sahen es ja rings um uns geschehen. Mädchen wurden in die Gesellschaft eingeführt. Man arrangierte ihre Heirat, und über kurz oder lang waren sie junge Frauen mit Kindern. Alles wurde sehr sorgsam geplant.

Bei denen, die für sich selbst zu sorgen hatten, wie ich, sah es etwas anders aus.

Noch ein paarmal hatte ich durch Kleinigkeiten Kusine Agatha erzürnt, aber es waren keine so großen Sachen wie der Marktbesuch oder die Feuersbrunst. Auf dem Land mußten wir beiden Mädchen jetzt mehr an der wohltätigen Arbeit teilnehmen. Wir besuchten die Armen und brachten ihnen Delikatessen, wie Agatha das zu nennen pflegte – meistens Dinge, die sie für ihre eigene Tafel nie genommen hätte. Ehe wir nach London zurückkehrten, halfen wir die Kirche für das Erntedankfest zu schmücken. Gingen dann wieder zum Gymkhana und zu den Kirchenbasaren, bei denen wir selbst einen Stand hatten. Spielten die Rolle der Helfer der wohltätigen Dame, ritten in der Stadt im Park und reichten bei Agathas Festen die Erfrischungen herum. Wir arbeiteten für die Armen und für die Tory-Partei. Spazierten würdig durch den Park und lebten das Leben wohlerzogener junger Damen. Ganz langsam änderte sich jedoch etwas daran. Bald schon sollte Esmeralda in die Gesellschaft eingeführt werden, und man trennte uns immer häufiger. Esmeralda durfte mit ihren Eltern ins Theater, ich nicht. Oft ging sie mit ihrer Mutter auf Besuch aus, ich wurde alleine daheim gelassen. Die Schneiderin, die vor der Ballsaison immer mehrere Wochen im Haus verbracht hatte, kam und nähte für Esmeralda herrliche neue Kleider. Für mich gab es keine – ich besaß nur je eines für Frühling, Sommer, Herbst und Winter und erhielt jedes Jahr für jede Saison ein neues.

Irgendwie fühlte ich, daß mein Verhängnis näherrückte. Es war wie in einem Traum.

Esmeralda war nicht sehr wohl bei der Veränderung. Sie ging ungern irgendwohin ohne mich, aber ich begleitete sie kaum noch, außer zu Spaziergängen in den Park und zu Wohltätigkeitsbesuchen.

Die Carringtons rangierten weit vorne in unserem Leben. Sie waren jetzt die ersten Freunde von Kusine Agatha. Lady Emilys Name wurde tagtäglich mindestens zwanzigmal erwähnt.

An geselligen Abenden nahm auch Philip oft teil. Gemeinsam mit Esmeralda und deren Eltern ging er einmal ins Theater. Sie sahen Lady Windermeres Fächer, das in jenem Jahr uraufgeführt worden war. Ich hatte gehört, daß diese Komödie geradezu vor Witz sprühte, und nahm an, daß Esmeralda nur die Hälfte mitbekommen würde.

Als die Kutsche abfuhr, sah ich aus dem Fenster, und dann wartete ich auf die Rückkehr. Als Esmeralda die Treppe heraufkam, fing ich sie ab, und sie mußte mir alles über das Stück erzählen. So ungefähr berichtete sie mir den Inhalt und sagte, Philip habe die ganze Zeit gelacht. Sie seien noch zum Essen ausgewesen, und es habe ihr riesig Spaß gemacht. Hübsch sah sie aus in dem blaßblauen Kleid mit dem blauen Samtmantel darüber. Nach einem solchen Samtmantel sehnte ich mich, aber mehr noch danach, ins Theater und mit Philip essen zu gehen.

Am nächsten Tag spazierten wir mit unserem alten Kindermädchen, das noch immer bei uns weilte, durch den Park. Wahrscheinlich nahm Esmeralda sie, wenn sie heiratete, als Betreuerin ihrer eigenen Kinder mit. Agatha meinte, die Kindermädchen sollten immer in der Familie bleiben. Dann könne man sich voll auf sie verlassen. Außerdem taten das alle wohlsituierten Leute.

