Читать книгу Christine Bernard. Das Mädchen aus einer anderen Welt - Vieten Michael E. - Страница 6
ОглавлениеZeit
Sie würde sich verspäten. Daran war nichts mehr zu ändern. Auch wenn sie nun das Treppenhaus in der Kriminaldirektion hinauf stürmte und dabei wie immer zwei Stufen auf einmal nahm. Zeit konnte man nicht aufholen oder gar mit ihr verhandeln. Sie verstrich, zog weiter und ließ einen zurück. Man musste selbst zusehen, dass man ihr folgte. Und das war gar nicht so einfach. Denn es machte einen Unterschied, ob man eine Nacht mit seinem Liebsten verbrachte oder in der Nacht zuvor einen Verdächtigen observiert hatte. Die Zeit verging wie im Fluge oder sie dehnte sich zur Unerträglichkeit aus.
Auf jeden Fall hatte Christine in den letzten 48 Stunden zu wenig geschlafen. Nur damit würde sie sich rechtfertigen können. Aber das war nicht ihre Art. Sie hatte mit Torben eine leidenschaftliche Nacht verbracht und prompt verpennt. So war es. Und ja, sie hätte sich stattdessen ausruhen sollen. Aber er musste sich am frühen Morgen auf eine zweiwöchige Orchesterreise nach Paris begeben und sie wollte ihm etwas Unvergessliches für diese Zeit mitgeben. Das war ihr gelungen und sie lächelte bei dem Gedanken daran. Dann zog sie die Glastür zu der Etage auf, auf der ihr Büro lag. Schwer atmend holte sie zum nächsten Schritt aus und wäre beinahe mit Kriminalkommissar Rolf Bender zusammengeprallt.
Erschrocken trat er zurück.
„Meine Güte“, stammelte er und balancierte einen Stapel Ermittlungsakten auf seinem Arm aus. „Was ist denn mit dir los?“
„Bin zu spät“, schnaufte Kommissarin Bernard und wich ihm aus.
„Stopp!“, rief er, durchsuchte den Stapel Akten, zog eine heraus und hielt sie ihr entgegen. „Die ist für euch.“
Sie schnappte danach und lief weiter.
Nachdem sie die Tür zu ihrem Büro aufgerissen hatte, lief sie auf eine junge Frau auf. Sie stand im Raum, als ob sie auf irgendetwas wartete. Kollege Kluge telefonierte.
Angenehm kühl wehte ihr die Morgenluft durch das geöffnete Fenster entgegen. Der Verkehrslärm der Stadt stieg zu ihr empor, während sie die Akte auf ihren Schreibtisch fallen ließ.
Schuldbewusst warf sie Torsten einen schnellen Blick zu. Doch der Hauptkommissar telefonierte konzentriert weiter.
Sie war ordentlich ins Schwitzen geraten. Für solch sportliche Einlagen war ein früher Vormittag Ende Juli eindeutig zu warm.
„Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“, sprach sie die junge Frau an.
Die streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen.
„Ich bin Rita. Praktikantin.“
Die Hand fasste kräftig zu und war warm, ein wenig verschwitzt. So wie ihre eigene. Christine lockerte ihren Griff und stellte sich vor. Ein Leuchten huschte über Ritas Gesicht. Vielleicht war es aber auch nur eine Reflexion von einer der Windschutzscheiben der an- und abfahrenden Linienbusse unten auf dem Bahnhofsvorplatz.
Torsten Kluge hatte sein Gespräch beendet und ließ den Hörer zurück auf das Telefon fallen.
„Guten Morgen. Ihr habt euch ja schon miteinander bekannt gemacht. Das ist Frau Lange, sie wird die nächsten zwei Wochen mit dir mitlaufen.“
Christine nickte und griff nach der Akte. Sie wollte sie ihrem Kollegen auf den Tisch legen, doch der wehrte ab.
„Ist das die Akte Ahlers?“
Kommissarin Bernard las stumm vom Deckel ab.
„Ja.“
„Kannst du gleich behalten. Ist dein Fall. Lina Ahlers. Wurde vom Kriminaldauerdienst heute Nacht in Untersuchungshaft eingewiesen. Sie behauptet, einen Alien ermordet zu haben.“
Bei dem Wort „Alien“ ließ Torsten Kluge seinen Zeigefinger an der Schläfe kreisen.
„Wenn die Tatverdächtige verwirrt ist, sollten wir Karin hinzuziehen.“
„Sprich erst mal mit Lina Ahlers. Vielleicht hat sie sich inzwischen beruhigt.“
Der Hauptkommissar richtete seinen Blick auf die Praktikantin.
„Wird sicher interessant für Sie. Vernehmung einer Verdächtigen zum Tatvorwurf Mord. Vielleicht war es aber auch nur Körperverletzung mit Todesfolge. Oder spinnt die Dame und es handelt sich am Ende nur um die Vortäuschung einer Straftat? Legt los und bekommt es heraus.“
Offensichtlich bester Laune wartete Torsten Kluge grinsend darauf, dass seine Anweisungen ausgeführt wurden, bevor er sich wieder der eigenen Arbeit widmete.
Rita zog die Bürotür auf und ließ Christine an sich vorbeilaufen. Dann folgte sie ihr wie selbstverständlich an den Aufzugtüren vorbei in das Treppenhaus und lief mit ihr die Stufen hinab.
„Ist der immer so gut gelaunt?“
Kommissarin Bernard griente.
„Nicht immer, aber meistens.“
„Cooler Chef.“
„Torsten hat sein Kommissariat im Griff und das verleiht ihm seine Souveränität.“
„Wer ist Karin?“
„Karin Vollmer ist unsere Polizeipsychologin. Bei der Befragung von Festgenommenen, die nicht ganz beieinander sind, sollte sie dabei sein, um die Vernehmungsfähigkeit festzustellen.“
Sie verließen das Backsteingebäude der Kriminaldirektion Trier und überquerten den Parkplatz.
Der weiße Renault Mégane glänzte in der Sonne. Sie stiegen ein und ließen die Seitenfenster herunterfahren. Lässig legte Rita ihren Ellenbogen auf den Türrahmen und klappte die Sonnenblende herunter. Christine startete den Motor und parkte aus.
Der Wind spielte mit ihren langen Haaren, während sie den Wagen an eine rote Ampel heranrollen ließ und ihn anhielt. Sie griff nach ihrer Sonnenbrille und setzte sie auf.
„Du möchtest also zur Kripo?“
„Ich weiß es noch nicht. Bundespolizei gefällt mir auch.“
Rita sah sie an, blinzelte gegen die Sonne und lächelte. Ihr Haar war kurz geschnitten und fast so dunkel wie das von Christine. Zartrosa Lippen, ein breiter Mund und lebhafte braune Augen.
Die Kommissarin erinnerte sich an ihre ersten Jahre bei der Polizei. Auch sie saß damals oft in dem Dienstwagen eines erfahrenen Kollegen und bemühte sich, selbstbewusst zu wirken und ihre Unsicherheit zu verbergen. Nun war sie bereits Kriminalkommissarin und diese junge Frau neben ihr auf dem Beifahrersitz blickte zu ihr auf. Was die Zeit so alles mit einem anstellte …
Rita hingegen wirkte schon jetzt selbstsicher und beinahe kess. Sicher war sie in ihrer Jugend lieber auf Bäume geklettert, anstatt mit Puppen zu spielen.
Die Ampel sprang auf Grün. Christine legte den Gang ein und fuhr los.
Rita schaute wieder nach vorne.
„Ich freue mich auf die Woche mit dir. Deine Kollegen sprechen sehr nett über dich.“
Nun lächelte Kommissarin Bernard.
„Aha. Wer denn so?“, fragte sie neugierig und grinste.
„Jörg Rottmann zum Beispiel. Ich hatte den Eindruck, er war enttäuscht, dass ich nicht seinem Team zugeteilt wurde.“
„Ach, der Jörg. Vielleicht hast du ihn beeindruckt. Möchtest du lieber wechseln?“
Rita lachte.
„Nein. Ich hab’s nicht so mit Männern.“
Kommissarin Bernard steuerte den Wagen auf die Autobahn und gab kräftig Gas.
Im Frauentrakt des Untersuchungsgefängnisses musste Christine ihre Dienstwaffe abgeben. Dann trug sie sich und Rita ins Pfortenbuch ein. Neben den Justizvollzugsanstalten in Koblenz und Rohrbach war die JVA Zweibrücken eine von drei Haftanstalten in Rheinland-Pfalz, die weibliche Häftlinge aufnahmen.
Summend und schnarrend sprang die Tür zu einer gläsernen Schleuse auf. Sie gingen hindurch und betraten den langen Flur des Gefängnistraktes, auf dem der Vernehmungsraum lag, in den in wenigen Minuten Lina Ahlers gebracht werden sollte.
Rita entdeckte einen Kaffeeautomaten und suchte in ihren Hosentaschen nach Kleingeld.
„Schwarz oder mit Milch und Zucker?“
„Schwarz.“
Sie drückte eine Taste. Der Automat arbeitete.
Sie reichte Christine den ersten Becher.
„Danke.“
Rita trank ihren Kaffee mit Zucker.
Gedämpft drangen die Geräusche aus den angrenzenden Zellenblöcken zu ihnen vor.