Seit wir fast erwachsen waren, ging das Kindermädchen immer ein paar Schritte hinter uns her wie ein Wachhund, und wenn junge Männer sich uns näherten, beschleunigte sie ihre Schritte und war rasch neben uns. Das machte mir jedesmal von neuem Spaß.

An jenem Tag trafen wir Philip im Park. Er gesellte sich zu uns. Das war natürlich ganz legitim, und das Mädchen hatte nichts dagegen. Schließlich war er ja ein Carrington.

Philip beklagte sich: »Warum bist du nicht mit ins Theater gekommen, Ellen?«

»Es hat mich niemand dazu eingeladen«, antwortete ich.

»Willst du etwa damit sagen...« Er blieb stehen und schaute mich an. »Nein«, rief er, »das gibt’s doch gar nicht!«

»O doch. Weißt du denn nicht, daß ich nur die arme Verwandte bin?«

»Ach, hör doch auf, Ellen«, jammerte Esmeralda, »ich kann das gar nicht mehr hören.«

»Ob du es hören kannst oder nicht«, sagte ich, »es stimmt aber doch.«

»Wenn meine Eltern Esmeralda ins Theater einladen, werde ich darauf bestehen, daß du auch mitkommst!« versicherte mir Philip.

»Sehr lieb von dir, Philip, aber ich möchte nirgends dabeisein, wo ich unerwünscht bin«, versuchte ich zu erklären.

»Dummchen!« sagte er und schubste mich wie in alter Kinderzeit.

Ich war sehr froh, zu wissen, daß wenigstens Philip mich nicht als arme Verwandte betrachtete.

Der Ball, auf dem Esmeralda offiziell in die Gesellschaft eingeführt wurde, sollte recht großartig werden. Durch Zurückschieben von Falttüren im ersten Stockwerk konnten drei Räume in einen großen Saal verwandelt werden, der mit Pflanzen dekoriert wurde. Esmeralda bekam ein ganz besonders schönes Ballkleid in blauer Seide mit Spitzenverzierung. Die Schneiderin sagte, daß sie eine Woche damit zu tun haben würde. »Du meine Güte, all diese Fältchen und Rüschen!« jammerte sie. Ich durfte auch auf den Ball, und man versprach mir ebenfalls ein neues Kleid. Ich träumte von dunkelblauem Chiffon, der die Farbe meiner Augen noch betonen würde. Sah mich durch den Ballsaal schweben und hörte die Leute murmeln, daß ich die Schönste sei; Esmeralda machte das bestimmt nichts aus. Sie war so gutmütig und wollte außerdem nie im Mittelpunkt stehen. Sie haßte es, Aufmerksamkeit zu erregen.

Kusine Agatha ließ mich zu sich kommen. Ich hätte mir schon denken können, worum es ging. Schließlich war ich schon achtzehn Jahre alt, und die Drohungen, die meine Kindheit verdüstert hatten, waren durchaus ernst zu nehmen.

»Ach, Ellen, da bist du ja. Setz dich doch.«

Ich setzte mich mit unbehaglichem Gefühl.

»Es ist dir ja sicher klar, daß du jetzt soweit bist, in die Welt hinauszugehen. Ich habe natürlich alle Anstrengungen gemacht, dich gut unterzubringen, und hatte auch Erfolg. Ich habe endlich einen guten Posten für dich.«

Mein Herz fing vor Aufregung zu klopfen an.

»Mrs. Oman Lemming – eine höchst ehrenwerte Dame – verliert im nächsten halben Jahr ihre Gouvernante. Ich habe mit ihr über dich gesprochen, und sie möchte sich dich gerne ansehen.«

»Mrs. Oman Lemming?«

»Jawohl. Sie ist eine Tochter von Lord Pillingsworth. Ich kenne sie schon sehr lange. Du weißt ja, daß ich es an sich nicht richtig finde, wenn du in einem Haus bist, das wir gelegentlich aufsuchen, aber hier sind die Umstände doch etwas anders. Du wirst natürlich sehr taktvoll sein müssen und uns aus dem Weg gehen, wenn wir dort eingeladen sind. Mrs. Oman Lemming versteht das Besondere dieser Situation. Sie ist eine sehr gute Freundin. Ich habe sie heute zum Tee eingeladen. Wenn sie hier ist, kann sie dich ein wenig ansehen, und ich hoffe, du wirst dir deiner Pflicht bewußt sein. Wenn du ihr nämlich nicht gefällst, wäre es für uns sehr schwierig, etwas Passendes für dich zu finden. Solche Posten wachsen nicht auf den Bäumen.«

Ich war am Boden zerstört – obwohl ich doch gewußt hatte, was mir bevorstand. Insgeheim hatte ich gehofft, es würde nie soweit kommen. Mein absurder Optimismus ließ es nicht zu, daß ich mir dergleichen vorstellte. Und jetzt war es soweit. Mein böses Schicksal stand drohend vor mir. Nur noch sechs Monate.

Kusine Agatha erwartete offenbar Dankbarkeitsausbrüche von mir. Als nichts kam, seufzte sie nur und zuckte mit den Schultern.

»Ich möchte natürlich nicht, daß du armselig aus unserem Haus gehst. Deswegen müssen wir jetzt auch dein Ballkleid besprechen. Ich habe das Material schon ausgewählt. In Schwarz – das ist sehr praktisch. Ich werde die Schneiderin bitten, es in einem Stil zu verarbeiten, der nicht so schnell altmodisch wird. Sicher wirst du immer wieder ein solches Kleid brauchen. Ich werde dich nicht ohne eines weglassen.«

Ich wußte schon, was für ein Kleid das war. Gerade das Richtige für eine Frau mittleren Alters. Und jedenfalls eines, das mir noch lange Jahre dienen sollte. Ich fühlte mich sehr unbehaglich.

Als ich dann die ehrenwerte Dame Oman Lemming kennenlernte, bewahrheiteten sich meine schlimmsten Befürchtungen.

Sie war so stattlich wie Agatha, trug einen Hut mit ellenlangen Federn und lange, enge graue Glacehandschuhe. Eine schwere Goldkette floß ihren riesigen Busen hinunter. An der Bluse glitzerte eine riesige goldene Brosche. Ich sah, wie ähnlich sie Agatha war, und mein Mut verließ mich.

»Das ist Ellen Kellaway«, stellte Kusine Agatha mich vor.

Die ehrenwerte Dame hob ihre Lorgnette und studierte mich. Allzu froh schien sie nicht über das zu sein, was sie da erblickte.

»Sehr jung«, kommentierte sie. »Aber das ist vielleicht gar kein Nachteil.«

»Junge Menschen kann man besser nach den eigenen Vorstellungen formen, Letty«, sagte Kusine Agatha. Wie wenig doch dieser Name zu dieser so militant wirkenden Frau paßte.

»Ja, das stimmt, Agatha. Kann sie gut mit Kindern umgehen?«

»Da hat sie leider noch wenig Erfahrung, aber sie wurde mit Esmeralda zusammen erzogen.«

Die ehrenwerte Dame beugte ihr Haupt wie ein allwissendes Orakel. Ich bemerkte, daß ihre Augen sehr nahe beieinanderstanden, und während sie mich betrachtete, sah ihr Mund sehr hart aus. Sie mißfiel mir vom ersten Augenblick an. Und der Gedanke, in untergeordneter Position Mitglied ihres Haushalts zu sein, freute mich wenig.

Dann wandte sie sich mir zu. »Wir haben vier Kinder. Hester ist die Älteste. Vierzehn. Claribel ist elf. John ist acht und Henry vier. John ist im Internat, und Henry kommt auch dorthin. Die Mädchen bleiben zu Hause, und es wäre dann Ihre Pflicht – sofern ich Sie anstelle –, sie zu unterrichten.«

»An schulischen Kenntnissen mangelt es ihr bestimmt nicht. Unsere Gouvernante sagt, daß sie überdurchschnittlich begabt ist.«

Lob aus Kusine Agathas Mund! Zum erstenmal in meinem Leben. Was aber nur zeigte, wie sehr ihr daran lag, mich loszuwerden.

Es wurde dann besprochen, daß ich einen Monat vor dem Weggang der jetzigen Gouvernante in den Haushalt der Lemmings eintreten und von der scheidenden Angestellten eingeführt werden sollte.

Der Gedanke daran deprimierte mich unglaublich.

Das Zimmer des roten Traums

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